Die Seele ist der Teil der Psyche, der uns mit dem Ewigen verbindet und unserem Leben ein Gefühl von Sinn und Wert gibt. In der Jung’schen Psychologie wird »Seele« oft als Synonym für »Psyche« oder auch für das kollektive Unbewusste benutzt, aus dem der Archetyp auftaucht. Im religiösen Denken ist die Seele der Teil eines Menschen, der unsterblich ist und spirituell wachsen kann. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird Seele mit der Fähigkeit zu tiefen Gefühlen (wie in dem Begriff »aus tiefster Seele«) oder, wie in »seelenlos«, mit dem Gefühl (bzw. dem Verlust dieses Gefühls) für Bedeutung, Wert und Zweck assoziiert.[8] Man braucht nicht in einem konventionell religiösen Sinn an Gott oder ein Leben nach dem Tod zu glauben, um die Seele zu entwickeln. Die Seele beginnt uns zu interessieren, wenn wir das Bedürfnis verspüren, den Sinn des Lebens, speziell unseres Lebens, kennenzulernen, wenn wir die Sehnsucht nach einer Verbindung mit dem Kosmos spüren oder uns mit unserer Sterblichkeit befassen.
Manchmal ermöglicht die Seele ein Gefühl von Einheit oder spiritueller Verbundenheit oder, öfter, ein Gefühl der Vertrautheit mit einem anderen Menschen. Wenn das Ich die Grenzen gesetzt hat, erlaubt uns dies paradoxerweise, Verbundenheit zu wagen, denn wir fürchten nicht mehr, »verschluckt« zu werden und uns zu verlieren.
In der modernen Welt fehlen uns oft respektable Kategorien, um über die Seele nachzudenken. Wir erfahren die Seele hauptsächlich negativ, als das Gefühl, dass in unserem Leben etwas fehlt. Weil unsere Gesellschaft die Seele leugnet, erleben wir sie hauptsächlich durch persönliche Einbrüche – Einbrüche unserer Gesundheit und unserer Moral und durch Krisen allgemein. Viele Menschen zum Beispiel erleben die Seele nur durch Selbstzerstörung: Süchte, Begierden, zwanghafte Verhaltensweisen. Aber eben während der großen Lebenskrisen sehnt der Mensch sich plötzlich nach Sinn und kosmischer Verbindung.
Die Seele zeigt sich bei den Übergängen des Lebens von der Kindheit zur Pubertät, von der Adoleszenz zum Erwachsenendasein, zum Elternsein, zu den mittleren Jahren, zu Alter und schließlich Tod. In diesen Augenblicken stehen wir an einer Grenze, einer Schwelle – wir haben die eine Identität abgelegt und die andere noch nicht erreicht. In diesen Momenten sehnen wir uns am vorhersagbarsten und sichersten nach Kontakt mit einem transzendenten Element.
Viele Kulturen haben Rituale und heilige Mythen entwickelt, um diese Übergänge, diese Bewegung von einer Realität in eine andere, zu erleichtern. Das Fehlen solcher Rituale und die mangelnde Achtung vor dem Spirituellen macht diese Übergänge in der modernen, diesseitig orientierten Gesellschaft so schwierig und einsam. Obwohl Leid und Einsamkeit in gewissem Umfang in allen Kulturen unvermeidbar sind, kann der Schmerz vermindert werden, wenn wir einen Rahmen haben, mit dessen Hilfe wir verstehen können, was mit uns geschieht.
Einweihung
Manche Kulturen haben besondere Initiationserfahrungen in die heiligen Mysterien der Seele geschaffen, die zum übrigen Leben keine Beziehung hatten. Die großen Mysterienkulte im hellenistischen Griechenland, in Syrien, Anatolien, Ägypten und Persien zum Beispiel waren heilige Einweihungen, durch die die Menschen sich von der gewöhnlichen Realität lösen und alte spirituelle Wahrheiten sehen und hören sollten.
Die Einweihung soll uns helfen, Sinn und Wichtigkeit der Erfahrungen zu erkennen, die sie symbolisiert. Auch Uneingeweihte erfahren die Seele, erkennen aber ihre Macht und ihren Sinn nicht. Die Einweihung macht solche Erfahrungen bewusst, nicht in der Sprache des Ich, sondern in der Sprache der Seele – durch Mythen, Symbole, Lieder, Kunst, Literatur und Ritual.
Die Reise des Helden ist eine Einweihung in die Realitäten der Seele. Die Reise verlangt von uns, dass wir die Kontrolle über unser Leben übernehmen und dann wieder aufgeben, dass wir unser Entsetzen vor Tod, Schmerz und Verlust loslassen und das Leben in seiner Ganzheit erfahren. Dazu müssen wir die beschränkte Sicht des Ich ausweiten. Wir müssen Meinungen, Sicherheit, Vorhersagbarkeit und auch unsere Sorge um körperliche Sicherheit, Effektivität und Rechtschaffenheit loslassen. Wenn wir dies tun, geben wir den Dualismus von gut/schlecht, ich/du, wir/sie, Licht/Dunkelheit, richtig/ falsch auf und kommen in eine Welt der Paradoxa.
Die Moral der Reise ist anspruchsvoll und absolut, aber sie ist anders als die des Ich. Unser normales Ich-Bewusstsein möchte unsterblich, vor Leid sicher, erfolgreich, glücklich und von Liebe umgeben sein. Vor allem möchte es, dass die Welt sinnvoll ist.
Die Reise verlangt von uns, dass wir all diese Wünsche loslassen und die Wahrheit der Seele sehen: Das Leben ist seinem Wesen nach Geheimnis. Die Wahrheit der Seele ist vom rationalen Standpunkt des Ich aus nicht sinnvoll. Es ist gut, gesund, reich und weise zu sein, aber lebendig und authentisch macht uns erst die Reise zu den zentralen Mysterien des Lebens, bei der wir Entfremdung, Tod, Auflösung, Sexualität, Leidenschaft und Ekstase kennenlernen und die Schönheit von allem sehen.
Bei der Vorbereitung zur Reise geht es darum, stark, moralisch und gesund zu werden, aber auf der Reise selbst geht es darum, die großen Mysterien des Lebens – Tod, Leidenschaft, Geburt, Erschaffung – als Mysterien zu erleben.
Ohne Seele fühlen wir uns wie Roboter. Wir machen die richtigen Bewegungen, aber es ist eine Bewegung ohne Sinn. Vielleicht durchlaufen wir sogar viele Einweihungserfahrungen, aber der Kontakt zu unserer Seele ist so gestört, dass wir weder beeinflusst noch verwandelt werden. Aber wir bekommen viele Chancen. Es ist nie zu spät. Wir dringen viele Male und auf immer tieferen Verständnisebenen in die Geheimnisse ein. Es gibt keine Bestrafung dafür, dass wir uns nicht mit unserer Seele verbinden, außer dem allgegenwärtigen Gefühl der Sinnlosigkeit des Lebens, das Bestrafung genug ist.
Werden, wer wir wirklich sind
Die Einweihung beginnt in der Kindheit, wenn wir unsere ersten Erfahrungen mit Verwirrung, Leid, starker Liebe, Sehnsucht und Frustration machen. Ein besonders Kindern zugängliches Bild für diese Einweihungserfahrung ist das Lebendigwerden eines Gegenstands oder eines Spielzeugs. Den meisten Kindern und auch den meisten Erwachsenen sagen Geschichten etwas, in denen Gegenstände lebendig werden; denn solange wir nicht unserer Seele begegnen, mögen wir gut und sogar erfolgreich sein, haben aber nicht das Gefühl, richtig da zu sein, denn wir sind wirklich nicht wir selbst.
Pinocchio ist ein bekanntes Beispiel aus der Kinderliteratur, das diesen Vorgang der »Selbstwerdung« thematisiert. Gepetto sehnt sich nach einem Sohn und schnitzt aus einem Stück Holz die Puppe Pinocchio. Dann erscheint die schöne Fee mit den himmelblauen Haaren und verleiht der Puppe die Fähigkeit, sich selbstständig zu bewegen. Gepetto und die Fee (Symbole für das Ich bzw. den Geist) können zusammen eine gut funktionierende Puppe erschaffen, aber nur Pinocchio selbst kann sich das Recht verdienen, ein wirklicher Mensch zu werden.
Zuerst ist er eine »gute« kleine Puppe und tut alles, was von ihm erwartet wird. Die erste Demonstration seiner Unabhängigkeit gibt er, als er Gepetto, der Fee und seinem Gewissen ungehorsam ist und sie betrügt. Er bricht mit anderen faulen Burschen heimlich ins Spielzeugland auf. Wie die meisten von uns wird er bei dem Versuch, sein Glück in die Hand zu nehmen, von trivialen Vergnügungen abgelenkt (wie Süßigkeiten essen und Besitz zerstören).
Pinocchio steigt in die Niederungen der instinktiven Suche nach Vergnügen hinab, entkommt aber rechtzeitig, als er erkennt, dass er und seine Freunde sich in Esel verwandeln. Diese verwirrende Erfahrung schockiert ihn so, dass er beginnt, die Welt anders zu sehen.
Pinocchios Einweihung in die Mysterien hat vier Teile. Erst sieht er die Fee und erfährt, dass er die Möglichkeit hat, ein »richtiger Junge« zu werden. Das ist sein »Aufruf zur Suche«. Zweitens erlebt er seine Schatteneigenschaften und die Zerstörung, die sie verursachen. Drittens wird ihm im Körper des Wals bewusst, wie sehr er Gepetto liebt und wie sehr er geliebt wird. Bei seiner Rückkehr schließlich verwandelt die Fee ihn in einen wirklichen Jungen, denn er hat es verdient: Er hat das Leben erlebt; er hat gelitten; er hat gelernt, mit weiseren Augen zu sehen und minderwertige Vergnügungen vom wahrem Glück zu unterscheiden; er hat die Fähigkeit zu echter Liebe erworben. Und er hat gelernt, die Verantwortung für seine Taten zu übernehmen, ohne sich durch Scham oder Bedauern schwächen zu lassen. Er ist, kurz gesagt, zu einem echten Menschen geworden.
Wenn wir ausschließlich auf der Ebene des Ich leben, sind wir, bildlich gesprochen, wie ein Roboter, ein Spielzeug oder ein anderes lebloses Ding. Wir sehnen uns nach einer echteren Erfahrung. Der Aufruf zur Suche nach dem Geist bildet nur den ersten Schritt beim Auffinden dieser Authentizität. Die Einweihung erschüttert unsere Weltanschauung und verlangt von uns, dass wir uns mit unserer tieferen Weisheit verbinden, damit wir verstehen, was mit uns geschieht. Diese Einweihung kann verschiedenes vorwegnehmen: die Erfahrung von Leid, Entbehrung und Verlust, die der Archetyp des Zerstörers bringt, die Fähigkeit zu echter und leidenschaftlicher Liebe und Verbundenheit, die mit dem Archetyp des Liebenden einhergeht (Eros), und...