2. Integrative Behandlung
Wahrscheinlich betonen nur wenige Therapieformen die Integration auf so vielen unterschiedlichen Ebenen und so explizit wie die DVT. Die Behandlung ist im „dialektischen / entwicklungsbezogenen“ Wortsinne integrativ (Stricker & Gold, 1993), was bedeutet, dass sie „den offenen dialogischen Prozess, in dem Unterschiede untersucht und neue Dinge gern integriert werden“, herausstellt (S. 7). Somit ist die DVT zwar in jedem Moment eine eigenständige, in sich geschlossene Psychotherapieform, gleichzeitig ist sie aber in ständigem Wandel begriffen. Neue Entwicklungen werden nicht ferngehalten, sondern kontinuierlich einbezogen; etwa so, als ob der Klient effektiv an der Therapie mitwirkt.
Wie bereits der Name der Therapieform nahelegt, durchdringen die Konzepte von Synthese und Integration die DVT auf mehreren Ebenen. Erstens erstellte Linehan (2008) eine transaktionale Theorie der Ätiologie und Aufrechterhaltung der BPS, die sowohl biologische und umweltbezogene als auch entwicklungsbezogene und lerntheoretische Perspektiven integriert. Dieser Umstand reflektiert, in welch breit gefächertem akademischem Spektrum die Theorie entstand, und die Behandlung wird bis heute infolge neuer Erkenntnisse aus den genannten Bereichen kontinuierlich weiterentwickelt.
Zweitens entwickelte sich die Behandlung in einem Spannungsfeld zwischen einer Betonung von Veränderung als Essenz kognitiver Verhaltenstherapien und einer Betonung von radikaler Akzeptanz des Klienten im gegebenen Moment als notwendigem Rahmen. Ursprünglich nutzte Linehan standardisierte verhaltenstherapeutische Prozeduren für die Therapie chronisch parasuizidaler Klienten. Gegenüber den meisten Klienten, die verhaltenstherapeutische Programme erfolgreich abschließen, sind bei parasuizidalen Klienten deutlich mehr Verhaltensweisen zu behandeln, die Behandlungscompliance ist schlechter, und eine höhere Abbruchquote ist zu verzeichnen. Die daraus resultierenden Schwierigkeiten, über mehrere Sitzungen hinweg und durch tiefgreifende Krisen hindurch eine kollaborative Beziehung zu entwickeln, Sicherheitsaspekte zu berücksichtigen und das gesetzte Ziel zu verfolgen, machten die Anwendung einer konsequenten KVT in hohem Maße problematisch.
Die eben beschriebenen Probleme bei der Anwendung standardisierter kognitiver Verhaltenstherapien deuten auf den Methoden inhärente Faktoren hin, die diese Therapien für Klienten mit einer BPS als ungeeignet erscheinen lassen. Linehan stellte die Hypothese auf, dass die mit der Therapie interferierenden Verhaltensweisen aus der Betonung der Veränderung an sich resultieren, Veränderung der Emotionen gleichermaßen wie der Kognitionen bis hin zur Veränderung des offenen Verhaltens. Sie erklärte, dass der Klient nunmehr vonseiten der Therapie nicht nur einer Invalidierung bestimmter Verhaltensweisen, sondern einer Invalidierung seiner gesamten Persönlichkeit unterzogen wird. Wenn einem gesagt wird, dass man sich ändern muss, so ist diese Aussage an sich schon invalidierend; sogar wenn man ihr zustimmt. In gewisser Weise bestärkten die Therapeuten somit die Ängste der Klienten, dass sie ihren eigenen kognitiven Interpretationen, ihren emotionalen oder verhaltensbezogenen Reaktionen nicht trauen können. Forschungen von Swann et al. (Swann, Stein-Seroussi & Giesler, 1992) liefern eine mögliche Erklärung dafür, wie eine solche Invalidierung zu problematischen Verhaltensweisen in der Therapie führen kann. Wenn die grundlegenden Selbstkonstrukte eines Individuums nicht verifiziert werden, so steigt das Erregungsniveau, das zu kognitiver Dysregulation führt und in der Folge zur Unfähigkeit, neue Informationen zu verarbeiten. Die später in diesem Buch beschriebene biosoziale Theorie deutet darauf hin, dass Klienten mit einer BPS besonders empfänglich für alle potenziell invalidierenden Reize sind und eher zu gesteigerter Erregung neigen.
Um ein Gegengewicht zu dieser Betonung von Veränderung zu schaffen, begann Linehan, die Prinzipien des Zen (vgl. beispielsweise Aitken, 2003) und die damit assoziierte Haltung der Achtsamkeit (vgl. beispielsweise Hanh, 2001) – die Akzeptanz in ihrer radikalsten Form beschreiben – zu integrieren. Zen ermutigt zu einer konsequenten Akzeptanz des Augenblicks ohne Veränderungen (wir werden später noch in detaillierterer Weise auf Zen und die Haltung der Achtsamkeit eingehen). Wie Linehan jedoch weiter ausführte, kann sich ein auf bedingungsloser Akzeptanz und Anerkennung des Verhaltens basierender therapeutischer Ansatz nicht nur als ebenso problematisch erweisen, sondern paradoxerweise auch als invalidierend. Wenn der Therapeut den Klienten nur dazu auffordert, sich selbst zu akzeptieren und anzuerkennen, so kann dies den Anschein erwecken, als ob der Therapeut die Probleme nicht ernst nimmt. Ohne Beachtung der Aspekte von Veränderung und Problemlösung durch den Therapeuten wird die persönliche Erfahrung eines unerträglichen Lebens invalidiert, und es ist wahrscheinlich, dass mit der Therapie interferierende Verhaltensweisen die Folge sein werden.
Die Spannungen, die aus Linehans Versuch, die Prinzipien des Behaviorismus mit den Prinzipien des Zen zusammenzubringen, resultierten, erforderten einen geeigneten Rahmen, um diese gegensätzlichen Sichtweisen zu fassen. Einen solchen Rahmen liefert die dialektische Philosophie, die den Prozess der Bildung von Synthesen aus Gegensätzen betont. Durch die kontinuierliche Reduzierung von Spannungsfeldern zwischen Theorie und Forschung versus klinischer Erfahrung sowie zwischen westlicher Psychologie versus östlicher Philosophie entwickelte sich die DVT in einer Weise, die dem theoretischen Integrationsmodell ähnelt, das von Forschern auf dem Gebiet der integrativen Psychotherapie beschrieben wurde (Arkowitz, 1989, 1992; Norcross & Newman, 1992).
Drittens wurden die strukturellen Aspekte der DVT in Reaktion auf die Komplexität und den Schweregrad der Probleme von Borderline-Klienten eingebunden. Dies zeigt sich insbesondere in den Beziehungen zwischen den standardmäßigen Behandlungsmodalitäten (Einzeltherapie, Fertigkeitstraining, telefonisches Coaching und Teamkonsultation), die wir später noch eingehender erörtern werden. Jede Behandlungsmodalität unterstützt das Wirken einer anderen. So helfen die Trainer im gruppenbasierten Fertigkeitstraining den Klienten beispielsweise dabei, die grundlegenden Elemente jeder Kategorie von Fertigkeiten zu erwerben und diese zu stärken. Anschließend unterstützt der Einzeltherapeut diese Fertigkeiten erneut, und telefonisches Coaching ermöglicht die Übertragung und Generalisierung dieser Fertigkeiten auf das Alltagsleben. Wenn der Einzeltherapeut den Klienten selbst die grundlegenden Elemente beibringen müsste, würde weitaus weniger Zeit für die Umsetzung anderer Lösungen verbleiben. Ebenso würden viele Klienten ohne die Unterstützung durch Einzeltherapie und telefonisches Coaching die betreffenden Fertigkeiten entweder gar nicht oder nur in ineffektiver Weise anwenden. In diesem Zusammenhang ist eine Studie erwähnenswert (Linehan, Heard & Armstrong, 1995), in der eine einjährige standardmäßige Psychotherapie (SP) mit einer einjährigen SP plus einem begleitenden gruppenbasierten DVT-Fertigkeitstraining verglichen wurde. Das Ergebnis dieser Studie war, dass die Kombination der beiden Therapien SP und DVT die Behandlungserfolge gegenüber der SP allein nicht verbesserte. Zukünftige Forschungen könnten einerseits ergeben, dass ein DVT-Fertigkeitstraining keine Auswirkungen auf den Therapieerfolg hat, sie könnten andererseits aber auch aufzeigen, dass die Wirksamkeit des Fertigkeitstrainings von der Integration mit anderen Behandlungsmodalitäten abhängt.
Im Gegensatz zur gängigen Behandlungspraxis, bei Bedarf einfach zusätzliche Interventionen „dranzuhängen“, erfordert die DVT vom Haupttherapeuten, dass er die spezifische Funktion jeder einzelnen zusätzlichen Intervention genau beschreibt und außerdem klarstellt, wie diese Intervention mit dem DVT-Programm interagieren wird. Die klinische Erfahrung legt nahe, dass ohne eine solche Klarstellung bestenfalls eine mäßig ertragreiche Interaktion durch die zusätzlichen Interventionen zu erwarten ist. Auch können in diesen Fällen die eigentlichen DVT-Interventionen negiert werden, und die Wahrscheinlichkeit erhöht sich, dass mit der Therapie interferierende Verhaltensweisen beim Klienten oder gar Zerwürfnisse zwischen den Therapeuten auftreten. Wenn beispielsweise ein „Patientenhelfer“ hinzugezogen wird, weil die Gespräche mit dem Klienten zunehmend um das Thema Suizid kreisen, so kann diese Maßnahme das künftige Ausmaß der suizidalen Kommunikation des Klienten noch steigern, sofern er den engen Kontakt mit Gesundheitsdienstleistern schätzt. Um die Wahrscheinlichkeit für solche Probleme zu minimieren, ist es im Rahmen der Behandlung erforderlich, dass der Klient nicht parallel an anderen Formen intensiver Psychotherapie teilnimmt.
Viertens und letztens integriert die DVT Strategien und Techniken aus dem gesamten Fachgebiet der Psychologie und darüber hinaus. Obwohl sie primär eine kognitive Verhaltenstherapie ist, nutzt die Dialektische Verhaltenstherapie auch Techniken anderer klinischer Interventionen, wie etwa das Krisenmanagement. Beispielsweise verlangt sie, dass Klienten sich mit den Therapiezielen einverstanden erklären und der Teilnahme an der Behandlung explizit zusagen, da sozialpsychologische Forschungen (Hall, Havassy & Wasserman, 1990; Wang & Katzev, 1990) ergeben haben, dass Individuen einem Plan eher folgen oder eher in einer Konstellation bleiben, wenn sie sich dem Plan oder der Konstellation verpflichtet haben. Um diesen Prozess zu fördern, adaptierte Linehan (2008) zwei sozialpsychologische Zustimmungstechniken: die...