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Der Unzeitgenosse

Charles Péguy - Rebell gegen die Herrschaft des Neuen

AutorJoseph Hanimann
VerlagCarl Hanser Verlag München
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783446256101
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
Er kam aus der Provinz nach Paris und blieb dort immer ein Außenseiter. Als Dichter und Denker jedoch scharte Charles Péguy (1873-1914) eine verschworene Gemeinde um sich. In jüngerer Zeit zählten dazu ganz unterschiedliche Persönlichkeiten aus Philosophie und Literatur: Gilles Deleuze, Alain Finkielkraut, Bruno Latour und Thomas Bernhard imponierte die Unabhängigkeit dieses Intellektuellen aus Frankreich. Seine Dramen und seine Prosa betreiben eine radikale Kritik der Moderne, als Herausgeber einer eigenen Zeitschrift musste er keine Kompromisse eingehen. Von Péguy kann man lernen, ohne Rücksicht auf irgendeinen Zeitgeist zu denken. Es wird Zeit, ihn auch hierzulande zu entdecken.

Joseph Hanimann, geboren in Chur, ist Kulturjournalist und Essayist in Paris. Er war Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und ist dies heute für die Süddeutsche Zeitung. 2011 erhielt er den Berliner Preis für Kulturkritik. Bei Hanser erschien: Vom Schweren. Ein geheimes Thema der Moderne (1999, Edition Akzente). 2013 publizierte er die Biografie: Antoine de Saint-Exupéry. Der melancholische Weltenbummler. Im März 2017 erscheint bei Hanser Der Unzeitgenosse. Charles Péguy - Rebell gegen die Herrschaft des Neuen.

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»Schreiben Sie, wie sie beten!« Die Anweisung des Zeitungsdirektors an den Reporter im Prolog zu Die letzten Tage der Menschheit von Karl Kraus vor der aufgebahrten Leiche des Erzherzogs Franz-Ferdinand im Wiener Südbahnhof war Programm für eine neue Epoche. Sommer 1914. »Schreiben Sie, wir brauchen die Stimmung!« Niederknien, mitschreiben, kämpfen – drei Dinge, deren Echo noch heute nachhallt.

Ewigkeitsanspruch heiliger Bücher, politische Tagesaktualität aus der Zeitung, dramatische Unmittelbarkeit detonierender Gewehre oder Granaten: Die Triade schien sich zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts aus ihrer bedrohlichen Verbindung zu lösen. Religion, aktuelle Berichterstattung und diplomatische oder militärische Kampfstrategie sollten auf getrennten Wegen weniger Unheil anrichten. Ein Jahrhundert später zeigt sich jedoch: Sie sind zueinander in Reichweite geblieben. Die politische Berufung auf angeblich göttliche Botschaften, Propaganda im Tarnkleid der Information und der Einsatz von Kriegswaffen gehen im Namen höherer Ziele nach wie vor miteinander Verbindungen ein. Kategorien wie Fanatismus, Nihilismus, Zynismus, inszenierte oder blindwütige Barbarei, Zivilisierung, Realpolitik wirbeln dann in der Debatte durcheinander. Man kann sich diesem Phänomen von dem Punkt aus nähern, wo die Stränge eng verknotet waren, auf den Spuren eines Mannes, der sich zeitlebens leidenschaftlich mit den Verstrickungen zwischen Gesellschaftskritik, Sozialutopie, intellektuellem Engagement und zugleich Intellektuellenverachtung, zwischen Ideologiescheu, Patriotismus, religiösen Gefühlen und militärischer Waffenbereitschaft abmühte.

Am 5. September des Kriegsjahrs 1914 stürmte er mit seinen Soldaten über ein Getreidefeld der Gemeinde Villeroy, östlich von Paris. »Schießt! Schießt doch, um Himmels willen!«, soll er seinen Leuten noch zugerufen haben, bevor eine Kugel ihn traf. Seine Leiche wurde am Tag danach neben anderen Gefallenen geborgen. Charles Péguy war einundvierzig Jahre alt, als er am Tag vor Beginn der Marne-Schlacht fiel. Ein Jahr später schrieb Karl Kraus, einundvierzigjährig, seinen Prolog zu Die letzten Tage der Menschheit. Es sind zwei Literatenschicksale unter vielen anderen. In ihren Ähnlichkeiten und ihren Kontrasten geben sie aber interessante Aufschlüsse. Der eine zog begeistert zur Front, der andere blieb ihr entgeistert fern. Der eine pflegte zu beten, der andere zu spotten.

Péguy kam 1873 in bescheidenen Verhältnissen des Faubourg de Bourgogne in Orléans zur Welt und wuchs als Einzelkind bei der Mutter, einer Stuhlflickerin, und der Großmutter auf. Nach einer soliden Schulbildung in den großen Etablissements der Republik war er zunächst engagierter Sozialist, dann Erzkatholik und blieb lebenslang seiner bäuerlichen Herkunft verbunden. Ihr wollte er angehören, nicht dem Bürgertum. Das hieß für ihn: gekrümmter Rücken, schweres Schuhwerk und lieber als einen Polstersessel »einen Holzschemel unterm Hintern«.1

Karl Kraus, 1874 als neuntes Kind einer wohlhabenden jüdischen Unternehmerfamilie geboren, wuchs ab dem dritten Lebensjahr im Wien des erweiterten Kaiserreichs auf, verkehrte zunächst gern in aristokratisch-konservativen Kreisen, trat zum Katholizismus über und von dort wieder aus, bekannte sich schließlich zur österreichischen Republik. Beide waren Schriftsteller und Herausgeber einer Zeitschrift, die jede auf ihre Weise für das Europa des neuen Jahrhunderts bedeutsam wurde. Die Erstlingsnummer von Die Fackel kam 1899 in Wien heraus, Les Cahiers de la Quinzaine erschienen ab Januar 1900 in Paris.

Kraus wie Péguy waren Alleinherausgeber ihrer Zeitschrift, der erstere bald auch ihr praktisch einziger Autor. Für die im Zweiwochenrhythmus erscheinenden Cahiers de la Quinzaine, einer Mischung aus Periodikum und Buch, die pro Nummer oft nur einen großen Essay enthielten, schrieben neben Péguy selbst die Schriftsteller Romain Rolland, Anatole France, die Politiker Jean Jaurès, Georges Clemenceau, der politische Autor Georges Sorel sowie die Essayisten Bernard Lazare, André Suarès, Daniel Halévy, Julien Benda.

Im Alter von gut zwanzig Jahren war Péguy während der Dreyfus-Affäre als junger Sozialist und leidenschaftlicher Dreyfusard ins Engagement für republikanische Überzeugung, soziale Gerechtigkeit, allgemeinen Fortschritt, Transparenz des Staatsapparats und Aufrichtigkeit der politischen Akteure hineingewachsen. Zehn Jahre später wurde er zum virulenten Kritiker seiner einstigen Kampfgenossen, die mittlerweile an den Schalthebeln des Staats saßen und ihren Sieg in der Dritten Republik über die nostalgischen Reaktionäre des Ancien Régime machtpolitisch zu nutzen gelernt hatten. Charles Péguy polemisierte nunmehr als katholischer Kreuzritter des Geistes gegen das moderne Dogma vom technischen Fortschritt und materiellen Wohlstand, diese »Verheißung auf Sterilität«.2 Er kämpfte als Intellektueller gegen den Aufstieg der intellektuellen Macht von links wie von rechts, gegen deren Anspruch auf moralische Vorbildlichkeit und gegen den Hang zur Quantifizierung der Vernunft durch Statistik. Eine Macht, die seiner Ansicht nach im Kurzschluss aus Denken und Rechnen in den neuen Wissenschaftszweigen Soziologie, Ökonomie, Psychologie an der Universität die Wirklichkeit auf Begriffsschemen und Zahlenkolonnen reduzierte: Völkergeschichte auf Sozialtheorie, Literatur und Philosophie auf Philologie, Kunstwerke auf Formanalyse, Sinnzusammenhänge auf Milieustudien, politische Willenskraft auf faktische Wirtschaftskraft. Für Péguy war das eine Kapitulation des Geistes.

Auch Karl Kraus führte in einem Beitrag der Fackel 1908 den bevorstehenden Weltuntergang auf eine Vernichtung des Geistes zurück. Darin liege der »wahre« Weltuntergang, schrieb er.3 Der »andere«, allgemein sichtbare Weltuntergang, den alle für den wirklichen hielten, sei nur ein Nachspiel des ersteren, und sein Eintreten hänge davon ab, ob überhaupt »nach Vernichtung des Geistes noch eine Welt bestehen« könne. Bewegte Péguy sich mit seiner Kulturkritik aber allmählich vom Sozialismus weg hin zu den konservativ-statischen Werten von Militär, Kirche und gesellschaftlichem Standesbewusstsein, so entwickelte Kraus sich von anfänglich konservativen Positionen in umgekehrter Richtung und kam nach 1918 beim ungefähren Bekenntnis zur Sozialdemokratie an.

Beide Autoren haben überdies ein sperriges literarisches Werk hinterlassen. Kraus konzipierte sein Drama Die letzten Tage der Menschheit eher für ein »Marstheater« als für eine konventionelle Bühne. Péguy schrieb mehrere für die Bühne ebenso ungeeignete Stücke über Jeanne d’Arc und ein Monumentalgedicht mit Tausenden von Versen unter dem Titel Ève. Die beiden Schriftsteller sind einander im Leben nie begegnet. Die interessante Wechselbeziehung zwischen ihnen geistert mitunter durch die germanistische Literatur, von Claude David4 bis Gerald Stieg5, ist aber nie wirklich untersucht worden. Das soll auch in diesem Buch nicht geschehen. Es geht hier vielmehr darum zu zeigen, wie diese beiden nebst einigen anderen Zeitgenossen für das stehen, was Péguy6 einmal »les mécontemporains«, die »Unzeitgenossen«, genannt hat – eine Kategorie Leute, die sich als besonders zeitbeständig erwiesen und die inkognito weiterhin unter uns leben.

Der 100. Jahrestag von Péguys Tod im September 2014 offenbarte in zahlreichen Publikationen, wie anregend dieser wenig gelesene, im deutschen Sprachraum fast schon vergessene Autor dennoch bleibt. In den Büchern des Philosophen Gilles Deleuze steht er ungenannt manchmal im Hintergrund. Bruno Latour sieht in ihm die Figur, die am hellsichtigsten das Gift erkannte, das die heraufziehende Moderne von Anfang an in sich trug: ihr Unvermögen zu halten, was sie verspricht. Denn was ihr nicht ins Konzept passt, habe die Moderne stets einfach als rückständig, überholt, ja suspekt beiseitegeschoben – und diese Neigung habe sich im global gewordenen, alles archaisch, lokal, kulturell oder religiös Sperrige einebnenden Kapitalismus noch verstärkt.7 Aus dem toten Winkel der damals politisch noch nicht vorbelasteten Begriffe wie Rasse, Boden, Volk, Nation habe der Moderne-Verächter Péguy, so Latour, unsere heutige Welt schärfer und tiefer vorausgedacht als die meisten Moderne-Theoretiker: »Er, der sein Leben lang den Flecken Erde kaum verließ, auf dem er lebte, war der wahre Vordenker der Globalisierung.«8

Alain Finkielkraut hat dem philosophischen Vermächtnis Péguys mit seinem Buch Le mécontemporain schon 1991 eine ausführliche Studie gewidmet und ist seither ein unermüdlicher Péguy-Leser geblieben. Anlässlich des 100. Todestags ließ er sich auf eine neue Auseinandersetzung mit ihm ein und kam zu einem ähnlichen Schluss wie Bruno Latour. In der aus der Dreyfus-Affäre hervorgegangenen Alternative zwischen humanistischer, menschenverbindender Universalidee und konfliktschürenden Kategorien wie Vaterland, Armee, Staat, Gott liege Péguy irgendwie quer, schreibt Finkielkraut9: Statt sich wie Zola oder Clemenceau im Kampf gegen Rassenwahn und Fanatismus auf die Vernunft Voltaires zu berufen, habe Péguy das Beispiel Rodrigos aus Corneilles Le Cid angeführt und dessen Schwur auf die »Ehre des Bluts« – »rein gebe ich mein Blut zurück, wie ich es empfangen...

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