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Diagnosen festschreiben oder Vielfalt stärken

Die Rolle von Kompetenzfeststellungsverfahren im Übergang Schule-Beruf bei Menschen mit einer Lernbeeinträchtigung

AutorAnna-Paula Kellner
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl285 Seiten
ISBN9783656622765
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis31,99 EUR
Masterarbeit aus dem Jahr 2012 im Fachbereich Soziale Arbeit / Sozialarbeit, Note: 1,7, HAWK Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst - Fachhochschule Hildesheim, Holzminden, Göttingen, Sprache: Deutsch, Abstract: Im Rahmen dieser Arbeit soll der Frage nachgegangen werden, welche Rolle Kompetenzfeststellungsverfahren im Übergang Schule / Beruf von Menschen mit Lernschwierigkeiten spielen. Der Übergangsbereich von der Schule ins Berufsleben ist von herausragender Bedeutung für die selbstbestimmte Teilhabe an der Gesellschaft von Menschen mit Behinderungen. Eine Teilhabe am Arbeitsleben kann nicht nur eine finanzielle Unabhängigkeit von staatlicher Fürsorge bewirken, sondern auch ein Selbstbewusstsein und gesellschaftliche Zugehörigkeit. In den letzten zwanzig Jahren hat sich ein Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik - und so auch im Bereich des Arbeitslebens - vollzogen. Im Zuge dessen wurde der bisherige Ansatz von Fürsorge und Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen durch ein Bestreben um Selbstbestimmung und Teilhabe abgelöst. Diese Bestrebungen wurden sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene rechtlich verankert: So trat in Deutschland am 01.07.2001 eine Neuauflage des SGB IX in Kraft und am 01.05.2002 wurde das Bundesgleichstellungsgesetz verabschiedet. International wurde dieser Paradigmenwechsel mit der Verabschiedung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen am 13.06.2006 rechtlich verankert. Seit dem 29.03.2009 besitzt diese Konvention auch für Deutschland Gültigkeit. Auch diese gesetzlichen Neuerungen sorgten für Veränderungen bezüglich der Selbstbestimmung und Teilhabe von Menschen mit Behinderung in allen Bereichen gesellschaftlichen Lebens, auch im Bereich des Arbeitslebens. Mit den Maßnahmen zur beruflichen Rehabilitation von Menschen mit Behinderungen wird nach dem SGB IX das Ziel verfolgt, Menschen mit Behinderung eine selbstbestimmte Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen. Um dieses Ziel zu erreichen, setzt der durchführende Rehabilitationsträger - in der Regel die Agentur für Arbeit - verschiedene Kompetenzfeststellungsverfahren ein. Diese Kompetenzfeststellungsverfahren nehmen somit eine entscheidende Rolle für den beruflichen Werdegang von Menschen mit Lernschwierigkeiten. Unklar ist, in welcher Weise die Kompetenzfeststellungsverfahren diese Rolle ausfüllen.[...]

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Leseprobe

1. Wie man behindert wird[2]


 

Bestimmte Menschen werden in Deutschland als Menschen mit einer Behinderung, behinderte Menschen oder Menschen mit einer Beeinträchtigung bezeichnet. Weitergehend ist von Menschen mit einer Lernbehinderung, Menschen mit einer geistigen Behinderung und Menschen mit Lernschwierigkeiten die Rede. Sowohl die Definition von Behinderung als auch die Sichtweise auf dieses Phänomen sind in verschiedenen Wissenschaften, die sich mit Behinderung befassen, sehr unterschiedlich ausgeprägt. So werden im folgenden Kapitel zunächst verschiedene Modelle von Behinderung beschrieben. Davon ausgehend werden verschiedene Behinderungsdefinitionen dargestellt und diskutiert. Im Anschluss daran wird erläutert, welches Verständnis und welche Definition von Behinderung dieser Masterthesis zu Grunde liegen.

 

1.1 Modelle von Behinderung


 

Im deutschsprachigen Raum haben sich bislang vor allem Rehabilitationswissenschaften wie Medizin, Psychologie, Heil- und Sonderpädagogik mit dem Phänomen der Behinderung befasst. Behinderung wird aus Sicht dieser Professionen unter dem Fokus der körperlichen Schädigung bzw. Anomalität betrachtet, welche es zu therapieren, zu lindern und zu beseitigen gilt. (vgl. Waldschmidt 2005: 9) Eine Alternative zu dieser Herangehensweise lässt sich in den Disability Studies finden, einer interdisziplinären Forschungsrichtung, welche in den 1980er Jahren unter dem Einfluss behinderter Wissenschaftler innen in den USA und Großbritannien entstanden ist. Seit Anfang 2000 gewinnen die Disability Studies auch in Deutschland zunehmend an Bedeutung und bieten die Möglichkeit, Behinderung unter einer veränderten Sichtweise, die von Geistes- Sozial- und Kulturwissenschaften geprägt ist, zu betrachten (vgl. Waldschmidt 2005: 10ff.). In diesem Rahmen sind drei Modelle von Behinderung entstanden, welche im Folgenden skizziert werden.

 

Das individuelle Modell von Behinderung ist in den 1970er und 1980er Jahren im Zuge eines Ausbaus des Rehabilitations- und Gesundheitswesens entstanden. Man ging man davon aus, dass Menschen mit Behinderung durch medizinische und psychiatrische Behandlung soweit wie möglich an ihre Umwelt angepasst und in den Arbeitsmarkt eingegliedert werden könnten. Dieses „Rehabilitationsparadigma“ (Waldschmidt 2005: 15) verbreitete sich weltweit und ist bis heute noch die vorherrschende Perspektive. Auf der Basis dieses Ansatzes entwickelte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1980 die Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps (ICIDH). Hier wurde zwischen Schädigung (impairment), Beeinträchtigung (disability) und

 

Benachteiligung (handicap) unterschieden. Ein Zusammenhang zwischen diesen drei Begriffen wurde insofern festgeschrieben, dass sowohl Benachteiligung als auch Beeinträchtigung aus einer physischen oder psychischen Anomalie resultierten (vgl. WHO: 1980).

 

Das Individuelle Modell ist heute noch sowohl in der medizinischen und psychiatrischen, als auch in der pädagogischen, psychologischen und soziologischen Diskussion zu finden und „(...) setzt Behinderung mit der körperlichen Schädigung oder funktionalen Beeinträchtigung gleich (...) “(Waldschmidt 2005: 17). Darüber hinaus wird Behinderung als „schicksalhaftes, persönliches Unglück“(Waldschmidt 2005: 17) betrachtet, welches der behinderte Mensch individuell bewältigen muss. (vgl. DIMDI 2005: 23)

 

Im Rahmen der Disability Studies ist in den 1980er Jahren mit dem Sozialen Modell von Behinderung ein alternatives Modell entstanden. Dieses wurde von britischen Sozialwissenschaftlern auf der Basis materialistischer Gesellschaftstheorie entwickelt und durch Definitionsbemühungen der britischen Behindertenbewegung beeinflusst (Waldschmidt 2005: 17).

 

Die Kernaussage des Sozialen Modells basiert auf der Unterscheidung zwischen Beeinträchtigung (impairment) und Behinderung (disability), die in einem dichotomen Verhältnis zueinander stehen. Somit entsteht Behinderung aus der Perspektive des Sozialen Modells nicht durch einen medizinischen Befund sondern durch Ausgrenzung durch die Gesellschaft. Im Rahmen des Sozialen Modells wird eine soziale Verantwortlichkeit gefordert, die es zur Aufgabe der Gesellschaft macht, Vorurteile zu bekämpfen, Barrieren abzubauen und behinderten Menschen gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen (vgl. Priestley 2003: 7; zit. nach Waldschmidt 2005:19).

 

Die Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen soll im Gegensatz zum individuellen Modell nicht mit Hilfe von Expertenwissen erfolgen, sondern die Betroffenen als Expert innen in ihren eigenen Belangen einbeziehen, so Waldschmidt:

 

„Aus der Sicht des Sozialen Modells sind behinderte Menschen keine passiven Empfänger von Sozialleistungen, sondern mündige Bürgerinnen und Bürger, die zu Selbstbestimmung und demokratischer Partizipationfähig sind.“ (Waldschmidt 2005: 19).

 

Das Kulturelle Modell von Behinderung ist in den vergangenen 15 Jahren im Rahmen der Disability Studies als Ergebnis einer Kritik am Individuellen und Sozialen Modell entstanden. Zielsetzung des Kulturellen Modells ist es, Behinderung nicht - wie im Individuellen und im Sozialen Modell - als Problem zu betrachten, welches es zu beseitigen gilt. Stattdessen soll Behinderung als positive und produktive Erfahrung wahrgenommen werden. (vgl. Waldschmidt 2005: 25ff) Mit dieser veränderten Perspektive geht auch eine Veränderung der Zielgruppe der Analyse einher. So wird neben der Behinderung auch ihr Gegenteil, die sog. Normalität, in den Fokus gerückt. Denn Menschen mit und ohne Behinderung „sind keine binären, strikt getrennten Gruppierungen,“ (Waldschmidt 2005: 25) sondern stehen zueinander in einer sich gegenseitig bedingenden Beziehung.

 

1.2 Definitionen von Behinderung


 

Wie im Vorangegangenen beschrieben, sind Sichtweisen auf und Definitionen von Behinderung äußerst vielfältig. Im Folgenden werden exemplarisch einzelne Definitionen von Behinderung dargestellt, die in der aktuellen Fachliteratur eine wichtige Rolle spielen.

 

Internationaler Behinderungsbegriff der WHO

 

Mit der Behinderungsdefinition der „International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF)“ wurde die seit 1980 geltende Definition von Behinderung nach der „International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps (ICIDH) durch die WHO weiterentwickelt und schließlich 2001 abgelöst (vgl. DIMDI 2005: V).

 

Während im bisherigen Modell eine stark defizitorientierte und individuumsbezogene Sichtweise vorherrschte, wurden mit dem Modell der ICF Neuerungen vollzogen: Das bio-psycho-soziale Modell der ICHD wurde erweitert und somit der Lebenswirklichkeit betroffener Menschen besser angepasst. So wird im neuen Modell die Person im Sinne der Ganzheitlichkeit mit positiven und negativen Aspekten ihrer Körperfunktionen und -strukturen, ihrer Aktivitäten und Partizipation sowie Umweltfaktoren und persönlichen Faktoren dargestellt. (vgl. DIMDI 2005: 4 u. 16ff.)

 

Dabei werden die einzelnen Begriffe folgendermaßen definiert (DIMDI 2005: 16):

 

„(...) Körperfunktionen sind die physiologischen Funktionen von Körpersystemen (einschließlich psychologische Funktionen).

 

Körperstrukturen sind anatomische Teile des Körpers, wie Organe, Gliedmaßen und ihre Bestandteile.

 

Schädigungen sind Beeinträchtigungen einer Körperfunktion oder -struktur, wie z.B. eine wesentliche Abweichung oder ein Verlust.

 

Eine Aktivität bezeichnet die Durchführung einer Aufgabe oder Handlung (Aktion) durch einen Menschen.

 

Partizipation [Teilhabe] ist das Einbezogensein in eine Lebenssituation.

 

Beeinträchtigungen der Aktivität sind Schwierigkeiten, die ein Mensch bei derDurchführung einer Aktivität haben kann.

 

Beeinträchtigungen der Partizipation [Teilhabe] sind Probleme, die ein Mensch beim Einbezogensein in eine Lebenssituation erlebt.

 

Umweltfaktoren bilden die materielle, soziale und einstellungsbezogene Umwelt ab, in der Menschen leben und ihrDasein entfalten. (...) “

 

Nach ICF wird die Behinderung einer Person zum Einen bestimmt durch die Schädigung der Körperfunktionen und -strukturen und zum Anderen durch eine Beeinträchtigung der Aktivität und der Partizipation bzw. der Teilhabe. Zudem spielen Kontextfaktoren, wie Barrieren in der Umwelt, sowie personenbezogene Faktoren eine Rolle. Alle genannten Faktoren beeinflussen sich wechselseitig. (vgl. DIMDI 2005: 23)

 

Definition von Behinderung nach dem IX. Sozialgesetzbuch

 

Behinderung wird nach dem SGB IX, das auch die Regelungen zur Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen enthält, in§2 wie folgt definiert:

 

„(1) Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.“(Stascheit...

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