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E-Book

Der verkannte Bürger

Eine andere Geschichte der europäischen Integration seit 1950

AutorHartmut Kaelble
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl168 Seiten
ISBN9783593440880
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis22,99 EUR
Die Geschichte der europäischen Integration sieht man oft als ein reines Elitenprojekt an. Die Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Union erscheinen daran als unbeteiligt und desinteressiert. Doch dieses Urteil trügt: Sie hatten oft nur andere, eigenständige Vorstellungen vom Zusammenwachsen Europas als die politischen Entscheider. Sie nahmen zudem, vor allem seit den 1980er-Jahren, über Wahlen, Referenden, Interessengruppen, Beschwerden, Eingaben und Klagen aktiv Einfluss auf Europa. Sie erlebten Perioden des Vertrauens in die europäischen Institutionen, aber auch Phasen des Misstrauens. Auf der Basis von bisher kaum ausgewerteten Quellen zeichnet Hartmut Kaelbles Buch ein neues Bild der Vorstellungen und der Partizipation der Bürgerinnen und Bürger der EU im historischen Wandel.Hartmut Kaelble war von 1971 bis 1991 Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der FU Berlin und von 1991 bis 2008 Professor für Sozialgeschichte an der HU Berlin.

Hartmut Kaelble war von 1971 bis 1991 Professor für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der FU Berlin und von 1991 bis 2008 Professor für Sozialgeschichte an der HU Berlin.

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Leseprobe

1.Einleitung


Noch am 50. Jahrestag der Römischen Verträge 2007 galt die Europäische Union als ein internationales Erfolgsmodell, in das nicht nur Politiker außerhalb Europas, sondern auch die eigenen Bürger der Europäischen Union (EU) viel Vertrauen setzten. Dieses Modell bekam in den vergangenen Jahren, in der Eurokrise und danach in der Flüchtlingskrise, starke Risse. Die Folgen dieser Krisen sind weiterhin spürbar. Es bleibt ein Teil der öffentlichen Erinnerung, dass die Europäische Union an Vertrauen ihrer Bürger verlor und in vielen Mitgliedsländern zeitweise sogar die Gegner der Union überwogen. Der Brexit verstärkt diese dunkle Erinnerung, auch wenn die Abstimmung über ihn sehr knapp ausging. Inzwischen ist das Vertrauen der Bürger in die Union zurückgekehrt, aber die EU hat sich weiterhin mit europafeindlichen Parteien im Europäischen Parlament, in vielen nationalen Parlamenten und in einigen nationalen Regierungen herumzuschlagen. Sie gab es vor der Krise weit weniger. Unter Experten und Intellektuellen stößt die Europäische Union weiterhin auf mehr Skepsis als vor den Krisen, auch wenn die unionsfreundlichen Veröffentlichungen in allerjüngster Zeit deutlich zunehmen. Umgekehrt bestehen unter den Europapolitikern häufig Irritationen und auch Misstrauen gegenüber den Bürgern. Aus ihrer Sicht sind die Bürger entweder schwer für die Union zu mobilisieren, wie etwa bei den Europawahlen, oder zu wenig widerstandsfähig gegen antieuropäische Angstkampagnen wie beim französischen und niederländischen Nein 2005 und beim Brexit 2016. Die Beziehung zwischen Bürgern und Europäischer Union, die früher eher als uninteressanter Seitenast der Geschichte der europäischen Integration angesehen wurde, ist inzwischen ein schwelendes Krisenthema geworden.

Vier Erklärungen für diese Entfremdung zwischen Bürgern und Europäischer Union findet man in den öffentlichen Debatten. Eine erste Erklärung: Die großen Versprechen, mit denen die europäische Integration in den frühen 1950er Jahren startete, vor allem die Versprechen von europäischem Frieden und Wohlstand, überzeugen immer weniger Bürger, da der Zweite Weltkrieg und der große Wirtschaftsboom in immer weitere historische Ferne rücken. Ein neues attraktives Narrativ, ein neues Versprechen der Europäischen Union müsste gefunden werden, damit die Bürger sich nicht enttäuscht von der Union abwenden. Eine zweite Erklärung: Über die Köpfe der Bürger hinweg verschaffte sich die Europäische Union seit den 1990er Jahren in den Verträgen von Maastricht, Amsterdam, Nizza und Lissabon eine Vielzahl neuer Kompetenzen. Sie versäumte es, die Bürger ›mitzunehmen‹ und sie vom Sinn dieser neuen Macht der Union zu überzeugen. Daher zerbrach der »permissive Konsens« zwischen den Bürgern und der Europapolitik, der vier Jahrzehnte gehalten hatte, und wurde ersetzt durch heftige öffentliche politische Diskussionen über die Europapolitik, verschärft noch durch die zahlreichen Europareferenden. Eine dritte, benachbarte Erklärung: Die Europäische Union lässt die Bürger zu wenig zu Wort kommen. Sie leidet unter einem Demokratiedefizit. Sie hält vor allem das Europäische Parlament und deren Kompetenzen zu klein. Die Bürger wenden sich ab, weil sie in der immer mächtigeren Europäischen Union und gegenüber der angeblich mächtigen europäischen Bürokratie zu wenig zu sagen haben und die Union die Bodenhaftung bei den Bürgern verliert. Nach einer vierten Erklärung schließlich hat die Europäische Union immer mehr mit der Rückkehr des Nationalismus zu kämpfen. Dieser Nationalismus ist ein neuer globaler Trend auch in großen außereuropäischen Nationen der Welt, in China und in den USA, in Russland und in der Türkei, die die internationale Integration immer häufiger ablehnen und daher die Europäische Union nicht mehr unterstützen, sondern bekämpfen. Anders als noch in den 2000er Jahren sieht sich die Europäische Union von Gegnern umgeben. Dieser neue Nationalismus erfasste auch schon einzelne Regierungen der Mitgliedsländer der Europäischen Union und fand in rechtsextremen Parteien in vielen europäischen Parlamenten – und damit auch unter Bürgern – Unterstützung. Alle diese Argumente suggerieren einen Niedergang der Europäischen Union unter den Bürgern. Alle diese Argumente haben daher eine historische Dimension und leben von der Idee, dass es in der Vergangenheit um die Beziehungen zwischen Bürgern und der Europapolitik besser stand.

Aber war dies wirklich so? Gibt es in diesen Beziehungen tatsächlich eine Art verlorenes Paradies, und besaßen die europäischen Institutionen in der Vergangenheit mehr Vertrauen, mehr Zustimmung und mehr Rückhalt unter den Bürgern? Die Antwort ist unklar. Die Geschichte der Beziehungen zwischen den Bürgern und der Europäischen Union ist bisher nur bruchstückhaft geschrieben worden.

Thema


Das vorliegende Buch nimmt sich dieses Themas an. Es untersucht die drei Kernfragen in den Beziehungen zwischen den Bürgern und der Europäischen Union: Vertrauen in Europa, Erwartungen an Europa und Einfluss in Europa.

Als Hintergrund für die drei Kernfragen geht das Buch zunächst auf die großen und zunehmend anspruchsvollen Versprechen der Europapolitik und ihre Verwirklichung seit den 1950er Jahren ein und verfolgt, wann sie eingehalten wurden und wann sie uneingelöst blieben. Diese Versprechen muss man kennen, um das Vertrauen, die Erwartungen und die Einflussnahme der Bürger einordnen zu können.

Danach wird als erste Kernfrage das Vertrauen der Bürger in die Europäische Union behandelt. Der Wechsel zwischen Zeiten des Vertrauens und Zeiten der Spannungen zwischen den Bürgern und der Europäischen Union wird seit den 1950er Jahren verfolgt. Die Eurokrise und die Flüchtlingskrise waren nicht die ersten und einzigen historischen Krisen des Vertrauens zwischen Bürgern und europäischen Institutionen. Auch in den 1950er Jahren, in den 1970er Jahren und in den 1990er Jahren gab es Zeiten des steigenden Misstrauens. Aber die Bürger überwanden dieses Misstrauen immer wieder, so wie sie es jetzt ebenfalls wieder zu überwinden scheinen.

Dann wird als zweite Kernfrage der Geschichte der Erwartungen, Hoffnungen und Forderungen der Bürger an die Europäische Union im Verlauf der vergangenen 70 Jahre nachgespürt. Wenn man die Europäische Union immer nur als Elitenprojekt betrachtet, die Bürger nur in apathischer Hinnahme oder in zukunftsblinder Widerständlerei gefangen sieht und sie damit an den Rand der Geschichte der europäischen Integration drängt, lassen sich diese Erwartungen und Hoffnungen nicht erkennen. Diese Erwartungen deckten sich oft nicht mit der Europapolitik. Sie haben ihre eigene Geschichte.

Schließlich wird als dritte Kernfrage der Einfluss der Bürger auf die europäischen Institutionen im Verlauf der Zeit behandelt und verfolgt, wie sich die kollektive Einflussnahme in Wahlen, Volksabstimmungen, sozialen Bewegungen und Interessengruppen verstärkte und wie die individuelle Einflussnahme der Bürger durch Eingaben, Forderungen, Beschwerden und Klagen zu europäischen Entscheidungen im Verlauf der Zeit zunahm. Auch das ist wenig untersucht. Die allmähliche Veränderung vom unbefragten europäischen Bürger der 1950er und 1960er Jahre zum abstimmenden Bürger seit den 1970er Jahren und zum individuell eingreifenden Bürger vor allem seit den 1990er Jahren wird hier dargestellt.

Insgesamt möchte das Buch die europäischen Bürger aus der Ecke des passiven oder widerborstigen Objekts eines angeblich reinen Elitenprojekts herausholen, in die sie oft gestellt werden. Es möchte eine ›andere‹ Geschichte der europäischen Bürger in dreierlei Hinsicht vorlegen. Die Bürger nahmen die Weichenstellungen der Europapolitik keineswegs immer passiv hin, misstrauten der Europapolitik in der Eurokrise nicht zum ersten Mal, überwanden aber die Spannungen mit der Europapolitik immer wieder, so wie sie auch die jüngsten Spannungen wieder zu überwinden scheinen. Die Bürger besaßen in ihrer Mehrheit von Anfang an weitreichende Zukunftsvorstellungen von Europa, die sich oft von der Europapolitik unterschieden. Die Mehrheit der europäischen Bürger war schließlich auch deshalb nicht passiv, weil sie seit langem mehr Einfluss auf die Europapolitik erhofften und kollektiv wie individuell durchaus auch Einfluss nahmen. Sie erwarteten, mehr Einfluss zu bekommen, aber verharrten derweil nicht in passiver Apathie.

Forschungsstand


Das Buch...

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