Die Urnenfelder-Kultur
D ie Urnenfelder-Kultur gilt in Europa als eine der wichtigsten Kulturen der Spätbronzezeit. Sie bestand von etwa 1300/1200 bis 800 v. Chr. und vermochte sich vom nördlichen Balkan über die Donauländer bis zur Oberrheinregion auszubreiten. In Deutschland war sie in Baden-Württemberg, in Bayern, im Saarland, in Rheinland-Pfalz, in Hessen, in Teilen Nordrhein-Westfalens (Niederrheinische Bucht) und südlich des Thüringer Waldes heimisch.
Der Begriff »Urnenfelder-Kultur« fußt darauf, dass damals die Toten auf Scheiterhaufen verbrannt und danach häufig ihre Asche beziehungsweise Knochenreste in tönerne Urnen geschüttet und in Brandgräbern beigesetzt wurden. Gelegentlich bilden die Brandgräber ausgedehnte Urnenfelder mit Dutzenden oder Hunderten von Bestattungen. Als erster formulierte 1885 der Direktor der Großherzoglichen Sammlungen in Karlsruhe, Ernst Wagner (1832-1920), die Bezeichnung »Urnen-Friedhöfe«. Seine Publikation »Hügelgräber und Urnen-Friedhöfe in Baden« wurde 1886 durch den Königsberger Prä- historiker Otto Tischler (1843-1891) in der »Westdeutschen Zeitschrift« kommentiert. Dabei sprach Tischler von »Urnenfeldern der Bronzezeit«.
Der Königsberger Prähistoriker Otto Tischler (1843-1891) sprach 1886 in einem Beitrag, in dem er die 1885 erschienene Publikation »Hügelgräber und Urnenfriedhöfe in Baden« kommentierte, von »Urnenfeldern der Bronzezeit« .
Nach Ansicht der meisten Prähistoriker war die Urnen- ein unruhiger Abschnitt der Urgeschichte. Damals setzten vermutlich in vielen Gebieten Europas große Völkerwanderungen ein, die vielleicht im mittleren Donauraum ihren Ausgang nahmen. Sie erreichten wahrscheinlich nicht nur Süddeutschland, sondern auch den Balkan und die östliche Mittelmeerregion. Sogar die Ägypter mußten sich der Eindringlinge mit Waffengewalt erwehren. Ihre Ursache hatten die großen Wanderungen der Unruhestifter womöglich in einer erheblichen Bevölkerungszunahme, deren Folgen durch ein ungünstiges trockenes Klima verstärkt wurden. Ein weiteres Motiv könnte das Interesse von Anführern der betroffenen Gemeinschaften an Kriegszügen gewesen sein, die bei erfolgreichem Verlauf sowohl Beute als auch Ansehen mehrten. Diese Kriegszüge nun bewirkten vermutlich Ausweichbewegungen jener Stämme, in deren Gebiete die Eroberer zuerst eindrangen. Es gab aber auch Experten, die derartige Wanderungen bezweifelten. Der Freiburger Prähistoriker Georg Kraft (1894-1944) beispielsweise schloss 1927 nach der Untersuchung süddeutscher Urnenfelder aus, dass eine große Kulturbewegung von Osten nach Westen stattgefunden habe. Im Gegensatz dazu vertrat 1938 der österreichische Prähistoriker Richard Pittioni (1906- 1985) die Ansicht, in der Lausitz zwischen Sachsen, Brandenburg und Schlesien habe im 13. Jahrhundert v. Chr. eine große Abwanderung eingesetzt. Aus der Begegnung der wandernden Gruppen mit den älteren einheimischen Kulturen in verschiedenen Teilen
Europas seien als Folge lokale Urnenfelder-Gruppen entstanden, die sich im 12. und 11. Jahrhundert v. Chr. über fast den gesamten Kontinent verbreitet hätten.
Angesichts bestimmter Gemeinsamkeiten bei den archäologischen Funden - etwa immer wiederkehrender ähnlicher Gefäßtypen - meinte Pittioni auch, alle Urnenfelder-Gruppen hätten einer Gemeinschaft mit derselben Sprache angehört. Er nahm an, dass die Urnenfelder-Kultur mit einer konkreten Einzelsprache, nämlich dem Illyrischen, in Verbindung gebracht werden könne, und sprach in diesem Zusammenhang von so genannten Proto-Illyrern. Laut Pittioni waren die Urnenfelder-Leute Alteuropäer, die weite Teile Europas in Besitz nahmen.
Der Tübinger Prähistoriker Wolfgang Kimmig bestritt 1964, dass die einzelnen Urnenfelder-Gruppen einem Volk angehört hätten. Nur die östlichen Gruppen ließen sich dem illyrischen Volkstum zuordnen. Wie Pittioni befürwortete auch Kimmig die Theorie der Wanderungen, die neben Kulturkontakten und einem Kulturaustausch mit verschiedensten gegenseitigen Beeinflussungen für die Ausbreitung der Urnenfelder-Kultur verantwortlich seien.
Nach Auffassung Kimmigs führten die Wanderungen der Urnenfelder-Leute über Griechenland, die ägäischen Inseln bis nach Syrien, Palästina und Ägypten. Demzufolge wären europäische Fremdlinge in den Mittelmeerraum eingedrungen und hätten dort ähnliche Unruhen ausgelöst wie in Mitteleuropa, Italien, Frankreich, Spanien und sogar England.
Für Süddeutschland und das Ostalpengebiet werden die 1902 durch den damals in Mainz arbeitenden Prähistoriker Paul Reinecke (1872-1958) eingeführten Stufenbezeichnungen Bronzezeit D, Hallstatt A und Hallstatt B verwendet. Davon umfasst Hallstatt A zwei Unterstufen (Ha A 1, Ha A 2), Hallstatt B dagegen drei Unterstufen (Ha B 1, Ha B 2, Ha B 3). Die Einteilung der Stufen und Unterstufen basiert auf bestimmten Bronzeobjekten und ihrem Formenwandel (Schwerter, Dolche, Messer, Rasiermesser, Nadeln, Fibeln, Armringe, Tassen) sowie Tongefäßen. Die zahlreichen kennzeichnenden Formen dieser Stufen und Unterstufen wurden 1959 durch bis dahin in München tätigen Prähistoriker Hermann Müller-Karpe beschrieben. Eine genaue Auflistung all jener Objekte ist in einem populärwissenschaftlichen Buch wie diesem nicht möglich.
Nach neuesten Überlegungen wird heute die Urnenfelder-Kultur dreigegliedert. 1 Die erste Stufe entspricht der späten Hügelgräber-Bronzezeit (Bronzezeit D) und der frühen Urnenfelder-Zeit (Hallstatt A 1). Die zweite Stufe umfasst die mittlere Urnenfelder-Zeit (Hallstatt A 2 bis B 1) und die dritte Stufe die späte Urnenfelder-Zeit (Hallstatt B 2/3).
Klimatisch gesehen herrschte während der Urnenfelder-Zeit eine Trockenphase. Gegen Ende dieser Zeit um 800 v. Chr. ereignete sich ein Klimasturz, der mit hö- heren Niederschlagsmengen verbunden war. Dies hatte zur Folge, dass der Wasserspiegel der Seen anstieg und die Seeufersiedlungen (»Pfahlbauten«) in Süddeutschland aufgegeben werden mussten.
Die archäologischen Funde deuten darauf hin, dass wohl mächtige Häuptlinge, »Fürsten« und Priester das Sagen hatten. Denn nur so sind der arbeits- und zeitaufwendige Bau von befestigten Höhensiedlungen (»Burgen«) sowie die kultisch motivierten Sach-, Tier-und Menschenopfer zu erklären. Neben Einzelbegräbnissen bedeutender Persönlichkeiten in eindrucksvollen Gräbern und mit reichen Beigaben (Wagengräber, s. S. 74) gab es Friedhöfe mit Hunderten von gleichartigen Brandgräbern. Welche Körpergröße die damaligen Männer erlangen konnten, wird an dem unverbrannten Skelett eines Mannes aus dem Doppelgrab von Frankfurt/Main-Berkersheim ersichtlich. Dieser zusammen mit einer kleinen Frau bestattete Mann maß 1,75 Meter. Bei einer Doppelbeisetzung von Ilvesheim (Rhein-Neckar-Kreis) in Baden-Württemberg war der etwa 20 Jahre alte, athletisch gebaute Mann 1,72 Meter groß. Dagegen erreichte die mit ihm beerdigte etwa 15-jährige grazile Frau nur 1,62 Meter. Tönerne Spinnwirtel und Webgewichte sowie Gewebereste belegen, dass die Kleidung aus Flachs (Linum usitatissimum) und Schafwolle angefertigt wurde. Spinnwirtel sind nicht nur aus Siedlungen, sondern auch aus vielen Gräbern bekannt. Von einem Webstuhl stammen elf komplette pyramidenförmige Webstuhlgewichte und Fragmente solcher Objekte aus Lauf (Kreis Nürnberger Land) in Bayern. Diese Webstuhlgewichte sind in der oberen Hälfte durchbohrt und wiegen zwischen 781 und 989 Gramm. Ihre Funktion bestand darin, senkrecht
herabhängende Kettfäden an einem Webstuhl straff zu halten.
Anhaltspunkte über die Garderobe lieferten auch bronzene Nähnadeln mit Öhr, Gewandnadeln zum Zusammenhalten der Oberbekleidung sowie Gürtelhaken und -bleche. Die Gewandnadeln tendierten wieder zu kürzeren und unauffälligeren Formen. Neu waren Nadeln mit Schmuckplatte.
Die Gürtelhaken zum Schließen von Gürteln aus Stoff oder Leder wurden gegossen, gehämmert, aus einem Blechstück geschnitten oder aus Blechdraht zurechtgebogen. Teilweise sind sie mit Ornamenten aus Reihen dicht gesetzter Punzeinschläge versehen. Beschädigte Gürtelhaken wurden häufig repariert. Als heimische Erzeugnisse gelten zweischneidige bronzene Rasiermesser mit rechteckigem, doppelaxtähnlichem und fast kreisförmigem Blatt sowie teilweise durchbrochenem Griff. Dagegen handelt es sich bei den Exemplaren mit trapezförmiger Klinge, einseitiger Schneide und meistens hakenförmigem Griff um Importware aus dem Gebiet der nordischen Bronzezeit. Manche Rasiermesser hat man aus anderen Bronzeobjekten geschaffen. So ist ein zweischneidiges kleines Rasiermesser aus Grünwald (Kreis München) aus einem Gürtelhaken angefertigt worden. Reparaturen von stark in Mitleidenschaft gezogenen Rasiermessern sind durch Funde aus Bad Buchau (Kreis Biberach) in Baden-Württemberg und Eberstadt (Kreis Gießen) in Hessen belegt.
Die Rasiermesser wurden in Futteralen aufbewahrt, um ihre Schneiden vor Beschädigungen zu schützen.
Härchen des Futterals hafteten an Rasiermessern von Gemmingen (Rhein-Neckar-Kreis) in Baden-Württemberg sowie von Geroldshausen (Kreis Würzburg) und Rehlingen (Kreis Weißenburg-Gunzenhausen) in Bayern. In Gemmingen handelte es sich wahrscheinlich um Rehhaare von einem...