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Die ADHS-Lüge

Eine Fehldiagnose und ihre Folgen - Wie wir den Betroffenen helfen

AutorRichard Saul
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl317 Seiten
ISBN9783608107883
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
In den vergangenen Jahrzehnten hat es eine rasante Zunahme der Diagnosen und Arzneiverordnungen für ADHS-Patienten gegeben. Bundesweit wird 6,5 Prozent aller zehn- bis zwölfjährigen Jungen ein Präparat wie Ritalin verordnet. Substanzen, die unter das Betäubungsmittelgesetz fallen, gravierende Nebenwirkungen haben, abhängig machen können und die Betroffenen nicht heilen. Dabei gibt es, laut Saul, das Krankheitsbild ADHS überhaupt nicht. In Wirklichkeit liegen den beobachteten Symptomen ganz andere Störungsbilder zugrunde. Erkennt und therapiert man diese, so verschwinden auch bald die Symptome der Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsanzeichen.

Richard Saul, Prof. Dr. med., ist Pädiater und Nervenarzt mit fast 50-jähriger Erfahrung. Er war Ärztlicher Direktor der Health Maintenance Organization in Chicago und Vorstand der Pädiatrischen Abteilung am dortigen Highland Park Hospital.

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Leseprobe

Vorwort


Ich habe dieses Buch geschrieben, um zu provozieren. Nicht um des Provozierens willen, sondern weil ich seit Jahren mit den vielfältigen Problemen konfrontiert bin, die durch die Fehldiagnose einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Kindern wie auch bei Erwachsenen verursacht werden. Aufmerksamkeitsbezogene Symptome sind nur allzu real und haben negative Konsequenzen für Kinder, Erwachsene und die Gesellschaft im Ganzen; Betroffene haben im schulischen, beruflichen und sozialen Bereich mit Schwierigkeiten zu kämpfen, oft genug mit Folgen für das ganze Leben. Aber auch das Vertrauen der Schulmedizin in die ADHS-Diagnose – und deren bereitwillige Akzeptanz durch das gesamte Gesundheitswesen – hat eine Reihe negativer Konsequenzen gehabt: das Versäumnis, jene Störungen zu diagnostizieren, die den Aufmerksamkeitssymptomen zugrunde liegen und sie ganz oder zumindest teilweise erklären; den dadurch bedingten Verzicht auf eine eigentlich dringend notwendige Behandlung der jeweiligen Primärdiagnose; den gesundheitlichen, wirtschaftlichen und emotionalen Schaden, der durch nicht diagnostizierte und deshalb unbehandelte Erkrankungen entsteht. Ich habe dieses Buch geschrieben, um bei Ärzten, Patienten und anderen Interessierten ein sorgfältigeres Nachdenken über die beeinträchtigenden Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssymptome anzuregen, wobei ich natürlich hoffe, dass dadurch mehr Menschen die Hilfe erhalten, die sie benötigen.

Der Weg, auf dem ich meine Kenntnisse im Bereich der Aufmerksamkeitsdefizitsymptome erworben habe, nahm verschiedene Wendungen. Erste Erfahrungen machte ich als Professor für Klinische Medizin an der University of Health Sciences in Chicago. Dort entwickelte ich ab den 1970er Jahren Kurse und Programme, in denen Studierende und Fakultätsmitglieder etwas über Krankheiten erfuhren, die das Lernen beeinträchtigen können. Damals rief ich ein Programm ins Leben, das im Schulsystem des Lake County, Illinois (im Norden der Metropolregion Chicago), diejenigen Faktoren bestimmen sollte, die Kinder (vom Kindergarten bis zur achten Klasse) beim Lernen behinderten. Die grundlegende Frage dabei war: »Woran liegt es, dass manche Kinder nicht lernen?« Schon vom ersten Tag in den Schulen an fiel uns ein Aspekt besonders auf: Ein sehr hoher Anteil der Kinder – über 20 % – hatte Probleme mit der Aufmerksamkeit. Diese Probleme machten sich in Form von Lernschwierigkeiten und störendem Verhalten, aber auch als Traurigkeit und Zurückgezogenheit bemerkbar. Mit der Zeit entwickelte ich ein spezielles Protokoll zur Beurteilung von Kindern, die aufgrund von Aufmerksamkeitsproblemen oder anderen Dingen Lernschwierigkeiten hatten. Ich erinnere mich noch gut an den Stapel mit Aufsätzen, die ich bei Erstellung dieses Protokolls konsultierte: Er war höher als ich selbst, über 1,80 Meter!

Zu der Zeit teilte ich noch die konventionelle Ansicht über die Aufmerksamkeitsdefizit-Diagnose. Wir sagten damals allerdings noch Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom oder ADS (die »Hyperaktivität« kam erst später hinzu), was ja nach wie vor eine gängige Abkürzung für das hier zu diskutierende Phänomen ist. Zwei unserer Fragen lauteten: »Haben alle Kinder mit Lernschwierigkeiten ADS?« (dies war nicht der Fall), und: »Haben alle Kinder mit ADS Lernschwierigkeiten?« (bei den meisten war es so, wobei sie gleichzeitig auch höhere IQs als ihre Altersgenossen besaßen). Ohne mir damals darüber im Klaren zu sein, bildete eine der von mir für das Lake-County-Programm entwickelten Komponenten die Grundlage für meine später gewonnene Überzeugung, nach der es sich bei Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität nicht um eine Diagnose, sondern eher um Symptome handelt. Um unseren Medizinstudenten zu verdeutlichen, welche Probleme durch Aufmerksamkeitsdefizite entstehen, arrangierten wir eine Klassenzimmersituation und ließen sie »umgekehrte Ferngläser« aufsetzen, mit denen alles viel weiter entfernt wirkte, als es tatsächlich war. Aufgrund der gestörten Sicht neigten die Ferngläser tragenden Studenten dazu, Dinge vom Tisch zu stoßen oder beim Herumgehen im Klassenzimmer ihre Kommilitonen anzurempeln – zwei wichtige Anzeichen von ADHS. Außerdem setzten wir unseren Studenten Kopfhörer auf, über die sie Lehrstoff vermittelt bekamen, nur dass der Vortrag von kurzen Momenten der Stille (also Löchern im Gesagten) unterbrochen war. Auf die Art entstanden Verständnisprobleme, die ein weiteres Symptom von Aufmerksamkeitsdefizit oder einer Lernstörung sind. Rückblickend musste ich feststellen, dass ich nicht nur Aufmerksamkeitsdefizite simulierte, sondern auch ihre zugrundeliegenden Ursachen. Wie wir in späteren Kapiteln sehen werden, sind Probleme mit Sehvermögen und Gehör, oder auch nur kurzzeitige Absence-Anfälle, bei einer großen Anzahl von Patienten für die Diagnose ADHS verantwortlich. Es überrascht kaum, dass sich bei unseren Studenten in dem Moment, in dem sie Ferngläser oder Kopfhörer abnahmen, die »ADHS«-Symptome in Luft auflösten.

Unmittelbar nach den Erlebnissen an den Lake-County-Schulen prägte eine weitere Erfahrung aus einer gänzlich anderen Ecke meine Haltung zu Aufmerksamkeitsdefiziten. Die Mutter eines Patienten namens »Bobby«, einem Viertklässler, erzählte mir, die Lehrerin des Jungen habe um ein Gespräch mit ihr gebeten, weil Bobby regelmäßig den Unterricht störe. Wie seine Mutter mir sagte, habe sie das überrascht, denn sein Verhalten sei bis dahin stets tadellos gewesen. Ich bat sie herauszufinden, ob ihr Sohn sich den ganzen Tag so verhielt oder nur zu bestimmten Zeiten. Bei ihrem nächsten Besuch berichtete sie, Bobbys störendes Verhalten, bei dem er beispielsweise mit Gegenständen warf, mit Klassenkameraden redete oder mit den Fingern auf dem Tisch trommelte, trete nur im Mathematikunterricht auf. Außerdem erfuhr ich, dass Bobby erwiesenermaßen in mehreren Fächern begabt war und das gesamte Mathe-Pensum für die vierte Klasse bereits im ersten Monat des Schuljahrs absolviert hatte. Plötzlich machte das Verhalten meines Patienten mehr Sinn: Vermutlich war ihm einfach langweilig. Wie seine Mutter mir sagte, verlangte man von ihm, er solle »ruhig dasitzen«, während die anderen ihre Aufgaben lösten. Den Viertklässler, der das schaffte, hätte man allerdings erst erfinden müssen! Ich half Bobbys Mutter, den Jungen am Matheunterricht der fünften Klasse teilnehmen zu lassen. Sein störendes Verhalten war von einem Tag auf den nächsten verschwunden. Und ich konnte mitverfolgen, wie eine spezielle Befindlichkeit oder Eigenschaft – in diesem Fall Hochbegabung – sich in Aufmerksamkeitsdefizitsymptomen äußerte. Zwar blieb Bobby die ADHS-Diagnose erspart, doch es ist leicht ersichtlich, dass ein Kind wie er sie unter anderen Umständen leicht hätte erhalten können. Ein Kapitel dieses Buches ist Kindern wie Bobby gewidmet, deren Begabungen bisweilen zu Langeweile und schließlich zur Fehldiagnose ADHS führen.

In den frühen 1980er Jahren begann ich dann, mich intensiver mit meiner Hypothese zu Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität zu beschäftigen. Ich hatte ein mehrjähriges Bundesstipendium erhalten, um gemeinsam mit einem Sonderschuldirektor in einer landesweiten Kampagne auf die Lern- und Aufmerksamkeitsprobleme bei Kindern hinzuweisen. Unsere Arbeit steigerte aber nicht zuletzt mein eigenes Bewusstsein von den institutionalisierten Missständen, die mit den genannten Problemen im Zusammenhang stehen. Zum Beispiel wurde mir klar, dass Ärzte bei Kindern mit Aufmerksamkeits- und Lernproblemen gar keine umfassenden Untersuchungen durchführten, obwohl die American Academy for Pediatrics (US-Verband der Kinderärzte) und andere Gesundheitsorganisationen dies empfahlen. Dafür gab es mehrere Gründe. Einer davon war mangelnde Kenntnis (die Ärzte wussten einfach nicht, wie sie ihre Patienten untersuchen sollten), ein weiterer die Kostenfrage (die Kostenerstattung für die nötigen Untersuchungen wurde zunehmend schwierig). Diese und andere Beobachtungen bewegten mich im Jahr 1983 dazu, eine »Überweisungspraxis« zu eröffnen. Das ist eine Praxis, an die andere Ärzte, Psychologen oder auch Privatpersonen kranke Menschen überweisen oder vermitteln können, etwa wenn es sich um komplizierte Fälle handelt oder ein Patient auf eine Behandlung nicht anspricht. Viele der Patienten, die zu mir kamen, waren vorher schon bei mehreren Ärzten gewesen, aber ohne Erfolg.

Ein Jahrzehnt der Beschäftigung mit Überweisungspatienten bestätigte dann, was ich schon seit Jahren vermutet hatte: Die Symptome von ADHS lassen sich durch andere Erkrankungen oder Leiden besser erklären. Mit anderen Worten: ADHS, wie es derzeit verstanden wird, existiert als Krankheit nicht. Bei der Mehrzahl der Patienten, die mit der Diagnose ADHS in meine Praxis kamen, konnten alternative Diagnosen die Symptome erklären. Viele Patienten waren nicht einmal krank. Bei anderen, für die alternative Diagnosen in Frage kamen, hatten die bisherigen Ärzte diese als komorbide (parallel auftretende) Erkrankungen von ADHS diagnostiziert. Sobald ich anfing zu behandeln, was sich mir als eigentliche Diagnose präsentierte (also nicht die ADHS-Diagnose), verschwanden die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssymptome in der Regel, was mir immer klarer machte, dass »ADHS« das Produkt anderer Leiden und mitnichten eine eigenständige Erkrankung ist.

Wie Sie sich vorstellen können, waren meine Patienten und ihre Familien sehr erleichtert, endlich über eine Diagnose zu verfügen, die Sinn machte, und außerdem eine Therapie zu haben, die tatsächlich anschlug. Im Zuge des Erfolgs, den ich bei der Behandlung von Kindern hatte, geschah etwas höchst Interessantes: Etliche Eltern sagten, sie selbst...

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