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E-Book

Deutschland auf der Couch

Eine Gesellschaft zwischen Stillstand und Leidenschaft

AutorStephan Grünewald
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2006
Seitenanzahl234 Seiten
ISBN9783593401973
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Was kommt dabei heraus, wenn man tausende Deutsche auf die Couch legt und sie nach ihren Wünschen, Hoffnungen und Ängsten befragt? Eine aufschlussreiche Gesellschaftsanalyse und ein Aufruf zur Veränderung.

Stephan Grünewald ist Mitbegründer und Geschäftsführer des rheingold-Instituts für Kultur-, Markt- und Medienforschung. Der Diplom-Psychologe ist ausgebildeter Psychotherapeut. In Fernsehen, Presse und Wirtschaft ist er ein gefragter Experte. Seit zwei Jahrzehnten erforscht der Autor zentrale Entwicklungen in Gesellschaft und Kultur und veröffentlichte zahlreiche Fachbeiträge zu den Themen Lebensalltag, Trends, Medienwirkung und Jugendkultur.

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Leseprobe
Einleitung Leben wie im Hamsterrad - eine Gesellschaft in überdrehter Erstarrung Politiker, Ökonomen und Soziologen haben sich in der jüngsten Vergangenheit intensiv Gedanken gemacht, wie der Zustand Deutschlands zu beschreiben ist. Im Gespräch sind dabei die schwindende Bevölkerungszahl, die ökonomische Krise, die globalen Kräfteverschiebungen und die Bedrohungen, die davon für unser Land ausgehen. Selten geraten die Menschen ins Blickfeld. Man stellt lediglich fest, dass sie gerne jammern, verunsichert sind, zu wenig Initiative zeigen, die Lage zu verändern - das ist ärgerlich, aber auch wenig verwunderlich angesichts der oben beschriebenen großen gesellschaftlichen Herausforderungen. Jeder einzelne weiß allerdings, dass damit nur ein Teil der Erklärung geliefert ist für dieses Unbehagen, das wir tagtäglich empfinden - für dieses Gefühl, rastlos dem Glück und den Anforderungen des Lebens hinterherzujagen und gleichzeitig nicht vom Fleck zu kommen. Die Welt dreht sich scheinbar immer schneller und dabei eröffnen sich immer mehr Schauplätze, neue Aufgaben und Anforderungen entstehen, denen man gleichzeitig gerecht werden muss. Wie in einem Hamsterrad: Man plagt sich Tag für Tag ab, fühlt sich immer atemloser und spürt dann irgendwann entgeistert, dass man sich nur im Kreis gedreht hat. Die gesamte Gesellschaft und nicht nur der Einzelne ist in den letzten Jahren in einen Zustand überdrehter Erstarrung geraten. Auch der erwartungsvolle Blick auf die Politik führt nicht aus dieser Lage heraus. Die Politiker, ganz gleich welcher Partei, liefern weder eine entschiedene Richtungsbestimmung, noch eine klare Zukunftsvision. Jeden Sonntgabend kann man in der Polit-Talkshow Sabine Christiansen einen Tatort rotierender Richtungssuche und ständiger Schuldverschiebung besichtigen: Schuld sind mal die starren Gewerkschafter, mal die raffgierigen Vorstände, mal die wankelmütigen Menschen, mal die privilegierten Beamten. Die Kritik am ungebremsten Kapitalismus findet ebenso Beifall wie die Kritik an der Kapitalismuskritik. Dabei entsteht zwar Bewegung - wie beim Schunkeln mal nach links, mal nach rechts - , jedoch ohne wirklich von der zu Stelle kommen. Und viele schauen diesem Treiben Woche für Woche zu und hoffen insgeheim: Beim nächsten Ruck nach links oder rechts, spätestens beim nächsten Regierungswechsel, wird alles besser. Was ist das für eine Gesellschaft, die solch eine überdrehte Form des Stillstandes erzeugt? Wieso entwickeln die Jugendlichen keine revolutionären Zukunftsutopien mehr? Warum ist der Generationenkonflikt und damit der Motor gesellschaftlicher Weiterentwicklungen abgewürgt? Woran liegt es, dass in Deutschland seit Jahren Reformanstrengungen scheitern? Wieso fühlen sich die Menschen trotz dieses gesellschaftlichen Tatenstaus so ausgelaugt und erschöpft? Diese Fragen lassen sich nur durch einen längst überfälligen Perspektivwechsel in der gesellschaftlichen Selbstreflexion beantworten. Ein wirkliches Umdenken und ein neues Handeln können nur in Gang kommen, wenn man die psychologische Dimension unserer mitunter widersprüchlichen Ängste und Verhaltensweisen in den Blick rückt. Der psychologische Blick Als Psychologe, der seit zwei Jahrzehnten den Zustand unserer Kultur erforscht, erscheinen mir viele der bisherigen Betrachtungen über die Reforunwilligkeit unserer Gesellschaft als zu kurz gegriffen. Denn sie analysieren nicht konsequent die seelischen Bedingungen, die den gesellschaftlichen Stillstand produzieren. Erst eine tiefgreifende Analyse der psychologischen Verfassung unserer Gesellschaft schafft die Voraussetzung für einen Aufbruch aus dem derzeitigen Tatenstau. Dieses Buch soll durch den psychologischen Blick auf unsere Lebenswirklichkeit ein vertiefendes Verständnis der seelischen Mechanismen eröffnen, die nicht nur den Einzelnen, sondern die ganze Gesellschaft lahmlegen. Ich stütze mich dabei auf über 20 000 psychologische Tiefeninterviews, die das rheingold-Institut im Rahmen seiner Kultur-, Markt- und Medienforschung in den letzten Jahren durchgeführt hat. In Studien für Verlage, Fernsehsender, für die Industrie und für öffentliche Träger geht das Institut den psychologischen und oft unbewussten Hintergründen des Verhaltens von Zuschauern, Lesern, Wählern oder Verbrauchern nach. rheingold untersucht dabei die Lebenswirklichkeit der heutigen Jugendlichen, das Selbstbild der Männer und der Frauen in unserer Gesellschaft oder die seelischen Probleme, die mit dem Älterwerden und dem Übergang ins Seniorenalter verbunden sind. Die vielfältigen Auftragsstudien zum generellen Konsum-, Ernährungs- oder Medienverhalten der Bevölkerung habe ich ebenso in das Buch einbezogen, wie die regelmäßigen Studien zur Entwicklung des Kulturklimas rund um die Jahrtausendwende, die rheingold in Eigenregie durchführt und selbst finanziert. Der psychologische Blick erfordert in der Forschung einen unkonventionellen, das heißt intensiveren, teilnahmsvolleren und tieferen Zugang zu den Sehnsüchten und Ängsten, die unseren Alltag bewegen. Konventionelle Forschungsinstrumente wie Fragebögen oder standardisierte Interviews leisten diesen Zugang zum Menschen nicht. Sie sind Teil der gesellschaftlichen Stilllegung. Sie pressen den Menschen in vorgegebene Fragen und Antwortkategorien. Sie dienen dazu, möglichst schnell und effizient Meinungen oder Präferenzen in harten, aber nackten Zahlen auszudrücken. Dadurch beschränken sie aber den lebendigen Ausdrucksspielraum der Menschen. Das wirkliche Leben ist nicht so klar, eindimensional und glatt, wie es die Daten und Statistiken suggerieren. Es ist vielmehr bestimmt durch Widersprüche, durch Übergänge und Zwischentöne, und durch paradoxe Verhältnisse. Wenn wir bei rheingold sagen, dass wir die Menschen 'auf die Couch legen', steht das für einen anderen Weg, die Menschen in Deutschland zu verstehen: Ein Psychologe nimmt sich mindestens zwei Stunden Zeit für ein Tiefeninterview und tritt mit dem Befragten eine gemeinsame 'Forschungsreise' an, bei der auch die peinlichen, unerwünschten oder unbewussten Wirkungskräfte beleuchtet werden, die unser Leben mitbestimmen. Dabei sitzen die Beteiligten zwar, aber es eröffnet sich wie beim Psychoanalytiker ein vertrauensvoller Raum, in dem die Menschen unzensiert alles zur Sprache bringen können, was sie bewegt und was ihnen zum jeweiligen Thema einfällt. Anfangs bewegen sich diese Einfälle natürlich immer auf einer eher oberflächlichen und rationalisierenden Ebene: Man präferiert eine Partei oder eine Marke aus Tradition oder weil sie den persönlichen Geschmack trifft. Man hat keine Probleme mit seiner Rolle als Mann, da man ja ein ganz normaler Mensch ist. Man putzt die Wohnung, weil man Wert auf Hygiene legt. Diese Ebene einfacher und sozial erwünschter Erklärungen lässt sich nur aufheben, an dem die Menschen immer wieder motiviert werden, ausführlich und minutiös ihren konkreten Lebensalltag zu beschreiben: Was war das für ein Tag, an dem man wie wild die Wohnung geputzt hat? Welche Bilder oder Stimmungen verbindet man mit einer Marke oder einer Partei? Wie sah die letzte Situation aus, in der man als Mann um eine Frau geworben hat? Der Psychologe übernimmt dabei den oft anstrengenden Part der Reiseleitung. Er hakt nicht einfach die Antwort ab, sondern er bewegt sich mit und lässt sich auf die oft dramatischen Schicksalswendungen oder befremdenden Alltagsprobleme ein, die im Interview ausgebreitet werden. Gleichzeitig versucht er von seinem psychologischen Konzept1 her, den Prozess des Interviews so zu intensivieren, dass die verdeckten Widersprüche und Spannungen zur Sprache kommen. Neben den konkreten Erzählungen achtet er dabei auch auf die Atmosphäre im Interview, auf die Gesprächsdynamik, auf Mimik oder Fehlleistungen. Das ermöglicht ihm, die geheime Logik und den tieferen Sinnzusammenhang besser hervorzuheben, der zwischen den Zeilen anklingt und mitschwingt. Ein gutes und produktives Tiefeninterview zeichnet sich dadurch aus, dass sich der Psychologe anschließend ein anschauliches Bild vom Alltag seines Interviewpartners machen kann - ein Bild, das man beinahe riechen, schmecken und tasten kann und das die oft komischen und verrückten Abgründe des Alltags verstehbar macht. Der Interviewte wiederum hat nach einem guten Interview das verblüffende Gefühl, sich selbst auf die Schliche gekommen zu sein und das eigene Verhalten besser zu verstehen. In den zahlreichen Interviews, die meine Kollegen und ich in den letzten Jahren durchgeführt und analysiert haben, verdichten sich immer wieder zwei Erkenntnisse. Erstens: Erstaunlich viele Menschen kämpfen derzeit mit ähnlichen Grundproblemen. Egal ob Manager, Politiker, Arbeitnehmer, Mütter oder Studenten: Verschiedenste gesellschaftliche Gruppen beschreiben ein ähnliches Gefühl lähmender Orientierungslosigkeit, sprechen von diffusen Zwängen oder Zuständen hektischer Betriebsamkeit. Es macht daher auch wenig Sinn, bestimmte gesellschaftliche Gruppen als Symptomträger zu stigmatisieren oder sie zum Hauptschuldigen an der gesellschaftlichen Misere zu erklären. Ich betrachte die beschriebenen gesellschaftlichen Phänomene vielmehr als Ausdruck eines kollektiven, übergreifenden Wirkungszusammenhangs. Ganz wichtig dabei: Der Zustand der überdrehten Erstarrung, der aus psychologischer Sicht durchaus als eine gesellschaftliche Neurose verstanden werden kann, ist nicht wie eine Plage oder Krankheit über unsere Gesellschaft hereingebrochen. Wir haben ihn vielmehr - ohne es zu wissen und wirklich zu wollen - aktiv herbeigeführt. Wir haben uns im Laufe mehrerer Jahrzehnte und vor allem seit Beginn der neunziger Jahre systematisch stillgelegt und vom wirklichen Leben entfremdet. Diesen Verlust spüren wir jetzt deutlich und schmerzhaft.
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