Einleitung
Die Integration Hunderttausender Kinder und Jugendlicher wird die deutschen Schulen verändern. In welche Richtung diese Veränderungen gehen werden, das entscheidet sich jetzt. Seit dem Jahr 2014 stellten rund 1,6 Millionen Menschen einen Asylantrag, weil sie Schutz in Deutschland suchen.[1] Ein großer Teil der Asylsuchenden sind nicht Männer und Frauen, sondern Kinder und Jugendliche, die in diese Gesellschaft hineinwachsen. Ja, die Willkommenskultur war beispiellos, manche sagen: historisch. Doch nun erhebt sich immer drängender die Frage, wie es weitergehen soll. Die vielleicht größten Fragezeichen bringen die Lehrer mit, die tagtäglich in den Schulklassen versuchen, Kinder und Jugendliche zu integrieren, und erleben, dass dies mit den bestehenden Strukturen eigentlich kaum möglich ist. Wie soll und wie kann es gelingen, diese Aufgabe zu bewältigen in einem System, das ausgelaugt ist, dem Lehrer fehlen, das unterfinanziert ist?
Diese Frage stellte sich auch mir, als ich mit den Problemen konfrontiert wurde, die sich in den Schulen abspielen. Die Kluft zwischen der Überforderung der Schulen und der großen Hoffnung und Erwartung, die auf ihnen ruhen, gab für mich den Ausschlag, dieses Buch zu schreiben. Denn wie das eigentlich laufen soll mit der Integration, darauf suchen nicht nur Lehrer und Schulleiter, sondern das ganze Land Antworten – und alle blicken fragend in Richtung der Bundeskanzlerin, die am 31. August 2015 ihren legendären Satz gesagt hatte: »Wir schaffen das.« Was sie nicht gesagt hatte, ist: Wer ist »wir«? Was genau ist mit »schaffen« gemeint? Und wofür steht hier »das«? Hunderttausende Menschen aus Syrien, dem Irak und dem Iran, aus Afghanistan, Eritrea und Somalia, Hunderttausende die eine andere Muttersprache sprechen, wollen in Deutschland leben und arbeiten.[2] Viele von ihnen werden bleiben und ihre Familien nach Deutschland holen. Die Hilflosigkeit im Umgang mit den vielen Fremden offenbart sich in den zahllosen Debatten über Flüchtlinge und damit über Integrationskurse, Wertvorstellungen, religiöse Unterschiede und vor allem auch über die immerwährende Frage, was Deutschland eigentlich tun kann.[3] Die Willkommensstimmung ist einer großen Stille gewichen. Die Kommunen sorgen für Kita-Plätze und stellen die Unterkünfte. Dafür bekommen sie unterschiedlich viel Geld von den Ländern erstattet, welche die Aufsicht über die Kassen haben. Der Bund gibt Milliarden[4] für Bildung aus, etwa für Sprach- und Integrationskurse, legt berufliche Sonderprogramme auf und bezahlt, wie auch bei Hartz-IV-Empfängern, die Lebenshaltungskosten. Und die Bundesländer sollen – unter anderem – dafür sorgen, dass die Kinder und Jugendlichen in die Schulen gehen, Deutsch lernen und einen Schulabschluss machen. Denn wie jeder weiß, gilt die Sprache als der Schlüssel zur Bildung – und Bildung ist der Schlüssel zur Integration. Daraus folgt, dass die Bildungseinrichtungen im ganzen Land die eigentlichen und natürlichen Integrationsorte sind. »Integrationsorte Nummer eins« nennt man sie, oder sogar »Integrationsmotoren«.
Das hört sich dynamisch und vielversprechend an, und es ist obendrein sehr plausibel. Dort, wo Kinder und Jugendliche verschiedener Nationen zusammentreffen, entsteht erst das echte Zusammenleben mit einem Alltag und einer Struktur. Die mehrwöchigen Integrationskurse für Erwachsene können nicht hautnah vermitteln, was es bedeutet, in einem demokratischen Rechtsstaat mit Meinungsfreiheit und Gleichberechtigung zu leben. Das geht eher dort, wo sich das richtige Leben abspielt. Die echte Integration sollte in Klassenzimmern, im Geschichts- oder Sachkundeunterricht, in Sport-AGs und bei gemeinsamen Ausflügen stattfinden. Sie sollte in Freundschaften mit anderen Schülern münden, den Neuzugezogenen einen Alltag ermöglichen und Kinder und Jugendliche in die Struktur der Schule einbinden. Doch so gut das alles in der Theorie klingen mag, so schwierig erweist sich die Umsetzung in den Schulen. Die ganze Dimension dieser Aufgabe, die die Schulen in Deutschland meistern sollen, um ihrer Bestimmung als Integrationsmotor gerecht zu werden, ist gigantisch. Zum einen sind sie nicht konzeptionell ausgerichtet auf Zuwanderung und Integration; es wird eher viel experimentiert und improvisiert. Zum anderen ist die Zahl der Schüler, die innerhalb kürzester Zeit nach Deutschland kamen, enorm hoch.
Wie viele asylsuchende Kinder und Jugendliche die Grundschulen, weiterführenden Schulen und Berufsschulen besuchen, ist statistisch nicht erfasst. Man kann es nur schätzen. Gemessen an der Gesamtzahl der Flüchtlinge ist der Anteil groß. Mehr als jeder vierte Asylantragsteller ist jünger als 18 Jahre. Das Registrierungssystem für Flüchtlinge EASY hält das Alter grundsätzlich nicht fest; es bleibt also als Quelle nur die Zahl der Antragsteller. Man kann davon ausgehen, dass etwa eine halbe Million asylsuchende Kinder und Jugendliche, die Flüchtlinge sind, die deutschen Schulen besuchen, wenn man berücksichtigt, dass in einigen Bundesländern auch über 18-Jährige einen Platz in den Vorbereitungsklassen der Berufsschulen bekommen. Auch Kinder, die noch keinen Asylantrag gestellt haben, haben das Anrecht auf einen Schulplatz.[5]
Die Schule bedeutet für sie den Weg in einen strukturierten Alltag; sie lernen Mitschüler kennen, knüpfen Kontakte, und es entwickeln sich Freundschaften. Junge Männer werden ihre Familien nachholen; Kinder, die gerade eingeschult wurden, werden irgendwann selbst eine Familie gründen. Denn die Wahrheit ist: Ein Großteil der Flüchtlinge wird in Deutschland bleiben. Schon jetzt sind Syrer in Deutschland die drittgrößte Gruppe mit ausländischem Pass, und die Zahl der Kinder wird sich erhöhen. In Deutschland wurden im Jahr 2016 184 660 Kinder von Müttern mit ausländischer Staatsangehörigkeit geboren: Das war ein Anstieg um 25 Prozent im Vergleich zu 2015. Vervierfacht haben sich die Geburten bei den syrischen Frauen – 18 500 syrische Kinder wurden im Jahr 2016 in Deutschland geboren. 21 800 Neugeborene haben eine türkische Mutter, und in 11 800 Fällen hat die Mutter einen polnischen Pass.[6] Das, was die Eltern selbst und ihre Kinder in Deutschland lernen und erfahren, wird Teil der deutschen Gesellschaft sein, jetzt und erst recht in Zukunft. Die Frage ist, wann die politischen Vorkehrungen getroffen werden, die ein Miteinander dieser ganz unterschiedlichen Gruppen möglich macht.
Dass sich hier eine ungleich größere Dimension abzeichnet, als von der Bildungspolitik eingestanden wird, scheint vielen Pädagogen an den Schulen klar zu sein – ebenso, wie nahezu unmöglich es ist, sie mit den bestehenden Mitteln zu bewältigen. Tausende Lehrer im Land schufen in den rund 33 500 allgemeinbildenden Schulen Räume, richteten Klassen ein und machten Platz für Hunderttausende Kinder und Jugendliche. Doch es zeigt sich, dass die Aufgabe damit nicht gelöst ist. Es fehlen kompetente Lehrer, die den Schülern aus fremden Ländern Deutsch beibringen und sie in die Schulstrukturen integrieren können. Denn die Schüler sollen ja mit ihren neuen Mitschülern zusammen einen Schulabschluss machen. Und dafür brauchen sie noch lange Zeit Unterstützung und sprachliche Nachhilfe. In den Klassenzimmern sitzen aber noch viele andere Kinder und Jugendliche, die ebenfalls Aufmerksamkeit und individuelle Förderung brauchen, beispielsweise die Inklusionsschüler.
Es zeigt sich immer klarer, was sich schon 2015 andeutete: Viele Lehrer sind hoffnungslos überfordert mit diesen Aufgaben. Sie fühlen sich von den Kultusministern der Länder und von der Schulpolitik im Stich gelassen. Die ihnen anvertraute Aufgabe ist zu groß, das sehen all jene, die tagtäglich in den Klassenzimmern stehen. Innerhalb der Schülerschaft entwickeln sich Konflikte. Die Schüler haben unterschiedliche Sprachniveaus und Lernstände. Es gibt nicht genügend Sozialarbeiter und Schulpsychologen und es fehlen Dolmetscher, um mit den Eltern zu sprechen.
Die Überforderung bezieht sich nicht nur auf die große Zahl der Schüler. Überraschend ist, dass die Schulen auch pädagogisch kaum vorbereitet waren. Denn es ist ja nicht die erste Zuwanderungsbewegung; frühere Lehrergenerationen haben Kinder von türkischen, griechischen und italienischen »Gastarbeitern« unterrichtet. Durch die Schultüren gingen später auch Kinder aus dem ehemaligen Jugoslawien, Spätaussiedler, Mädchen und Jungen aus dem osteuropäischen Ausland wie Rumänien oder Bulgarien, Diplomatenkinder und immer wieder Asylbewerber aus den unterschiedlichsten Ländern.
Es gibt jedoch keine bundesweiten Konzepte und keine flächendeckenden Lehrpläne, wie man Kindern und Jugendlichen, die nicht in Deutschland geboren wurden, Deutsch beibringt und sie in den Unterricht integriert. Und so standen die Schulen nicht nur vor einem Ressourcenproblem. Es gab keine von der Bildungsforschung empfohlenen und von der Politik abgesegneten Schulkonzepte – Wissenschaftler sprechen hier von einem »blinden Fleck«.[7] Er befindet sich ausgerechnet auf einem der zentralen Aufgabenfelder der deutschen Gesellschaft, der Integrationspolitik. Es sind nicht nur die humanitären Organisationen, die immer wieder fordern, zugewanderte Schüler besser zu integrieren – was gern abgetan wird als überzogene Anspruchshaltung: Schließlich reiche das Angebot an den Schulen ja kaum für jene Kinder und Jugendlichen aus, die in Deutschland geboren wurden.
Eines der größten Missverständnisse unserer Zeit ist es,...