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E-Book

Die Angst vor Zurückweisung

Was Hysterie wirklich ist, und wie man mit ihr umgeht

AutorHeinz-Peter Röhr
VerlagPatmos Verlag
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl180 Seiten
ISBN9783843610612
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
'Du bist ja hysterisch', sagt man, wenn jemand übertrieben gefühlsbetont reagiert und aus der Mücke einen Elefanten macht. In der Psychotherapie bezeichnet Hysterie jedoch eine ernst zu nehmende Störung. Betroffene machen ihr Leben zu einer Inszenierung. Sie dramatisieren, manipulieren oder legen ein labiles kindliches Verhalten an den Tag. Das alles dient dazu, Trubel und Konfusionen zu erzeugen, womit hysterische Personen ihre tiefsitzende Angst vor Zurückweisung übertünchen. Einfühlsam zeigt Heinz-Peter Röhr, wie der unbändige Hunger nach Aufmerksamkeit entsteht und wie Betroffene einen Weg finden, ihr Selbstwertgefühl zu stärken, ohne 'Theater zu spielen'.

Heinz-Peter Röhr ist Pädagoge und war über dreißig Jahre lang an der Fachklinik Fredeburg/Sauerland für Suchtmittelabhängige psychotherapeutisch tätig. Im Patmos Verlag hat er viele sehr erfolgreiche Ratgeber u.a. zu den Themen Narzissmus, Selbstwert, Selbstliebe, emotionale Abhängigkeit, Borderline und Sucht veröffentlicht.

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Leseprobe

2. Die hysterische Persönlichkeitsstruktur


Hysterische Persönlichkeitsmerkmale


Das Hysterische gehört zum Menschen; es ist Bestandteil seiner Psyche. Alles Künstlerische, Fantasievolle, Schöpferische und Musische kommt aus der Tiefe des Unbewussten. Die Freude am Spiel, am Theater, an starken Gefühlen gehört zu einer heilen Persönlichkeit. Man kann sagen, dass jeder eine gesunde Portion Hysterie in sich tragen sollte. Viele Künstler haben eine hysterische Persönlichkeitsstruktur, die ihre Kreativität begünstigt. In Gesellschaft von Hysterikern wird es nie langweilig, alles ist farbig und plastisch, vielleicht sogar kreativ und lustig.

Aber ein Übermaß an hysterischen Merkmalen und Tendenzen kann das Leben schwierig und leidvoll machen. Wenn das Hysterische den Charakter eines Menschen dominiert und wenn die Probleme schwerwiegend, umfassend und dauerhaft sind, spricht man von einer hysterischen Persönlichkeitsstörung. Eine Beschreibung fällt allerdings nicht leicht, weil die Symptomatik so facettenreich ist. Die Forschung hat unterschiedliche Akzente gesetzt. Das Hysterische findet sich sowohl im alltäglich »normalen« Verhalten als auch bei schwer gestörten Patienten.

Einigkeit besteht jedoch weitgehend darin, dass es sich um ­Personen handelt,

die zu Dramatisierungen und theatralischem Verhalten neigen;

die auf äußere Veränderungen stark reagieren, entweder mit starker Angst oder Wut, eventuell aber auch mit großer Freude;

die häufig egoistisches Verhalten zeigen, weil sie sich ganz selbstverständlich um die unmittelbare Befriedigung ihrer Be­dürfnisse kümmern;

die eine starke Neigung in sich tragen, sich auf kindliche Weise selbst von anderen Personen abhängig zu machen und diese auf die eigenen Bedürfnisse zu fixieren; dabei geben sie allerdings nicht den Anspruch auf, selbst unabhängig zu sein;

die emotional labil sind, zu oberflächlichen Gefühlen, starken Gefühlsschwankungen sowie launischem Verhalten neigen;

die sich häufig verführerisch (sexy) zeigen, um von anderen bewundert und gemocht zu werden;

die ständig um ihr eigenes Wohlergehen besorgt sind;

mitunter wenig Einfühlungsvermögen für andere zeigen oder ihr Mitgefühl übertrieben (unecht) äußern;

die leicht verführbar (suggestibel) für sich und andere sind.

Nicht alle Kriterien müssen erfüllt sein. Siehe hierzu auch die Diagnose der histrionischen Persönlichkeitsstörung im Anhang.

Warum aber werden drei doch so unterschiedliche Erscheinungsformen – Dissoziation, Konversion und hysterischer Cha­rakter – als hysterisch bezeichnet? Auf den ersten Blick ist dies auch nicht leicht zu erkennen. Aber es besteht die entscheidende Gemeinsamkeit, dass es sich immer um eine Darstellung, eine Demonstration von irgendetwas handelt. Jemand versucht be­wusst, häufig auch unbewusst, sich anders darzustellen, als er in Wirklichkeit ist. Nur der aufmerksame Beobachter spürt intuitiv, dass es sich um ein Schauspiel handelt. Es gibt oft kaum objektive Beweise dafür, dass es sich um eine Inszenierung handelt, und Betroffene werden häufig die »Wahrheit« vehement zurückweisen, auch wenn die Fakten für sich sprechen.

Eine gewisse Gefahr besteht auch in einer Fehlinterpretation und Willkür der Beobachter. Symptome werden nicht ernst genommen, werden als hysterisch abgetan, abgewertet und zu­rückgewiesen. An dieser Stelle wiederholt sich das Drama der Hysteriker, denn Zurückweisung ist die Wurzel der hysterischen Dynamik. Unbewusst bringen Hysteriker andere Menschen dazu, sie zurückzuweisen. Therapeut und Patient müssen daher Verbündete im gemeinsamen Ringen um die Realität sein. Oft sind Psychotherapeuten die ersten, die hysterische Symptome als das nehmen, was sie in Wirklichkeit sind: kluge Botschaften des Un­bewussten.

Die lebensgeschichtliche Entwicklung


Zur Entstehung einer hysterischen Persönlichkeitsstruktur gehört immer auch eine bestimmte genetische Disposition. Die Bedeutung der Gene rückt wieder ins Zentrum der Aufmerk­samkeit, nachdem man lange Zeit versucht hat, alles vor dem Hintergrund psychischer Entwicklung zu erklären. So wie es introvertierte Menschen gibt, die eher zurückhaltend auf die Welt reagieren, ist für die hysterische Person das lebhafte Temperament typisch. Begabung zur Schauspielerei und die Lust an Selbstdarstellung gehören ebenso dazu wie Kontaktfreude, ­Spontaneität und Geltungsdrang. Oft gehört körperliche Schönheit zu den Anlagen, die besondere Aufmerksamkeit erregen. Schon als Kinder erfahren diese Menschen Bewunderung und lernen, dass sie etwas Besonderes sind. Sie müssen nicht viel tun, um von anderen geliebt zu werden. Sie erleben Verwöhnung und entwickeln eine übertriebene Anspruchshaltung.

Zur hysterischen Persönlichkeit gehört vor allem das unbedingte Bedürfnis, ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu gelangen. Tritt jemand mit einer hysterischen Persönlichkeit in das besetzte Wartezimmer eines Arztes, wird dies auf die Wartenden sehr rasch Eindruck machen. Die Aufmerksamkeit aller wird, wie von einem Magneten angezogen, auf die hysterische Persönlichkeit gelenkt. So wie sie sich in Szene setzt, sich bewegt, wie sie jemanden anspricht und viel zu laut eine Meinung äußert oder auch Blickkontakt sucht, wird es schwer, sich diesem Szenarium zu entziehen.

Frau I. betritt mit ihrem sechsjährigen Sohn das Wartezimmer eines Arztes. Das Ablegen von Mütze und Anorak wird zelebriert, der Junge laut nach dem Wellensittich gefragt. Eine Bekannte, die sie vielleicht einmal auf der Straße getroffen hat, wird wie die beste Freundin begrüßt. Beiläufig erfahren alle Anwesenden, dass der Junge schon lesen konnte, bevor er in die Schule kam, dass aber die gesamte Schulklasse im Rechnen weit zurück sei, der zuständige Lehrer schon seit zwei Wochen krank sei und das Gerücht umgehe, er strebe seine Pensionierung an, und dass dies den Beamten viel zu leicht gemacht werde und überhaupt ein Skandal sei …

Solche Menschen suchen Beachtung und Aufmerksamkeit; es ist für sie nur schwer erträglich, wenn ihnen dies nicht gelingt. Lieber negative Aufmerksamkeit als keine! Lieber Streit als gar keine Beachtung! Dies macht das Zusammenleben, etwa in einer Partnerschaft, schwierig.

Im Märchen sind die Schellen, die Hans seiner Frau umhängt, das Symbol für ihre hysterische Persönlichkeitsstruktur. Wir kennen dies von Figuren wie Narr, Clown, Harlekin und Bajazzo: sie alle tragen Schellen an ihren Gewändern. In diesen Kostümen wird das Hysterische spielerisch zum Ausdruck gebracht. In jedem von uns gibt es Tendenzen und Elemente dieser seltsam- lustigen Figuren, die mitunter jedoch verdrängt und verschüttet sind. Ihr Ziel ist es, in einer anderen Person bestimmte Gefühle zu erzeugen. Man möchte sie anstecken, besser: verführen und ihre eigene Verrücktheit wecken. Sie sollen in die Stimmung und die Welt der Künstler und Narren eintauchen. Erwachsene lassen sich vielleicht nicht infizieren, sie bleiben distanziert und abgeklärt, aber Kinder sind wesentlich empfänglicher, weil sie zu diesen Bereichen ihrer Seele noch Zugang haben. Um mit Nachdruck auf sich aufmerksam zu machen, setzten diese Figuren zusätzlich bunte Schminke, grelle, leuchtende Farben und schrille Töne ein.

Das Spiel gehört zum Menschen und besonders zu kleinen Kindern. Jeder kennt ihr Verhalten, wenn sie z.B. keine Lust haben, zu Bett zu gehen. Sie spielen ein Spiel, und Kinder spielen gern Theater: Das Kind hat plötzlich Durst oder muss dringend zur Toilette; es hat Hunger oder Bauchschmerzen. Erfahrene Eltern akzeptieren ein solches Spiel eine Weile lang mit einem Schmunzeln und machen dann deutlich, dass sie das Theater durchschauen, und setzen Grenzen. Für den gesunden Entwicklungsprozess ist es nicht gut, wenn Kinder mit ihren Eltern nach Belieben spielen können. Kinder merken sehr schnell, mit welchen Tricks sie Vater oder Mutter zum Nachgeben bringen und – meist verhängnisvoller – gegeneinander ausspielen können. ­Leider haben immer mehr Eltern Angst vor ihren Kindern: Sie fürchten zornige Ausbrüche, lautstarke Beschimpfungen, Abwertungen oder kalten Rückzug. Mitunter beginnt der Terror bereits im Säuglingsalter. Kinder spüren, dass ihre Eltern ihnen nicht gewachsen sind, und setzen ihre Bedürfnisse rücksichtslos durch. Sie lernen, dass sie mit ihrem Spiel Erfolg haben, und wenden diese Verhaltensweisen immer wieder an.

Bei Hysterikern war das Erziehungsmilieu oft chaotisch, wirr, unklar und unbeständig. Gerade als das Kind klare Grenzen und Vorgaben brauchte, war in einer solchen Atmosphäre eher Willkür die Regel. Oft waren die Eltern widersprüchlich in ihren Vorgaben. Nicht selten war das Elternbild gespalten, strenger Vater und verwöhnende Mutter oder umgekehrt. In der Erziehung arbeiteten sie gegeneinander, und selbstverständlich fand das Kind für sich den bequemsten Weg, um sich etwa vor unangenehmen Aufgaben zu drücken. So blieb es in einer ansprüchlichen Passivität.

Was in der Erziehung wirklich zählt, ist das Vorbild, und in diesem Punkt wurden die Regeln auch von Eltern oft nicht wichtig genommen, nach der Devise: Wenn es dem eigenen Vorteil dient, kann man immer mal ein Auge zudrücken. Insgesamt mangelte es in der Erziehung daran, dass Regeln eingehalten wurden. Es fehlt die Erfahrung, dass Leistung und Engagement Spaß machen können und zu einem stabilen Selbstwertgefühl führen.

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