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E-Book

Design im Alltag

Vom Thonetstuhl zum Mikrochip

AutorGert Selle
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2007
Seitenanzahl220 Seiten
ISBN9783593403472
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis20,99 EUR
Der berühmte Caféhaus-Stuhl von Thonet, der Teddybär und der Mikrochip haben etwas gemeinsam: Es sind Alltagsgegenstände, die für ihre jeweilige Zeit ein innovatives, ja, revolutionäres Design repräsentieren.

Gert Selle ist emeritierter Professor für Kunstpädagogik an der Universität Oldenburg. Bei Campus erschien von ihm unter anderem »Die eigenen vier Wände. Zur verborgenen Geschichte des Wohnens« (1993) und »Geschichte des Design in Deutschland« (1994).

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Leseprobe
Bei Hausbau oder Wohnungswechsel sind Küchen heute oft die teuerste Investition. Ob Edelstahllabor oder Eiche massiv, hier wird selten gespart. Wer sich die Mühe machen würde, die Kosten seiner neuen Küche fiktiv auf die darin über die Jahre zubereiteten Mahlzeiten umzulegen, könnte gleich ins Restaurant gehen. Dabei stammt das Grundmuster der Nobelarbeitsstätte aus einer Zeit privater und öffentlicher Armut. Der Sparzwang war Vater aller Einbauküchen. Sie durften nur wenig Platz in den modernen Kleinwohnungen beanspruchen, mussten billig sein und sollten rationelles Wirtschaften ermöglichen. So waren die ersten Küchen dieser Art bis ins kleinste Detail durchdacht, nach dem Muster der MitropaSpeisewagenküche, in der ein akrobatisch begabter Koch an Herd und Spüle auf engstem Raum arbeiten musste. Durchweg praktisch, aber nicht hässlich sollten die Einbauküchen sein. Unser Stück, von der Architektin Grete SchütteLihotzky und ihrem Team 1926 für den Frankfurter sozialen Wohnungsbau entwickelt, kostete 238,50 Reichsmark, was nur im Moment teuer erschien; denn die Anschaffung konnte auch mit einem monatlichen Mietaufschlag von einer Mark abgegolten werden. Das Beispiel zeigt Architektur und Design im Verbund. Ein schlauchartiger Raum von nur 6,5 Quadratmetern musste in vollständiger Ausstattung und allen Einzelheiten bis zu den Schiebetüren der Hängeschränke und den Spezialgriffen der Behälterfront so hergerichtet werden, dass noch genügend Platz für eine einzeln darin arbeitende Person blieb. Da wurde kein Quadratzentimeter verschenkt, kein Arbeitsradius unberechnet gelassen. Das ist die unmittelbar ökonomiebestimmte Qualität des Entwurfs. Seine weniger sichtbare Seite ist die Effizienzsteigerung nach tayloristischem Prinzip. Bisher hatte die Rationalisierung den privaten Küchenraum verschont. Darin zu arbeiten war umständlich und an­ strengend, dafür blieb die Küche aber ein sozialer Ort. Sowohl die proletarische oder bäuerliche Wohnküche als auch die bürgerliche Küche mit Dienstpersonal waren keine reinen Arbeitsplätze. Das ändert sich mit Einführung der Kleinküchen in den sozialen Wohnungsbau, auch nach dem Muster der Frankfurter Küche. Was so entschieden mit neuen Forderungen und Einschränkungen auftritt, ist ein kleiner Raum mit weitem historischen Hintergrund. Er führt über die amerikanische Frauenbewegung bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts auf Catherine Beecher zurück, die schon 1869 zusammen mit Harriet Beecher Stowe ein Buch unter dem Titel The American Woman's Home herausgebracht hatte, in dem sie sich auf die praktischen Schiffsküchen in den damals hochmodernen Dampfern bezog. Ein amerikanischer Frauenkongress anlässlich der Weltausstellung 1893 in Chicago gab den Anstoß zu einer Haushaltsreform, die ihren Rahmen im Home Economic Movement fand, einer Reformbewegung, die auf die fortschreitende Mechanisierung der Haushalte in den USA reagierte. Household Engineering. Scientific Management in the Home, das grundlegende Buch von Christine Frederick, erschien erstmals 1915. Darin stehen Hotelküchen Modell für die Rationalisierung privater Haushaltsführung. Das Buch gab es ab 1922 in deutscher Übersetzung; es darf daher als eine der Quellen für die Entwurfsvorbereitung an der Frankfurter Küche gelten. So steht eine Tradition von Kampagnen zur Erleichterung der Haushaltsarbeit für Frauen, am Ende mit Hilfe wissenschaftsorientierter Methoden des Betriebsmanagements, hinter dieser Küche. Ihr Design entwickelt eine strenge Logik der Anordnung von Funktionszonen und Bewegungsabläufen im Raum. Ein Werbefilm des Frankfurter Hochbauamtes zeigt eine junge Frau in dieser Küche bei allen möglichen Verrichtungen mit typischen Gängen, Gesten und Handgriffen. Man meint, eine Folge von Bewegungsstudien zu sehen, wie sie Frank B. Gilbreth, in amerikanischen Fabriken forschend, angelegt hatte. Betritt man heute eine der noch im Originalzustand befindlichen Küchen, stellt man (sofern nicht vom gegenwärtigen Koch und Küchenkult geblendet) spontan fest: Das ist eine sehr praktische, wenn auch schlicht eingerichtete SingleKüche. Es ist alles da, was man braucht, auf Armreichweite oder wenige Schritte, auf knappe Wendungen oder Drehungen des Körpers berechnet. Aber es ist eine reine Arbeitsküche. Man könnte darin nicht einmal zu zweit frühstücken. Das Modell Wohnküche scheint ein für allemal erledigt, von der einstigen sozialen Wärme des Ortes ist kaum etwas zu spüren. Mann geht außer Haus auf Arbeit, Frau vielleicht auch, hat aber die Kinder am Hals. Also besorgen sich die Planer in Frankfurt eine erfahrene Architektin, die dieser doppelt belasteten Frau eine zeit und arbeitssparende Küche entwerfen soll. Grete SchütteLihotzky ist dafür qualifiziert. In Wien als junge Architektin unter der Leitung von Adolf Loos an Siedlungsprojekten beteiligt und schon als KüchenDesignerin tätig, steht sie in Frankfurt ab 1925 einem Planungsteam vor, das Küchen dieser Art als festen Bestandteil der neuen kommunalen Wohnungsbauprojekte zu entwickeln hat. Was hier entsteht, ist nicht nur gegen die herrschende Wohnungsnot gerichtet. Es soll damit auch eine beispielhafte neue Form des städtischen Wohnens entstehen. Doch bleiben insgesamt nicht mehr als fünf Jahre für das Gelingen, bis die Weltwirtschaftskrise, in deren Strudel die Republik gerät, eine Fortsetzung des großen Projekts unmöglich macht, obwohl lange vor dem Ende die abenteuerlichsten Finanzierungsmöglichkeiten diskutiert werden. Die Stadt Frankfurt findet keinen Ausweg aus der Krise, nach 1930 geht nichts mehr. Die Frankfurter Küche, in die Sozialbauten integriert, gilt heute als ein Paradebeispiel der Balance von Ökonomie und Ästhetik und als eine Art praktische Grundsatzerklärung des sozialen Neuen Bauens, flankiert von Inneneinrichtungen und Kleinmöbeln betont schlichter Art, wie Franz Schuster und Ferdinand Kramer sie für die Frankfurter Siedlungsprojekte entwarfen. Dass die Küche des LihotzkyTeams als Teil der Struktur des Ganzen zu verstehen ist, wird daran erkennbar, dass sie in das projektverbindliche »Frankfurter Normenblatt« aufgenommen wurde, das für eine Standardisierung aller Fertigbauteile für die Häuser sorgte. Aber dieser kleine Küchenraum gerät auch zur Einfallspforte der Rationalisierung in die Intimsphäre des Wohnens. Noch heute werden solche Versuche erfolgreich abgewehrt. Erst recht mussten Mietinteressierte damals vom Sinn und der Schönheit der neuen Siedlungsbauten und Innenräume überzeugt werden. Sobald Ernst May, der planungsverantwortliche Baudezernent, bei seinen öffentlichen Aufklärungsversuchen davon sprach, dass man nun keine Tischtücher mehr brauche, weil abwaschbare Milchglasplatten für das ganze Leben genügten, randalierte das Publikum. Das Wohnen in den Siedlungen bedurfte einer Eingewöhnungsphase.
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