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E-Book

Die Anfänge der Deutschen

Der Weg in die Geschichte

AutorJohannes Fried
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl1056 Seiten
ISBN9783843711692
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis36,99 EUR
WORUM GEHT ES? Wer waren die Menschen, die Deutschland schufen? Woher kamen sie, was prägte sie, was wollten sie? Welche Sprache sprachen sie, wie lebten sie, was dachten sie? Strebten sie nach staatlicher Einheit, oder war ihnen ihre Stammeszugehörigkeit genug? Diesen und zahlreichen anderen Fragen zu den Anfängen der Deutschen in der Mitte Europas geht Johannes Fried, führender Mediävist unseres Landes, in seinem großen Werk auf den Grund. Er entwirft ein weites Panorama der Epoche zwischen dem 6. und dem 11. Jahrhundert, als mit der Herausbildung des karolingischen Reiches die Wurzeln des späteren Deutschland gelegt wurden. Der Band erscheint in einer überarbeiteten, mit aktuellem Vorwort des Autors versehenen Neuausgabe. WAS IST BESONDERS? Eindringlich und fesselnd schildert Fried die Anfänge der Deutschen in der Mitte Europas, ihre vielfältigen Wurzeln in Ost und West und ihren mühsamen Weg zu sprachlicher und kultureller Einheit. Geschichtsschreibung, wie man sie sich wünscht. WER LIEST? • Leser der Bestseller von Johannes Fried (»Karl der Große«, »Das Mittelalter«) • Liebhaber historischer Epochendarstellungen

Johannes Fried, geboren 1942 in Hamburg, zählt zu den international renommiertesten Mediävisten unserer Zeit. Von 1983 bis 2009 hatte er den Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt/Main inne. Er war lange Vorsitzender der Historischen Kommission, ist Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Gremien und wurde mit vielen Auszeichnungen geehrt.

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Leseprobe

Land und Leute


Das Land


Wälder, wohin die Blicke reichten, wirkliche und sagenhafte. Andernorts Sümpfe. Das Land war unwegsam. Auerochsen, Bären, Wildschweine, reißende Wölfe, auch barbarische Menschen machten es gefährlich. »Wer würde schon ohne Gefahr Asien, Afrika oder Italien aufgeben, um nach Germanien zu ziehen, in jenes abstoßende Land mit seinem rauen Klima, seiner unfreundlichen Kultur und Erscheinung!« Nicht ohne Hintersinn zeichnete Tacitus sein Bild von den Gebieten östlich des Rheins und nördlich der Donau. Ein moderner Geograph, Otto Schlüter, publizierte 1952 eine Karte »Die Siedlungsräume Mitteleuropas« während des früheren Mittelalters, welche, wohin man sieht, nur Wälder, Sümpfe, Ödländer zeigte.

Schlüters Karte präsentierte den einzigartigen, bis heute nicht wiederholten Versuch, genetische Landschaftsforschung großräumig ins Kartenbild umzusetzen – ein schwieriges, ein mutiges Unternehmen, das mit vielen Unbekannten rechnen musste. Die wissenschaftliche Kritik blieb deshalb nicht aus; zahlreiche Einzelheiten waren und sind zu korrigieren. Das Beste an dieser Karte sei, dass es sie gäbe, meinte der französische Siedlungshistoriker Charles Higounet. Die neue Methode der Landschaftsarchäologie, die sich weiträumig und vergleichend vor allem auf die systematische Pollenanalyse in den einzelnen übereinanderliegenden Erdschichten stützt, wird ein in mancherlei Hinsicht präzisiertes Bild liefern und vielerorts eine offene, von Menschen besiedelte Landschaft zeigen. Doch der Gesamteindruck bleibt und bestätigt aufs Ganze Tacitus. Ein Meer von Grün, Orange und Rot – Schlüters Symbole der siedlungsabweisenden Regionen – verschlingt die kleinen weißen, von Menschen bewohnten Inseln.

Kein mittelalterlicher Zeitgenosse beschrieb indessen, was diese Karte des 20. Jahrhunderts erfasste und was Tacitus schaudern ließ. Mochten auch die Dichter des früheren oder hohen Mittelalters den Wald als bedrohliche Einöde, als düstere Gegenwelt, ungeformtes Chaos, als die rohe Materie, aus der Gott die Welt erschuf, apostrophieren, Grundherren und freie Unternehmer mühsam rodend in diese Urwälder eindringen, keiner überschaute, wie endlos, wie unberührt diese Wüste, wie herb das Land war, das er bewohnte, und keiner beschrieb, wie dünn gestreut die menschlichen Behausungen sich in ihm verteilten. Tacitus dachte an keine wirklichkeitsgemäße Landesbeschreibung; er folgte einem Klischee. Alles, was das römische Imperium auszeichnete, fehlte in Germanien. Keine großartigen Bauten, keine prunkvollen Tempel, Foren, Theater, keine Städte, nicht einmal geschlossene Siedlungen milderten den Eindruck erbärmlichster Armseligkeit, den der vom Glanz der Hauptstadt, des »goldenen Rom«, und des Reiches verwöhnte Literat von jenen fernen Regionen besaß; allenfalls heilige Haine, bunt bemalte Hütten und mit Mist gedeckte Erdlöcher als Wohnstätten galt es zu erwähnen. Getreide gedieh hier, Edelobst aber nicht. Viehherden bildeten den Reichtum der Landesbewohner. Abstoßend schrecklich, bestenfalls kurios war das alles für die urbanen Römer, die – vergebens – versucht hatten, das Land zu erobern.

Die Deutschen betraten und bestellten ihr künftiges Land nicht als Erste. Es hatte, bevor es zu Deutschland wurde, eine lange Natur- und Kulturgeschichte hinter sich, die es bewahrte und deren Erbe die Deutschen übernahmen. Denn diese waren die Kinder des Landes, dessen formender Kraft sie unterlagen. Die Jahrtausende seit der letzten Eiszeit hatten ihm einen Charakter aufgeprägt, der fortwirkte, unabhängig davon, welche Menschen und welche Völker sich hier etablierten. Die naturräumlichen Gegebenheiten, Bodenrelief, Klima, Bodenqualität, Wasserhaushalt, Flora und Fauna, beherrschten alle kulturelle Entfaltung und Zivilisation. Sie zwangen die vorgeschichtlichen Jäger wie die späteren Siedler dazu, günstige Gebiete aufzusuchen, andere zu meiden, leiteten das Kulturwerk der Menschen und begrenzten dessen Entfaltungsspielraum.

Doch der Mensch wirkte, seitdem er in der jüngeren Steinzeit zum ortsfesten Viehzüchter und Ackerbauern wurde, mit einer Hartnäckigkeit auf die Natur ein, die ihr bleibende Wunden schlug. Er schrieb der Erde seine Wünsche und Ziele, seine Erkenntnisse und Irrtümer, seine Vergehen ein. Er war Täter und Opfer zugleich. Die Nachkommen büßten für die Fehlleistungen ihrer Vorfahren, und indem sie deren Folgen zu entrinnen trachteten, schädigten sie die Natur umso schlimmer. Sie rächte sich an den Enkeln. Eine Eskalation reaktiver Wirkungen und Taten setzte in der Steinzeit ein, die das Mittelalter beschleunigte und die bis heute nicht endete. Die Erde aber konservierte alle Narben, welche diese »Dialektik« von Natur und Kultur ihr schlug.

Auch der Mensch litt. Hunger und Wetter setzten ihm zu. Das Klima war niemals eine stabile Größe, die er kalkulieren konnte. Er musste sie hinnehmen, wie sie über ihn kam, doch er suchte sich zu wehren. Feuchte und trockene, kühlere und wärmere Perioden wechselten einander in unregelmäßigen Rhythmen ab. Sie hemmten oder förderten die Lebensbedingungen. Zwischen dem 6. und 3. Jahrtausend v. Chr. herrschten vermutlich wesentlich günstigere Verhältnisse als heute. Nach einer Übergangsphase im 1. Jahrtausend folgte eine bald stärker, bald schwächer wirksame Klimaverschlechterung. Es wurde kühler und nasser. Die Kälte brach plötzlich herein und hielt lange. Erst als es auf die nachchristliche Jahrtausendwende zuging, näherte sich abermals ein Klimaoptimum; es wurde wieder wärmer in Mitteleuropa. 870 starben die Leute bei der Ernte am Hitzschlag, 873 zogen Heuschreckenschwärme über Europa und verkündeten Hunger.

Die ältere Steinzeit, als nur der Fuß des Jägers und Sammlers die Erde drückte, hat wenig heute noch sichtbare Spuren hinterlassen. Selbst die bildgeschmückten Felsen und Höhlen fehlen in Mitteleuropa. Doch seit der altneolithischen Bandkeramik, seit etwa der zweiten Hälfte des 6. vorchristlichen Jahrtausends, mitten in einer feucht-warmen Klimaphase, nahmen bäuerliche Siedler vom Land Besitz und begannen, es im Schweiß ihres Angesichts langsam, aber unaufhaltsam zu verändern. Sie kamen über den Südosten Europas aus dem Vorderen Orient, stießen, ausgestattet mit ihrem steinzeitlichen Wissen, entlang der Donau zum Rhein und weiter ins Pariser Becken, über March und Elbe nach Mitteldeutschland vor, in für sie unbekannte Gebiete, die sie gegen Ende des 5. Jahrtausends erreichten; um die Mitte des 4. Jahrtausends landeten sie in Britannien. Sie brachten eine andere Einstellung zu ihrer Umwelt und neue Lebensformen mit: Sesshaftigkeit, Hausbau und Feldbestellung, dazu die neuen Nutzpflanzen, die sie anbauten, die ihren Speisezettel bis in die Römerzeit bestimmten und die ihnen, so eintönig und witterungsanfällig sie sich aus späterer Sicht ausnehmen, eine bessere Ernährung garantierten als allen älteren Kulturen. Das Mehl lieferten Emmer und Einkorn, selten Gerste oder Hirse, begehrt waren Lein und Hülsenfrüchte wie Erbsen und Linsen. Fremdartige, ökologisch nicht ungefährliche Haustiere wie Ziegen und Schafe tauchten mit ihnen auf, auch umwälzende Techniken wie die Töpferei und die Fähigkeit zum Schleifen und Bohren der Steingeräte. Sie bedienten sich einer unbekannten, wohl noch nicht der »indogermanischen« Sprache und praktizierten neuartige Kulte. Sie verstanden, Vorräte zu halten. Aus den einheimischen Wildformen züchteten sie Hausrind und Hausschwein, später auch Pferde; zur Jagd gingen sie selten.

Im Westen, am Rhein, begegneten diese Bauern den Menschen einer anderen protoneolithischen Kultur, die gleichfalls Keramik herzustellen verstanden, um die Bedeutung des Mohns wussten und wohl Beziehungen nach dem Südwesten Frankreichs aufwiesen, wohin sie auf mittelmeerischen Wegen gleichfalls aus dem Vorderen Orient gelangt sein dürften. Bis zum Ende der Ottonenzeit floss alle höhere Kultur aus dem Süden nach Mitteleuropa, wo sie anderen Kulturen begegnete und neue hervorbrachte. Die neolithischen Neuankömmlinge fielen nicht in großen Scharen ins Land, sie sickerten eher in kleinen Gruppen ein und drangen immer tiefer in nahezu menschenleere Gebiete vor; die Wirkung war dennoch umwälzend. Die Reproduktionsrate dieser Leute lag höher als die der Vorbevölkerung und könnte frühzeitig an den Rand der Tragfähigkeit des ältesten Kulturlandes geführt haben. Sie schlugen einander tot, wie einige der seltenen Skelettfunde zu erkennen geben. Überhaupt dürften in der Vorzeit, als das Land nur eine dünne Bevölkerung zu tragen hatte, bereits verhältnismäßig kleine Migrationsbewegungen, an denen sich nur wenige Tausend Menschen beteiligten, große Folgen gezeitigt haben. Die letzten mesolithischen Jäger lebten wohl eine Weile neben den neuen Bauern, bevor sie vollends verdrängt und assimiliert wurden und die bäuerliche Kultur sich über das ganze Land verbreitete. Insofern steht nicht einmal fest, in welchem Umfang fremde Einwanderer kamen oder ob nur eine fremde Kultur, die durch Einzelne vermittelt wurde, das Land überformte.

Älteste Siedlungszonen entstanden, die trotz späterer eng- oder weiträumiger Fluktuation der Landbewohner nie mehr völlig aufgegeben wurden. Urzeitliche Wege gestatteten eine gewisse Kommunikation. Fruchtbare und ohne großen Aufwand zu bestellende »leichte« Böden im Löß wurden zunächst bevorzugt, während man auf »schwere« Böden wohl nur bei Notlagen auswich. Ihre großflächige Bearbeitung verlangte einen höheren technischen Stand der Ackergeräte und eine verbesserte Zusammenarbeit von Mensch und Tier, die erst...

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