Für einen Dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus bestand niemals eine Chance, wenngleich politische Akteure verschiedenster Couleur und Personen des öffentlichen Lebens entsprechende Konzepte diskutierten. Die Gründe, dass diese Option chancenlos blieb, waren vielfältig und nicht nur der konzeptlosen Oberflächlichkeit, die der Terminus Dritter Weg suggerierte, geschuldet. Es waren zuallererst die regierenden Kommunisten in Ostberlin, die stets hatten erkennen lassen, dass sie zu keinerlei Kompromissen bereit waren. Mit der SED also auf den Kurs eines Dritten Weges einschwenken? Undenkbar! Viel zu lang hatte sich die Partei notwendigen Reformen unter dem Deckmantel eigener Unfehlbarkeit verweigert, hatte Veränderungen blockiert und aufkeimenden Protest im Ansatz erstickt. All dies war aus der Angst heraus geboren, dass die Partei der Forderung nach Meinungspluralismus früher oder später ihr Glaubensmonopol hätte überantworten müssen. Demzufolge hätte die SED unweigerlich auch ihren Führungsanspruch eingebüßt. Nicht nur, dass die DDR damit ihren marxistischen Charakter verloren hätte, vielmehr wäre der Staat ohne Sozialismus nur mehr eine sinnlose Konstruktion gewesen.[130]
SED und DDR waren ein untrennbares Geflecht, eine symbiotische Beziehung die sich wechselseitig legitimierte. Vor allem aber blieben sie zeitlebens Synonyme für institutionalisiertes Unrecht. Die Eigenständigkeit der Deutschen Demokratischen Republik war stets an das sozialistische System gekoppelt und eben dieses kam in den achtziger Jahren an sein politisches Ende, an den Rand des wirtschaftlichen Bankrotts. Das Verfassungskonstrukt DDR war nur mehr durch marktwirtschaftliche Reformen zu retten, doch gab es für einen zweiten kapitalistischen Staat neben der Bundesrepublik keinerlei Daseinsberechtigung. Ohne Sozialismus wäre eine Wiedervereinigung zwangsläufig die logische Konsequenz gewesen.
Die Einheitspartei fürchtete jedwede öffentliche Diskussion über gesellschaftliche, politische und ökonomische Probleme. Jeder Versuch freier Meinungsäußerung wurde unterdrückt, mit Strafen, Disziplinarverfahren oder Rügen belegt. Doch war/ist gerade die freie Meinungsäußerung eine unabdingbare Voraussetzung für die Erfassung tatsächlicher Bewusstseinsstrukturen. Durch ihre Halsstarrigkeit entfremdete sich die politische Avantgarde mehr und mehr von den Bedürfnissen und Nöten der Öffentlichkeit. Ohne den Meinungsaustausch musste die Partei also zwangsläufig Glaubwürdigkeit verlieren. Hinzu kam die offizielle Informationspolitik die es vermied, den Massen objektive wissenschaftliche Analysen zur Verfügung zu stellen. Der ideologische Dogmatismus förderte entgegen seiner beabsichtigten Stoßrichtung gleichermaßen eine Manifestierung reformsozialistischer, aber auch systemfeindlicher Denkansätze. Besonders die seit den Sechzigern geborene Jugend distanzierte sich in zunehmendem Maße von den Vorgaben der Partei. Besonders seit den siebziger Jahren, im Gefolge der Helsinkikonferenz, in der Hochphase der Entspannung erschien die offizielle Propaganda zunehmend als monotone Repetition hohler Phrasen. Antifaschismus, Antikapitalismus, der Kampf um den Frieden oder der sogenannte Wettbewerb im Sozialismus waren Topoi, denen der DDR-Bürger in irgendeiner Variation täglich begegnen musste, und je öfter er die Begriffe hörte, desto mehr nutzten sie sich ab. Die Menschen machten es mit, weil es sein musste, aber es hing ihnen buchstäblich zum Halse heraus. So war es vielen auch möglich, noch am 7. Oktober 1989, dem 40. Gründungstag der DDR, auswendig gelernte Parolen und die Kampflieder des Sozialismus zu schmettern, um selbige nur wenige Tage später emotionslos über Bord zu werfen. Diese Jugend war in der DDR nicht mehr heimisch geworden. Sie verlangte Freiheit, wollte reisen, wollte sich gemäß individueller Fähigkeiten frei entscheiden und entwickeln. Dafür bot die starre Ideologie des Regimes keinerlei Raum. Die DDR, nicht unbedingt der Sozialismus selbst, verlor die Zuneigung der jungen Bürger und ein Staat, der seine Jugend nicht hinter sich zu versammeln weiß, kann keine Zukunft haben.
Partei und Staatsführung propagierten Ideale und Werte des Sozialismus, die Gegner und Befürworter gleichermaßen auf irgendeine Art und Weise verinnerlichten. Dies hatte zur Folge, dass die Menschen zunehmend auf die Widersprüche stießen, die sich zwischen Anspruch und Wirklichkeit auftaten und unweigerlich zu Zweifeln, zunächst weniger am System selbst, zumindest aber an seiner Umsetzung führen mussten. Die Menschen hatten gesehen, dass die Werte, die ihnen propagiert wurden, nur mangelhaft oder gar nicht umgesetzt werden konnten. Zwangsläufig begünstigte dies das Entstehen einer Atmosphäre, in der Mängel am gesellschaftlichen Zustand weniger ideologisch kompensiert, sondern zunehmend verbalisiert wurden. Dennoch führte dieses Räsonnement nicht zwangsläufig zur Ablehnung des Systems. Es zeigte vielmehr, dass sich die Menschen mit den propagierten Idealen und Werten vertraut gemacht hatten und Verbesserungsbedarf sahen.[131]
Eine der Hauptursachen für den Zusammenbruch des Systems war der wirtschaftliche Niedergang, der zugleich ein öffentliches Bewusstsein für den Zustand des Staates herstellte. Not der Bürger förderte die Kommunikation und Gespräche über die teilweise eklatanten Versorgungsengpässe nahmen einen breiten Raum ein.[132] Die zunehmend lauter werdende Kritik war zugleich ein Indikator für das Maß an Unzufriedenheit und eine wachsende Entfremdung zwischen Volk und den so genannten Volksvertretern. „Die SED war überzeugt, man muß dem Menschen nur eine Arbeit und etwas zu essen geben, dann wird er gut.“[133] Doch verlangte das Volk inzwischen mehr als Arbeit und die sprichwörtliche warme Mahlzeit. Die im Gefolge der KSZE-Konferenz von Helsinki aufkommende Atmosphäre der Entspannung lieferte argumentative Hintergründe für neue kritische Strömungen. Eine desolate Wirtschaft, die restriktive Innenpolitik, sowie die großen internationalen Prozesse entlockten den Bürgern der DDR mehr und mehr defätistische Kommentare, Kritiken und Witze, die die Autorität des SED-Regimes zunehmend unterminierten.
Die oppositionelle Geisteshaltung nahm zu, die sich zudem immer öfter von passivem in aktiven Widerstand wandelte. Mitte der achtziger Jahre sollte sich in der DDR eine Demokratisierungsbewegung formieren. Unter dem schützenden Dach der evangelischen Kirche versuchte eine äußerst heterogene Opposition den Frust der Menschen zu kanalisieren. Trotz der Vielstimmigkeit der Bewegung fanden sich in den verschiedenen, teilweise nur in Stichworten formulierten Programmansätzen übereinstimmende Forderungen nach einem Dritten Weg, einer Synthese von Freiheit und Gleichheit. Sie verlangten die schonungslose Bestandsaufnahme der politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Situation der DDR, das Recht auf freie Meinungsäußerung, Rechtsstaatlichkeit und strikte Gewaltenteilung, die Zulassung weiterer Parteien und demokratischer Organisationen, die Herstellung eines breiten öffentlichen Diskurses, auch in den Medien, die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, Spielraum für wirtschaftliche Initiativen von unten, sowie die Kontrolle der Staatssicherheit.[134]
Spätestens mit den freien Wahlen im März 1990 waren diese ersten Bataillone demokratischer Kultur jedoch überflüssig geworden, denn all ihre Forderungen waren sukzessiv erfüllt worden. Anstatt einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit zu vollziehen, wollten sich viele auf einen wenig konkretisierten Dritten Weg einer eigenständigen DDR begeben. Dies verdeutlichte, dass auch die Opposition nur ein Teil der DDR war, der nun das Schicksal des Staates teilen musste. Der Anfang Dezember konstituierte Runde Tisch, eine Art Nebenregierung, war nur mehr institutionalisierte Ohnmacht. Die Bürger interessierten sich immer weniger für ihn. Hinzu kam jetzt, dass jeder der sich nicht eindeutig zu einer schnellen Wiedervereinigung bekannte, von weiten Teilen des Volkes mit Zuneigungsentzug bestraft wurde. Dies galt für Parteien in der Bundesrepublik genauso wie für die Bürgerrechtsgruppierungen der DDR. Für Dritte-Wegs-Konzeptionen oder neosozialistische Experimente waren die Bürger immer weniger empfänglich.[135]
Deutschland stand im Konflikt zwischen Marxismus und Liberalismus, der nicht nur das Land, sondern die ganze Welt teilte, zwischen den Fronten. Die deutsche Frage war nie zufriedenstellend beantwortet worden. Jetzt, im Herbst 1989, stand sie wieder auf der Agenda. Dieses ungelöste Problem war stets die Achillesferse der SED, hatte sie es doch zeitlebens nicht vermocht, den Sozialismus in ganz Deutschland umzusetzen. Folglich war es auch gar nicht möglich, sich umfassend vom anderen, kapitalistischen Teil zu isolieren, denn es entstand eine Konkurrenzsituation zwischen DDR und BRD, in der erstere Legitimität ersuchte, indem sie wieder und wieder aufs Neue vermeintliche Überlegenheit demonstrierte. Da auch die Menschen der DDR diesem Konkurrenzkampf unterlagen, kam es zwangsläufig zu Systemvergleichen, die die Divergenz zwischen Anspruch der Ideologie und der Wirklichkeit im realsozialistischen System verdeutlichte. Derartige Vergleiche förderten jedoch auch die Bindung zwischen den Deutschen in Ost und West, denn sie riefen unterschwellig immer auch die Zusammengehörigkeit ins Gewissen. Dies, im Zusammenspiel mit der ungelösten nationalen Frage, verhinderte, dass die von der Führung per Beschluss verordnete eigene, sozialistische Nationalität im Bewusstsein der Bürger ankam. Dazu wäre eine völlige Ausblendung der gemeinsamen...