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Der Weg in die Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges

Die Krisendekade 1608-1618

AutorHeinz Duchhardt
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783492965972
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Der Dreißigjährige Krieg (1618-48) warf lange Schatten voraus. Der renommierte Historiker Heinz Duchhardt beleuchtet in seinem Buch aus europäischer Perspektive das hochexplosive Jahrzehnt vor Ausbruch des Krieges, das geprägt war von innen- und außenpolitischen Krisen, von konfessioneller Zuspitzung, Zukunftsangst und der Vorstellung, dass der Weg zwangsläufig ins Chaos führen müsse. Die Spannung zwischen einer Art »Endzeiterwartung« und dem Bemühen, des Konfliktpotenzials doch noch Herr zu werden, war charakteristisch für diese Zeit. Sie mündete in eins der traumatischsten Ereignisse der Vormoderne überhaupt, das unendliches Leid über seine Bevölkerung brachte und den Kontinent grundlegend veränderte.

Heinz Duchhardt gehört zu den führenden und produktivsten Frühneuzeit-Historikern in Deutschland. Er bekleidete Lehrstühle für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Bayreuth (1984-1988) und für Neuere Geschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (1988-1995). Von 1994 bis 2011 war er Direktor der Abteilung für Universalgeschichte im Mainzer Institut für Europäische Geschichte. Von 2009 bis 2014 war er Präsident der Max Weber Stiftung.

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Leseprobe

Strukturen und Mentalitäten


Erfahrungsraum Europa?


Hätte ein Handwerksgeselle auf seiner meist mehrjährigen, der Aneignung und Komplettierung von fachlichem Know-how dienenden tour d’Europe in der Dekade vor Ausbruch des Großen Krieges ein Tagebuch geführt, dann hätte man mit Gewissheit eine Quelle, die an Facettenreichtum, an Farbigkeit, aber auch an der Schilderung von Leid und Zukunftsangst kaum zu übertreffen wäre. Der junge Mann – das Phänomen weiblicher Gesellen war dem frühen 17. Jahrhundert noch fremd – hätte von Wetterkapriolen berichtet, von Heuschreckenplagen und Missernten, von Teuerung und Hungersnot allüberall. Er hätte geschildert, wie er den ungezählten Heerhaufen aus dem Weg zu gehen versuchte, die die Lande unsicher machten, er wäre mit den Massen von Bettlern und Erwerbslosen konfrontiert worden und vor Wegelagerern und Räubern nicht sicher gewesen; er hätte erlebt, wie die Menschen vor Zukunftsangst fast vergingen und in kosmischen und anderen Zeichen das kommende Ende der Welt zu erkennen meinten. Er hätte die Hexen brennen sehen und die Leichenhalden mit den unzähligen Opfern der Pest und anderer Seuchen so weit und so schnell wie möglich umgangen. Er hätte erlebt, wie Kriege zwischen Nachbarstaaten den Ostseehandel zum Erliegen brachten, wie in den Niederlanden die Gesellschaft eher randständiger dogmatischer Fragen wegen in blutigen Aufruhr geriet; er hätte vielleicht von Bürgerkriegen in Frankreich und Massenvertreibungen aus Spanien erzählt, und er hätte – wenn er denn so weit gekommen wäre – von bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen in Polen und von einer Welt in Russland berichtet, die im Chaos zu versinken drohte. Er hätte mutmaßlich den Raum des Osmanischen Reiches und seines breiten Grenzsaums sorgfältig gemieden, weil »man« ja aus den unzähligen Türkenschriften wusste, was einem dort blühen konnte: die Enthauptung, das Abschneiden der Nase oder die Versklavung und der Galeerendienst. Er hätte registriert, wie es in Oberitalien gärte, und er hätte, wenn er denn aus Deutschland gestammt hätte, mit größter Sorge beobachtet, wie kompromisslos sich die Religionsparteien gegenüberstanden und dass es niemanden mehr zu geben schien, der auch nur versuchte, das Schlimmste zu verhüten.

Der Handwerksgeselle wäre, all diese Konstrukte einmal angenommen, einer der relativ wenigen Menschen gewesen, denen im frühen 17. Jahrhundert eine europäische Erfahrung eignete – andere Berufsgruppen waren etwa die Studenten, die Fernhandelskaufleute, Matrosen, Künstler jedweder Art und Schausteller sowie – natürlich – die Soldaten. Die weitaus meisten Menschen Alteuropas, man geht von mehr als 80 % aus, kamen über einen sehr engen Radius um ihren Geburts- bzw. Arbeitsort nie hinaus. Sie interessierte es im Grunde auch relativ wenig, wie sich dieser Kontinent denn eigentlich bemaß, wo er sein Ende fand und wie stark er von den Welten »jenseits« differierte.

Es gibt ein solches Ego-Dokument leider nicht, und die wenigen »wandernden«, also nicht ortsgebundenen Tagebücher stammen in der Regel von Soldaten, die eine ganz eigene Perspektive hatten und das geschichtliche Leben in der Regel nicht in all seiner Totalität erfassten. Das von Jan Peters herausgegebene, freilich erst die Jahre ab 1625 beleuchtende Tagebuch eines namenlosen Söldners, der ein knappes Vierteljahrhundert lang halb Europa durchstreifte und in seinen Aufzeichnungen unter anderem wunderbare Einblicke in den soldatischen Ehrenkodex eröffnet, spiegelt diese begrenzte Sicht exemplarisch. Es geht also im Folgenden nicht darum, ein (nicht existentes) Tagebuch auszuschreiben; vielmehr ist der Historiker gefordert, aus vielen Puzzlesteinen ein Bild zusammenzufügen, das der Wirklichkeit so nahe wie möglich kommt. Dabei werden zunächst die Metastrukturen (Staaten, Konfessionen, Stände) und dann die Mentalitäten in den Blick genommen, die die Zeit prägten.

Das Staatensystem


Die europäische Staatenlandschaft hatte sich seit der Mitte des 16. Jahrhunderts nicht grundlegend verändert, aber sie hatte sich weiter ausdifferenziert, und die internationalen Beziehungen hatten an Dynamik gewonnen. An der Vormachtstellung Spaniens gab es in der langen Regierungszeit Philipps II. kaum Zweifel, obwohl es seine verschiedenen Teilkönigreiche immer noch nicht »eingeebnet« hatte und sein Weg zur Realunion noch nicht abgeschlossen war. Und ebenso bestand der säkulare Gegensatz der französischen Valois bzw. Bourbonen zur Casa de Austria unverändert fort. In diesem Grundantagonismus der Epoche spielte das Reich als solches eine eher passive Rolle, obwohl immerhin einzelne seiner Fürsten erste Ansätze zeigten, sich auf einer europäischen Bühne zu bewegen. Die Machtoffensive Philipps, die sich aus der Entschlossenheit des Habsburgers speiste, die »Häresie« und alle Rebellionen gegen die etablierte (monarchische) Ordnung zu bekämpfen (und das Mittelmeer sicherer zu machen), rief aber Gegenkräfte auf den Plan, die Spanien mit seinem »imperialen« Anspruch das Leben zunehmend schwer machten. Seit den 1580er-Jahren hatten sich neue Strukturelemente ausgebildet, namentlich in Gestalt eines sich verstärkenden Drucks auf das spanische Reich, das neben den iberischen Besitzungen – sofern man »nur« den europäischen Kontinent ins Auge fasste – die Niederlande sowie wichtige Positionen in Ober- und Süditalien umfasste und seit 1580 zudem mit dem benachbarten Königreich Portugal in Personalunion verbunden war (und damit auch dessen weitgespanntes Kolonialreich mit kontrollierte). Dieser Druck ging einerseits von dem niederländischen Emanzipationskampf aus, der in erheblichem Maß militärische und finanzielle Ressourcen band, und andererseits von den ebenso kostenträchtigen wie delikaten Versuchen der Krone, sich aus konfessionellen Gründen in die inneren Angelegenheiten sowohl Frankreichs als auch Englands einzumischen. Die in Spanien als katastrophal eingeschätzte Armadaschlacht von 1588 ließ auf beiden Seiten des Ärmelkanals eine »nachgerade fundamentalistische Stimmung der Glaubensgewissheit und der Widerstandsbegeisterung gegen die katholischen Leitmächte Spanien und Papsttum« entstehen (Heinz Schilling). Die Vernichtung der Armada hatte nicht nur Philipps Prestige signifikant gemindert, sondern auch, unter anderem Spaniens militärischer Omnipräsenz wegen, trotz der Edelmetallzuflüsse aus den amerikanischen Kolonien seine Finanzkraft vor gewaltige Probleme gestellt. Eine ganze Reihe von Staatsbankrotten war die dramatische Folge. Damit einher ging ein verstärktes Engagement Englands; es wurde getragen von einer Gruppe jüngerer Höflinge mit einer entschieden protestantischen Attitüde und erstreckte sich nicht nur auf die Meere, wo die englischen Kaperer und eine Seeblockade der Azoren für Aufsehen sorgten, sondern auch auf den Kontinent. Ein langer englisch-spanischer Krieg, den Philipp II. sogar nach Irland trug, konnte erst 1604 nach dem Thronwechsel in London zu dem ersten Stuart-Fürsten und lediglich auf der Basis des status quo ante beigelegt werden. Und auch in Frankreich entwickelten sich die Dinge nicht zum Vorteil Spaniens. Das Reich des Roi-Très-Chrétien, des mit dem Ehrentitel des Allerchristlichsten Königs ausgestatteten französischen Monarchen, war zwar durch die konfessionellen Bürgerkriege und durch die rasche Abfolge vorzeitig aus dem Leben geschiedener Kronträger viel zu sehr mit den hauseigenen Problemen beschäftigt, als dass es sich auf Augenhöhe als Widerpart der Casa de Austria auf internationaler Ebene hätte profilieren können. Aber Frankreich war eine Großmacht im Wartestand geblieben, auch wenn es ihm nach den schlimmen konfessionellen Wirren noch eklatant an aktivierbaren Ressourcen mangelte. In dem Augenblick aber, als die »Balance zwischen Krone und Ständen« wiederhergestellt war (Johannes Arndt), als – mit päpstlicher Rückendeckung! – das Königtum des Bourbonenkönigs Heinrich IV. sich gefestigt hatte und als mit dem Edikt von Nantes (1598) das Hugenottenproblem wenigstens vorläufig beigelegt war, kehrte Frankreich trotz aller spanischen Destabilisierungsversuche mit vollem Elan wieder in die internationale Politik zurück. Der entscheidende Wendepunkt war, dass es Heinrich IV. schließlich, ebenfalls 1598, im Frieden von Vervins mit Philipps II. Sohn und Nachfolger gelang, den langen, mit dem Ziel der spanischen Intervention in Frankreich begonnenen Krieg zu beenden. So wichtig der – im Übrigen unter kurialer Vermittlung zustande gekommene – Ausgleich von 1598 für Frankreichs Rekonsolidierung war: Der mit Heinrichs protestantischen Verbündeten beiderseits des Kanals nicht abgestimmte und deswegen für etliche Verstimmung sorgende Separatfriede wurde selbst von dem Bourbonen als wenig belastbar eingestuft. Ob Frankreich, das sich in den letzten Lebensjahren des »guten Königs« finanziell und wirtschaftlich weiter erkennbar erholte, diese aktive Außenpolitik unter einer Regentschaft – immer eine Chance für alle möglichen Oppositionsgruppierungen, sich in Erinnerung zu bringen und in Positur zu setzen – würde fortsetzen können, war am 14. Mai 1610, dem Tag der Ermordung Heinrichs IV., freilich noch nicht absehbar.

Das Heilige Römische Reich deutscher Nation war zwar nach Umfang, Bevölkerungszahl (ca. 16 – 17 Millionen Einwohner) und Wirtschaftskraft nach wie vor ein bedeutender Faktor in Europa, blieb als Akteur jedoch weitgehend am Rand. Es agierte nicht von sich aus, sondern reagierte...

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