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E-Book

Der verschwundene Journalist

Eine deutsche Geschichte

AutorEva Züchner
VerlagBerlin Verlag
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783827072931
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Aus dem sächsischen Meißen kommend, besucht Gerhart Weise, Jahrgang 1913,die Reichspresseschule in Berlin. Er arbeitet in verschiedenen Zeitungsredaktionen und steigt bis in Goebbels' Propagandaministerium auf, wo er, obwohl kein Parteigenosse, die wohlwollende Aufmerksamkeit des Ministers findet. Der Film- und Varieté-Spezialist wird zum Kriegsberichterstatter, ohne jemals an der Front gewesen zu sein, er wird zum Erfinder von Falschmeldungen für das feindliche Ausland, zum Film-Zensor,schließlich zum Koautor des letzten NS-Propagandafilms 'Das Leben geht weiter'. Eva Züchner zeichnet das Bild eines jugendlich von der NS-Bewegung Begeisterten, der allmählich zum zynischen Opportunisten wird und in schrecklicher Konsequenz seinen Freund, den Zeichner Erich Ohser, alias e.o. plauen, verrät und dessen Tod kurz vor Kriegsende mitverschuldet. Im September 1945 wird Gerhart Weise von der sowjetischen Geheimpolizei verhaftet und verschwindet spurlos. So ist das Ergebnis der Nachforschungen über den Vater, den romantischen Liebhaber, den sprachgewandten Journalisten, den ehrgeizigen Schreibtischtäter, verstörend - ein verklärtes Vaterbild zerfällt in paradoxe Fragmente, die nicht zusammenpassen und doch zusammen gehören. Anhand von gründlichen Archivrecherchen und aus großer kritischer Distanz liefert Eva Züchner nicht nur das eindringliche Porträt ihres Vaters, eines Journalisten, der zum Handlanger der Mächtigen wurde, sondern auch eine bisher unbekannte Innenansicht der Mediengeschichte im Nationalsozialismus.

Eva Züchner studierte in Berlin Vergleichende Literaturwissenschaft und Neuere Geschichte. Sie arbeitete als Ausstellungskuratorin und Archivleiterin am Landesmuseum Berlinische Galerie.

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Leseprobe

START IN MEISSEN


Rebell und Nazischüler


 

Als Gerhart Weise am 15. Juni 1913, einem Sonntag, in Dresden geboren und drei Monate später in der Dresdner Apostelkirche evangelisch-lutherisch getauft wird, können seine Eltern nicht ahnen, dass ihre bürgerliche Welt bald aus den Fugen geraten wird. Seit einem Jahr sind sie verheiratet: Bruno Weise, Lehrer von Beruf, Jahrgang 1883, und Margarethe Hoffmann, Jahrgang 1891, Tochter eines Schuldirektors. Dass sie ihren Sohn auf den Namen Gerhart mit »t« taufen lassen, hat anscheinend keine familiären Gründe; jedenfalls taucht dieser Vorname im »Ahnen-Paß. Amtlich beglaubigte Urkundensammlung über die Abstammung« des späteren Journalisten nicht auf. Mir gefällt der Gedanke, dass die Namensgebung ein Zeichen der Verehrung für Gerhart Hauptmann gewesen sein könnte, der 1912 für seine sozialrevolutionären Dramen den Nobelpreis bekommen hat. Gerhart hat seinen Vater – 1914 eingezogen, 1917 »im Felde vermißt«, 1918 für tot erklärt – ebenso wenig kennengelernt wie ich den meinen.

Gleich nach Kriegsende zieht Margarethe, die achtundzwanzigjährige Witwe, mit ihrem kleinen Sohn in das nahegelegene Meißen; sie bekommt eine Anstellung als Bezirkspflegerin, er wird im Herbst 1919 eingeschult. Gerhart ist natürlich zu jung, um sich unter Krieg, Tod und Versailler Vertrag etwas Konkretes vorstellen zu können, aber alt genug, um sich den unaufhörlichen Hunger, die ungeheizten Zimmer, die häufige Abwesenheit der berufstätigen Mutter als eine Zeit der äußeren und inneren Kälte einzuprägen. 1924 wechselt er von der Meißener Volksschule auf das Realgymnasium, wo er jedoch nur drei Schuljahre bleibt. Seine Mutter, so scheint es, will aus ihrem Sohn »etwas Besseres« machen, denn es gelingt ihr, ihn 1927 in der traditionsreichen Fürstenschule St. Afra unterzubringen, die zwei Jahre später ihr vierhundertjähriges Jubiläum feiern wird. Erstaunlich, dass Margarethe es geschafft hat, ihrem Gerhart eine, wie ich annehme, Freistelle in diesem elitären humanistischen Internat zu erkämpfen, in dem die Söhne adliger und großbürgerlicher Familien erzogen werden. Vielleicht hat ihr der Status einer Kriegerwitwe, ihre Anstellung bei der Stadt Meißen und die Tatsache, dass sie im Aufnahmeantrag ihren Mann, den Lehrer, zum »Schuldirektor« befördert hat, dabei geholfen.

Gerhart besteht die strenge Aufnahmeprüfung, bleibt aber nur bis 1929, um anschließend wieder aufs Realgymnasium zu wechseln. Warum? Dazu konsultiere ich die Festschrift Die Fürstenund Landesschule St. Afra aus demselben Jahr. Wegen schlechter Zensuren? Vielleicht: »Uns ist es besonders schmerzlich, wenn Afraner, die für unsere Gemeinschaft in Gesinnung und Haltung besonders geeignet sind, wegen mangelhafter Leistungen uns verlassen müssen.« Oder fehlt ihm damals schon die »nötige charakterliche Härte«? Möglich: »Nicht für jeden ist St. Afra der Boden, wo er wachsen und sich entfalten kann. Der Knabe und Jüngling muß hier auf manches verzichten, was ihm auf anderen Schulen gegönnt ist. Wer sich nicht einzufügen versteht, dem ist Verpflanzung in ein anderes Land anzuraten.« Oder weil er »dem afranischen Geiste« schadet, indem er mit nationalsozialistischen Parolen um sich wirft? Eher nicht: »Ich bin überzeugt, daß ein Junge mit undeutscher Gesinnung sich in unserem Alumnate nicht halten könnte.« Die Schülerbücherei zählt 1929 einschlägig Ideologisches zu ihren Neuerwerbungen. Neben Hans Grimms Roman Volk ohne Raum werden im Boten von St. Afra auch Autoren wie Houston Stewart Chamberlain, Hanns Johst und Will Vesper genannt.

Jahre später wird der ehemalige Afraner in einem Zeitungsartikel den wahren Grund für seinen Rausschmiss aufdecken. Recht amüsant und biographisch wohl einigermaßen stimmig erzählt er dort von seiner Flucht aus dem Internat, die sich sogar auf den 3. oder 4. Oktober 1929 datieren lässt, denn im Leipziger Hauptbahnhof angelangt, kauft er sich eine Zeitung mit der Schlagzeile »Stresemann gestorben«. Der Sechzehnjährige will als blinder Passagier nach Amerika: »Ein Satz von der Kaimauer, nachts, an dem Tau hoch, in die Luke, hinter einen nahrhaften Stapel Apfelsinenkisten – das war die Straße in die Welt. Zu Indianern, Tellerwäschern, […] Millionären, Kulis und Piraten.« Aber letztlich ergeht es dem jungen Abenteurer nur wenig besser als den von Ringelnatz bedichteten Hamburger Ameisen, die nach Australien wollen, aber nur bis Altona kommen. Zwar schafft der Schwarzfahrer immerhin die Strecke Meißen-Dresden-Leipzig-Stendal-Hamburg, doch da – Achtung: Kalauer – »verzichtete Weise auf den letzten Teil der Reise«, denn im »Dresdener Polizeipräsidium hämmerten die Morseapparate meinen Steckbrief […]. Der Steckbrief war vor mir in Hamburg.« Darum also ist der Sekundaner von der Fürstenschule geflogen! Dort hat er sich anscheinend gefühlt wie ein Häftling im Knast: »Auch im Sommer ist es in unseren Internatsstuben dunkel gewesen. Dicke Kastanien standen vor den Fenstern. Wir wurden im Schulpark bewacht. Wir wurden in den Stuben bewacht.« Für »den griechischen Aorist« hat er nichts übrig, aber immerhin verdankt er »den Gelehrten die zur Virtuosität gesteigerte Begabung, ein Buch heimlich auf den Knien zu lesen, das prall von Tramps, Bremsern und Blizzards, von Millionenjachten und Verhungernden, von Verbrecherschiffen und von den Dünsten der Frisco-Kneipen strotzte«. Diese Jack-London-Welt bleibt für Gerhart unerreichbar, und nach seiner Relegation wird er zum zweiten Mal ins Realgymnasium verfrachtet. Doch wieder reißt er aus, selbst wenn er »seither brav und gesetzespflichtig mit gelochten Fahrkarten über die Kilometer gekommen« ist. »Das hat wenig zu sagen …« So ist es: Der Gymnasiast flüchtet aus dem bürgerlich-humanistischen Mief in das Abenteuer der nationalsozialistischen »Bewegung«, denn dort dreht sich für ihn die Welt.

 

Gerhart Weise ist noch keine siebzehn, als er für den Nationalsozialismus entflammt. Am 1. Mai 1930 wird der Obersekundaner am Realgymnasium Meißen Mitglied des NS-Schülerbundes. Im Jahr zuvor als reichsweite Organisation gegründet, ist der noch relativ neue NS-Schülerbund »feiner« und elitärer als die bereits seit 1926 existierende Hitler-Jugend, denn er ist ausschließlich Gymnasiasten der Oberstufe vorbehalten: einer der propagandistischen Tricks, um die »Bewegung« in der Mittel- und Oberschicht salonfähig zu machen. Im Hause Weise hat der Trick offenbar nicht funktioniert: Gerharts Abschied vom NS-Schülerbund, in dem er »aktiv mitgearbeitet hat«, erfolgt im Januar 1932 »auf Grund elterlichen [sic!] Zwanges«, so der Wortlaut einer Bescheinigung, die ein »Führer des NS-Schülerbundes Meißen« ausgestellt hat. Hier gestatte ich mir die durch keinerlei Faktenwissen gestützte Überlegung, dass die Witwe Margarethe eine aufrechte Sozialdemokratin gewesen sein könnte. Denn zweifellos ist es ein mutiges Unterfangen, ihren nach einem sozialrevolutionären Dramatiker benannten Sohn den Meißener Nazis zu entziehen.

Gerhart dilettiert bereits als Journalist und schreibt, wie Jahre später in seiner Personalakte vermerkt, für den Freiheitskampf, die »Amtliche Tageszeitung der N. S. D. A. P. Gau Sachsen«. Hierbei handelt es sich nicht etwa um ein nachrangiges Provinzblättchen, sondern um eine der auflagenstärksten Zeitungen Dresdens. Ihr Herausgeber, Gauleiter Martin Mutschmann, wird 1933 mit seiner Ernennung zum Reichsstatthalter und zwei Jahre später zum Ministerpräsidenten Sachsens mächtigster Politiker. Eine Durchsicht der Jahrgänge 1930 bis 1933 des Freiheitskampfs hat keinen mit dem Namen oder den Initialen des Gymnasiasten gezeichneten Artikel zu Tage gefördert, so dass ich nicht weiß, ob er seine ersten veröffentlichten Texte tatsächlich in dem dumpfen, geradezu pöbelhaften antisemitischen Jargon dieses »Kampfblatts« geschrieben hat. Aber ich vermute, dass dem jungen Gerhart ein Artikel wie »Die rote Polizeiverwaltung von Meißen im Dienste des jüdischen Großkapitals« vom 13. Oktober 1930 oder gar der Vorfall selbst nicht entgangen sein kann: NSDAPOrtsgruppenleiter Zitzmann, zugleich Inhaber der Deutschen Buchhandlung in Meißen, hat in seinen beiden Schaufenstern und oberhalb der Ladentür einige »Beklebungen« angebracht, die im Freiheitskampf genüsslich zitiert werden. Beispiel: »Warum duldest Du, daß Deine Frau beim Juden einkauft?« Zielscheibe der Injurien ist die Meißener Filiale des Kaufhauses Tietz. Noch existiert allerdings die Weimarer Republik, die in Gestalt eines stellvertretenden Polizeidezernenten und SPD-Mitglieds namens Frick reagiert, die Entfernung der Schilder anordnet und, da ergebnislos, nach vier Tagen von einem Angestellten des Rathauses unter Polizeischutz entfernen lässt. Weil Herr Frick nichts gegen »die kommunistischen Horden« unternimmt, aber »den jüdischen Großkapitalisten Tietz zu schützen« weiß, wird ihm in sein...

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