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E-Book

Deutsche Musik

AutorFriederike Wißmann
VerlagBerlin Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl384 Seiten
ISBN9783827077189
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Friederike Wißmann lässt die große Tradition von Bach bis Stockhausen lebendig werden. Volkslied, Schlager und Tanzmusik finden ebenso Berücksichtigung wie Nationalhymnen, Fußballgesänge, deutsche Filmmusik in Hollywood oder Punk, Rock und Techno. Die renommierte Musikwissenschaftlerin legt eine große Mentalitätsgeschichte der Deutschen und ihrer Musik vor. Sie widmet sich nicht nur Werken und Lebenswegen deutscher Komponisten und Musiker, sondern erzählt die Geschichte vom bürgerlichen Konzert über den Wandel der musikalischen Formen bis zur Bedeutung deutscher Musikvereine, von der Entstehung der Orchester über den Instrumentenbau bis zur Geschichte des Musiktheaters, vom größten Heavy-Metal-Festival Wacken über die TV-Castingshows bis hin zu den Kuriositäten des deutschen Schlagers. Ob himmlisch oder käuflich, ob widerständig oder diktiert, ob gesellig, hymnisch oder komisch - Friederike Wißmann entwirft ein einzigartiges, facettenreiches und kluges Panorama des deutschen Klangs.

Friederike Wißmann, 1973 in Münster geboren, vertritt den Lehrstuhl für Historische Musikwissenschaft an der Universität Bonn. Bis Frühjahr 2015 war sie Professorin am Konservatorium Wien sowie von 2011 bis 2013 an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Dem Studium der Musikwissenschaft und der Literaturwissenschaft in Berlin folgten 2002 die Promotion zu 'Faust im Musiktheater des 20. Jahrhunderts' und 2009 die Habilitation zu Händels Opern. Von 2002 bis 2010 war sie Assistentin an der Technischen Universität Berlin und von 1998 bis 2002 Mitarbeiterin der Hanns-Eisler-Gesamtausgabe. Sie forscht zu den Themen Musik und Literatur, Musik des 20. und 21. Jahrhunderts, Musiktheater und Künstevergleich. Zu Hanns Eisler schrieb sie ein hochgelobtes Buch, das ein breites Echo fand.

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Leseprobe

HIMMLISCH

Martin Luther hat nicht nur Kirchengeschichte geschrieben, sondern auch den Diskurs um die Bedeutung der Musik nachhaltig beeinflusst. Während im römisch-katholischen Kontext Gottes Wort einer religiösen Elite vorbehalten sein sollte, brachte Luther die Bibel in seiner Muttersprache in die Gemeinde. Er zog die deutsche Sprache der Gelehrtensprache vor und begründete so im kirchlichen Raum eine nationale Bewegung.1 Für das komplexe Thema der nationalen Identität ist ein wichtiger Aspekt, dass der innertheologische Streit unter Martin Luther zur »Sache der Deutschen«2 wurde. Luther sah als Konsequenz seiner Haltung nicht nur die Notwendigkeit der Bibelübersetzung, er befasste sich auch mit der geistlichen Musik, die den Menschen, ebenso wie das Latein, fremd erscheinen musste. Er kam zu dem Schluss: »Es muß beide, Text und Noten, Accent, Weise und Geberde aus rechter Muttersprache und Stimme kommen; sonst ist Alles ein Nachahmen wie die Affen thun.«3 Was aus Luthers Zeilen spricht, ist die Forderung nach einer Musik, die der Muttersprache äquivalent ist.4 Die vorhandenen lateinischen Gesänge sollten übersetzt und die Noten den deutschen Texten im Klang und Metrum angeglichen werden. Deshalb steht Luther in gewisser Hinsicht am Anfang der Frage nach einer deutschen Musik.

Der Komponist Felix Mendelssohn Bartholdy schuf Martin Luther etwa 300 Jahre später mit seiner fünften Symphonie ein musikalisches Denkmal. Bekannt wurde sie als ›Reformations-Symphonie‹, weil Mendelssohn im vierten Satz den Luther-Choral Ein feste Burg ist unser Gott verarbeitete. Mendelssohn und Martin Luther teilen eine Affinität zur deutschen Sprache, denn beide haben sich in ihrem jeweiligen Liedschaffen einfühlsam mit möglichen Textvertonungen auseinandergesetzt. Mendelssohn verehrte die Lieder Luthers so sehr, dass er sie sogar auf Reisen im Gepäck hatte. Aus Italien schreibt er: »Wie da jedes Wort nach Musik ruft, wie jede Strophe ein anderes Stück ist, wie überall ein Fortschritt, eine Bewegung, ein Wachsen sich findet, das ist gar zu herrlich und ich komponierte hier mitten in Rom [sic!] sehr fleißig daran.«5

Goethe schätzte Mendelssohn als Interpreten wie als Komponisten, vielleicht auch, weil dieser in seinen Liedkompositionen keinen Zweifel an der Vormachtstellung des Wortes aufkommen ließ. Der Komponist und Musikpädagoge Carl Friedrich Zelter hatte Goethe und Mendelssohn bekannt gemacht. Er stellte den Zwölfjährigen als »munter[en] Knabe[n]«6 vor und versicherte Goethe, dass dieser zwar ein »Judensohn«, aber kein Jude im eigentlichen Sinne sei.7 Eben dieser gesellschaftlich anerkannte Antisemitismus führte dazu, dass die Familie Mendelssohn 1816 zum Protestantismus konvertierte und den Beinamen Bartholdy annahm.

LUTHERS LIEDER

»MUTTERSPRACHEN«

Luther missbilligte das auf der Unmündigkeit der Gemeinde basierende Kirchensystem, das unmissverständlich zwischen dem Klerus und den Laien unterschied.8 Sein Engagement hinsichtlich des Gemeindegesangs ist für die Geschichte der deutschen Musik von zentraler Bedeutung. Die Musik sah Luther als eine Möglichkeit der Versöhnung der menschlichen Seele, ja er attestierte ihr sogar eine kathartische und friedensstiftende Wirkung. Für wie weitreichend Luther ihre positive Wirkung erachtete, sieht man an seiner Forderung: »Könige, Fürsten und Herren müssen die Musica erhalten«.9 Für Luther war die Musik eine »Lebens- und Ordnungsmacht«.10

Luthers kirchenkritische Reformen waren ein Frontalangriff auf die römisch-katholische Kurie, die er in charakteristischer Unmissverständlichkeit kritisierte:

Da ist ein Kaufen, Verkaufen, Wechseln, Tauschen, Rauschen, Lügen, Betrügen, Rauben, Stehlen, Prunken, Hurerei, Gaunerei, auf allerlei Weise Gottesverachtung, dass es dem Antichrist nicht möglich ist, lasterhafter zu regieren.11

Seine Polemiken gegen Rom betrafen die Unterdrückung und Ausbeutung der Menschen, genauer: der Deutschen, denn Luther verband in seiner Kritik am Ablasshandel nationalpolitische und religiöse Vorstellungen.12 Seine Distanzierung von Rom führte ihn zur Besinnung auf den eigenen Sprachraum, wodurch die Interessengemeinschaft der deutschen Christen einen starken Aufwind erhielt. Luther, der aus Eisleben (heute in Sachsen-Anhalt) stammte, sah sich als »deutscher Christ«. Im Frühjahr 1501 hatte Luther sein Studium an der Universität Erfurt begonnen. Noch vor seinem Theologiestudium schrieb er sich in die artistische Fakultät ein, wo er in den septem artes liberales, also Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Astronomie und auch Musik unterrichtet wurde. Als Magister Artium hatte er musikalische Grundkenntnisse erworben, aber keine fundierte Kompositionsausbildung erhalten.

Da Luther Theologe und nicht Komponist war, suchte er in seinem musikalischen Vorhaben, nicht nur die Texte, sondern auch die Musik ins Deutsche zu übersetzen, Rat bei zeitgenössischen Musikern. Zur Seite standen Luther der kurfürstliche Sangmeister Konrad Rupff sowie der Kantor Johann Walter, der das erste evangelische Chorgesangbuch herausgab.13 Luthers Interesse galt nicht in erster Linie den Musiktheorien, sondern er fragte nach dem praktischen Gebrauchswert. Eine gedankliche Wende ist Luthers Auffassung vom Nutzen der Musik deshalb, weil er »halb naiv, halb charismatisch«14 Musik per se als Gotteslob sah. Mittelalterliche Musiktheorien sind Luthers Verständnis noch implizit, gleichwohl erkennt man in seiner Einschätzung auch einen neuzeitlichen Geist. Für Luther war die Musik nicht selbstverständlicher Teil der Künste, sondern er stellte sie in die Nähe der Theologie. Gegenüber dem zeitgenössischen Komponisten Ludwig Senfl betonte er, dass »nach der Theologie keine Kunst sei, die mit der Musik könne verglichen werden, weil allein dieselbe nach der Theologie solches vermag, was nur die Theologie sonst verschafft, nämlich die Ruhe und ein fröhliches Gemüth«.15 Luther schrieb dies nicht nur, weil der Adressat seines Briefes Musiker war.

Ganz undifferenziert war seine Sicht auf die Musik schon darum nicht, weil er die Musik im Gottesdienst von einer im häuslichen Kontext praktizierten Musik zur Erbauung unterschied. In Hinblick auf ihre moralische Wertigkeit indes beschrieb Luther jede Musik in ihren unterschiedlichen Verwendungszusammenhängen als unverzichtbar zur Formung der menschlichen Seele. Luther wusste um die große affektive Wirkungsmacht der Musik, und er ging so weit, zu behaupten, dass erst die »Noten den Text lebendig [machen]«.16 Er setzte in Bezug auf die religiöse Praxis nicht nur auf einen deutschen Text, sondern auch auf das Selbstbewusstsein, das Ausdruck findet in der Erhebung der Stimme, am besten im Gesang. Doch was heißt es für die Musik, wenn Luther fordert, dass sie quasi eingedeutscht werden solle?

Was Luther als musikalische ›Muttersprache‹ verstand, lässt sich am besten von den Liedern ableiten, die er selbst geschrieben hat. Aus Luthers Hand entstanden unterschiedlichste Kompositionen, darunter Hymnenbearbeitungen, liturgische Gesänge, Psalmlieder und natürlich die viel gesungenen Katechismuslieder. Zahlreich finden sich in seinen Liedschöpfungen Anleihen an Volks- oder Weihnachtslieder, aber auch an Studenten- und andere Geselligkeitslieder. Ein Charakteristikum der Luther’schen Lieder ist ihre Sanglichkeit. Er gestaltete zahlreiche Melodien um, und in manchen Fällen komponierte er die Lieder auch neu. Wieder andere Lieder wurden »gebessert«, was heißt, dass Luther die auf lateinische Texte komponierten Melodien den Hebungen und Senkungen der deutschen Sprache anpasste.

Überliefert sind von Luther etwa 36 Lieder,17 doch wird die Autorschaft der Luther zugeschriebenen Kompositionen kontrovers diskutiert. Die Urheberschaft auszumachen fällt deshalb nicht leicht, weil Luthers Lieder nicht immer als Originalkomposition entstanden sind, sondern oft Bearbeitungen sind. Häufig benutzte er vorhandene Melodien und unterlegte andere Texte, was mit dem Begriff der Kontrafaktur beschrieben ist. Das von ihm verwandte Verfahren ist nicht neu; neu ist das Ausmaß und die weitreichende Praxis und Verbreitung, denn Luther sorgte durch seine Textierungen für eine erhebliche Repertoireerweiterung. Wie weit Luthers Engagement reicht, wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass die Lieder Luthers tatsächlich noch heute den »Stamm des zentralen evangelischen Liedguts«18 bilden.

MYTHOS MARTIN LUTHER

Die Grundlage für Luthers Reform ist nicht nur die Gemeinschaft, sondern das selbstbewusste Individuum.19 An der Haltung, die aus den berühmten Worten »Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen«, zum Ausdruck kommt, ist wesentlich, dass Luther sich in seiner mutigen Absage an die katholische Hierarchie als Individuum verstand.20 Anzumerken ist an dieser Stelle, dass Luther im Disput mit Rom zahlreiche Kritiken äußerte. Dass ausgerechnet diese Worte zum berühmtesten Luther-Satz wurden, verrät vielleicht weniger über Luther selbst als über dessen Rezeption in Deutschland, die in der Folge mehr und mehr zum Heldenepos geriet. Zu diesem Befund gelangt man zunächst durch die Tatsache, dass sich keine Quellen ausmachen lassen, die Luthers heroischen Satz belegen. Urkundlich überliefert ist, dass sich der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise für Luther einsetzte, denn er schuf die Voraussetzung dafür, dass Luther sich vor dem Reichstag gegen die Häresie-Vorwürfe verteidigen durfte. Unzweifelhaft nachgewiesen ist, dass Luther am 17. April 1521 vor dem Reichstag zu Worms...

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