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Descartes' Irrtum

Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn

AutorAntonio R. Damasio
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl384 Seiten
ISBN9783843708951
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Eine der Grundannahmen des westlichen Denkens ist die Trennung von Verstand und Gefühl. Antonio R. Damasio beweist anhand seiner bahnbrechenden Forschungsergebnisse, daß ohne Gefühle kein vernünftiges Handeln möglich ist und daß Geist und Körper eine weit engere Einheit bilden, als die Philosophie uns weismachen möchte.

Antonio R. Damasio ist David Dornsife Professor für Neurowissenschaft, Neurologie und Psychologie und Direktor am Brain und Creativity Institute an der University of Southern California. Er wurde vielfach für sein Werk ausgezeichnet, zuletzt mit dem Prince of Asturias Prize für Wissenschaft und Technology. Damasio ist Mitglied der National Academy of Sciences und der American Academy of Arts and Science. Seine sehr erfolgreichen Bücher Descartes' Irrtum, Ich fühle, also bin ich und Der Spinoza-Effekt sind in über dreißig Sprachen übersetzt.

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Leseprobe

Einleitung


Zwar kann ich nicht genau sagen, wie es zu meinem Interesse an den neuronalen Grundlagen der Vernunft kam, aber ich weiß noch genau, wann ich die Überzeugung gewann, daß die traditionellen Auffassungen über das Wesen der Rationalität nicht stimmen könnten. Schon früh hatte man mich gelehrt, daß vernünftige Entscheidungen mit einem kühlen Kopf getroffen werden und daß Gefühle und Vernunft wie Feuer und Wasser sind. Ich bin mit der Vorstellung aufgewachsen, daß sich die Mechanismen der Vernunft in einer eigenen Domäne des Geistes befänden, zu der man dem Gefühl keinen Zutritt gewähren dürfe. Wenn ich an das Gehirn hinter diesem Geist dachte, dann stellte ich mir separate neuronale Systeme für Vernunft und Gefühl vor. Das war eine gängige Auffassung von der Beziehung zwischen Vernunft und Gefühl – sowohl was ihre geistige wie ihre neuronale Struktur anbelangte.

Doch dann hatte ich einen denkbar gelassenen, emotionslosen, intelligenten Menschen vor Augen, und doch war sein praktischer Verstand so beeinträchtigt, daß er in den ganz alltäglichen Situationen seines Lebens eine ununterbrochene Folge von Fehlern beging, ständig dem zuwiderhandelte, was sozial angemessen und persönlich von Vorteil gewesen wäre. Er war geistig vollkommen gesund gewesen, bis ihm eine neurologische Krankheit einen bestimmten Bereich des Gehirns zerstörte und von einem Tag auf den anderen die Prozesse seiner Entscheidungsfindung tiefgreifend störte. Die Instrumente, die im allgemeinen als notwendig und hinreichend für rationales Verhalten gelten, waren intakt geblieben. Wissen, Aufmerksamkeit und Gedächtnis waren nicht beeinträchtigt. Er drückte sich einwandfrei aus, führte komplizierte Rechnungen aus und ging abstrakte Probleme logisch an. Die Störung seiner Entscheidungsfähigkeit wies nur eine einzige auffällige Begleiterscheinung auf: eine deutliche Beeinträchtigung seiner Fähigkeit, Gefühle zu empfinden. Gemeinsam bildeten Vernunftmängel und defektes Gefühlsleben die Folgen einer spezifischen Hirnschädigung, und dieser Zusammenhang brachte mich zu der Annahme, daß das Gefühl ein integraler Bestandteil der Verstandesmechanismen sei. In zwanzig Jahren klinischer und experimenteller Arbeit mit einer großen Zahl neurologischer Patienten hatte ich Gelegenheit, diese Beobachtungen viele Male zu wiederholen und eine vage Vermutung in eine überprüfbare Hypothese zu verwandeln.1

Mit diesem Buch möchte ich darlegen, daß die Vernunft möglicherweise nicht so rein ist, wie die meisten Menschen denken oder wünschen, daß Gefühle und Empfindungen vielleicht keine Eindringlinge im Reich der Vernunft sind, sondern, zu unserem Nach- und Vorteil, in ihre Netze verflochten sein könnten. Weder im Verlauf der Evolution noch in irgendeinem Individuum dürften sich die Strategien der menschlichen Vernunft unabhängig vom bestimmenden Einfluß der biologischen Regulationsmechanismen entwickelt haben, zu deren Ausdrucksformen Gefühl und Empfindung wesentlich gehören. Mehr noch, sogar wenn sich die Vernunftstrategien in den Entwicklungsjahren ausgebildet haben, hängt ihre wirksame Anwendung wahrscheinlich in beträchtlichem Maße von der steten Fähigkeit ab, Gefühle zu empfinden.

Damit will ich nicht in Abrede stellen, daß sich Gefühle und Empfindungen unter bestimmten Umständen verheerend auf Denkprozesse auswirken können. Das entspricht nicht nur der herkömmlichen Auffassung, sondern auch neueren Untersuchungen des normalen Denkprozesses, die gezeigt haben, wie nachteilig sich emotionale Voreingenommenheit auswirken kann. Hingegen ist überraschend und neu, daß das Fehlen von Gefühl und Empfindung nicht weniger schädlich ist, nicht in geringerem Maße dazu angetan, jene Rationalität zu gefährden, der wir unsere spezifisch menschlichen Züge verdanken und die uns ermöglicht, uns mit Rücksicht auf unsere persönliche Zukunft, auf soziale Konventionen und moralische Grundsätze zu entscheiden.

Auch soll das nicht heißen, daß unsere Gefühle, da sie diese positive Wirkung haben, uns unsere Entscheidungen abnähmen oder wir keine vernunftbestimmten Wesen wären. Ich möchte nur zeigen, daß bestimmte Aspekte von Gefühl und Empfindung unentbehrlich für rationales Verhalten sind. Im Idealfall lenken uns Gefühle in die richtige Richtung, führen uns in einem Entscheidungsraum an den Ort, wo wir die Instrumente der Logik am besten nutzen können. Ungewißheit befällt uns, wenn wir vor der Aufgabe stehen, ein moralisches Urteil zu fällen, über die weitere Entwicklung einer persönlichen Beziehung zu entscheiden, die richtigen Maßnahmen zur Altersversorgung auszuwählen oder das vor uns liegende Leben zu planen. Gefühl und Empfindung nebst den verborgenen physiologischen Mechanismen, die ihnen zugrunde liegen, helfen uns bei der einschüchternden Aufgabe, eine ungewisse Zukunft vorherzusagen und unser Handeln entsprechend zu planen.

Nach einer Analyse des Falles von Phineas Gage, der im 19. Jahrhundert großes Aufsehen erregte, weil er zum erstenmal einen Zusammenhang zwischen beeinträchtigter Rationalität und einer spezifischen Hirnschädigung erkennen ließ, wende ich mich neueren Untersuchungen an seinen modernen Leidensgenossen zu und berichte über einschlägige Daten aus neuropsychologischen Forschungsarbeiten an Menschen und Tieren. Im weiteren Verlauf lege ich meine Auffassung dar, daß die menschliche Vernunft nicht von einem Hirnzentrum, sondern von mehreren Gehirnsystemen abhängt und aus dem Zusammenwirken vieler Ebenen neuronaler Organisation erwächst. Sowohl »höhere« wie »niedere« Gehirnzentren – von präfrontalen Rindenabschnitten bis zum Hypothalamus und Hirnstamm – kooperieren zur Herstellung der Vernunft.

Die unteren Stockwerke des neuronalen Vernunftgebäudes steuern zugleich die Verarbeitung von Gefühlen und Empfindungen sowie die Körperfunktionen, die fürs Überleben des Organismus notwendig sind. Dabei unterhalten diese unteren Ebenen eine direkte und wechselseitige Beziehung zu praktisch jedem Körperorgan, so daß der Körper unmittelbar in die Kette jener Vorgänge einbezogen ist, die die höchsten Ausformungen des Denkens* *[Unter Denken (reasoning) ist hier und im folgenden, vor allem in dem häufig vorkommenden Doppelbegriff Denken und Entscheidungsfindung (reasoning and decision making), stets zielgerichtetes, das heißt schlußfolgerndes und urteilendes Denken zu verstehen.
   Der englische Begriff emotion wird durchweg mit Gefühl wiedergegeben, feeling mit Empfindung. (A.d.Ü.)
], der Entscheidungsfindung und im weiteren Sinne des Sozialverhaltens und der Kreativität hervorbringen. Die unteren Organisationsstufen unseres Organismus sind also entscheidend an den höheren Vernunftmechanismen beteiligt.

So machen wir die faszinierende Entdeckung, daß der Schatten unserer entwicklungsgeschichtlichen Vergangenheit noch auf die höchsten und spezifisch menschlichen Ebenen geistiger Aktivität fällt. Allerdings hat Charles Darwin die Essenz dieser Erkenntnis schon vorweggenommen, als er von dem unauslöschlichen Stempel schrieb, den die niederen Ursprünge in der Körpergestalt des Menschen hinterlassen hätten.2 Und doch verwandelt die Abhängigkeit von niederen Gehirnbereichen die höhere Vernunft nicht in niedere Vernunft. Daß das Handeln nach einem ethischen Grundsatz auf die Beteiligung einfacher Schaltkreise im Inneren des Gehirns angewiesen ist, tut dem ethischen Grundsatz keinen Abbruch. Die Wertordnung bricht nicht zusammen, die Moral ist nicht bedroht, und der Wille des Menschen bleibt sein Wille, sofern wir es mit einem normalen Individuum zu tun haben. Allenfalls ändert sich unsere Auffassung vom Beitrag der Biologie zur Entstehung bestimmter ethischer Grundsätze in einem gesellschaftlichen Kontext, in dem viele Individuen mit ähnlicher biologischer Disposition unter bestimmten Bedingungen interagieren.

Empfindungen sind das zweite und zentrale Thema dieses Buches, nur daß ich mir das nicht ausgesucht habe, sondern daß es mir aufgezwungen wurde, als ich versuchte, die kognitiven und neuronalen Mechanismen zu verstehen, die Denken und Entscheidungsfindung zugrunde liegen. So ist also eine zweite Idee des vorliegenden Buches, daß das Wesen einer Empfindung möglicherweise nicht eine schwer faßbare psychische Eigenschaft ist, die einem Objekt zugeschrieben wird, sondern vielmehr die direkte Wahrnehmung einer bestimmten Landschaft: der des Körpers.

Meine Untersuchungen an neurologischen Patienten, bei denen Hirnläsionen die Empfindungsfähigkeit beeinträchtigten, haben mich zu der Überzeugung gebracht, daß Empfindungen gar nicht so schwer greifbar sind, wie ihnen nachgesagt wird. Man kann sie auf der mentalen Ebene dingfest machen und möglicherweise sogar ihr neuonrales Substrat entdecken. In Abweichung vom herrschenden neurobiologischen Denken vertrete ich die Auffassung, daß die Netze, auf denen Empfindungen vor allem beruhen, nicht nur das limbische System umfassen, also jene Gehirnstrukturen, denen man diese Aufgabe traditionell zuschreibt, sondern auch einige präfrontale Rindenabschnitte und, vor allem, jene Hirnbereiche, in denen Signale aus dem Körper kartiert und integriert werden.

Im wesentlichen verstehe ich Empfindungen als Phänomene, die Sie und ich durch ein Fenster betrachten können – ein Fenster, das sich direkt auf ein immer wieder aktualisiertes Bild von der Struktur und dem Zustand unseres Körpers öffnet. Wenn Sie sich den Blick aus diesem Fenster als Landschaft vorstellen, entspricht die »Körperstruktur« dreidimensionalen Objekten im Raum, während der »Körperzustand« dem Licht und dem Schatten, den Bewegungen und den Lauten der Objekte im Raum gleicht....

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