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E-Book

Die Anti-Depressions-Strategie im Alter

AutorMichael Hüll
VerlagKreuz
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783451336812
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis6,99 EUR
Hinter körperlichen Störungen verbirgt sich im Alter oft eine Depression. Wichtig für Betroffene und ihre Angehörigen ist, dass dies frühzeitig erkannt und aktiv angegangen wird - mit der richtigen Hilfe und sinnvollen Maßnahmen zur Selbsthilfe. Das Buch bietet alles, was man wissen muss, fachkundig und lebensnah erklärt vom Leiter des Freiburger Zentrums für Geriatrie und Gerontologie. Mit Selbsttest und 10-Punkte-Präventionsprogramm.

Michael Hüll, Prof. Dr., Ärztlicher Leiter des Zentrums für Geriatrie und Gerontologie des Universitätsklinikums Freiburg und ausgewiesener Fachmann für das Thema Altersdepression.

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Leseprobe

An der Schnittstelle zwischen Leib und Seele


Wer sich den Herausforderungen seines gegenwärtigen Lebens gewachsen fühlt, nicht beständig über die Vergangenheit grübelt und der Zukunft gelassen entgegensieht, der ist nicht depressiv. Zum Glück verbringen die meisten Menschen ihr Leben zum großen Teil in diesem Zustand. Aber fast jeder Fünfte bis Zehnte muss sich für mehrere Monate bis Jahre durch eine Lebensphase kämpfen, in der eine Depression diesen Zustand aufhebt.

Die meisten Menschen durchleben eine erste depressive Episode vor dem 40. Lebensjahr. Ein erstmaliges Auftreten ist aber auch nach dem 60. Lebensjahr möglich. Gerade eine erste Depressionsphase in diesem Alter kann zu einer schweren Krise werden und eine Behandlung erfordern. Erstmalig nach dem 60. Lebensjahr betroffene Menschen und ihre Angehörigen haben große Schwierigkeiten, die verschiedenen Symptome der Depression einzuordnen. Oft werden diese Veränderungen längere Zeit auch als Hinweise auf andere körperliche Erkrankungen oder als ein altersgemäßer Rückzug gewertet.

Die Depression trifft genau die Schnittstelle zwischen Leib und Seele. Zum besseren Verständnis, was alles mit einer Depression einhergehen kann, dient die folgende Aufzählung:

 

Schlafstörungen

Ein- und Durchschlafstörungen finden sich regelhaft bei Depressionen. Besonders charakteristisch ist das morgendliche Früherwachen, meist verbunden mit einer ängstlichen Grundstimmung bezüglich des kommenden Tages. Aber auch Einschlafstörungen oder häufiges Kurzzeiterwachen sind typisch. Diese Symptome können im Sinne einer altersbedingten Schlafabnahme falsch gedeutet werden.

 

Appetitverlust

Der Verlust des Interesses am Essen und ein nachfolgender Gewichtsverlust sind ein klassisches Zeichen, dass eine Krankheit vorliegt. In jedem Lebensalter gibt es dazu eine Liste unterschiedlicher möglicher Erkrankungen. Diese Liste wird im Alter länger. Bei der Depression ist der Gewichtsverlust bei kontrolliertem Essen – das bedeutet, dass der Betroffene trotz Appetitverlust aus Vernunftgründen in Gesellschaft isst – überwindbar. Sich zum Essen zu zwingen ist aber keine dauerhafte Lösung.

 

Verlust des Interesses und des Antriebs

Antriebslosigkeit ist ebenfalls ein klassisches Krankheitszeichen, bei einer Altersdepression kann es sogar das vorherrschende Symptom sein. Neuigkeiten von der eigenen Familie und Tagesnachrichten werden nicht mehr verfolgt, zuvor gern ausgeführte Beschäftigungen ruhen, körperliche Bewegung wird reduziert, Begegnungen mit anderen werden vermieden. Dies kann bis zu einem vollständigen Rückzug ins Bett bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Körperpflege führen. Gelegentlich kann dieses Verhalten durch eine Aktivierung von außen durchbrochen werden. Eine äußere Auforderung zum Aufstehen und Essen wirkt aber meist nur kurzfristig, eine Therapie muss auf ein Wiedererstehen des eigenen Antriebs setzen.

 

Konzentrations- und Gedächtnisstörungen

Störungen in der Ablaufplanung sind bei Depressionen häufig. Dies macht sich beim gleichzeitigen Durchführen mehrerer Tätigkeiten besonders bemerkbar. So können mehrere Herdplatten kaum parallel genutzt werden, sind neue Fernbedienungen, Computer oder komplexere Geräte nur schwer bedienbar und Aufgaben mit schnellem Reaktionswechsel, zum Beispiel Kartenspielen, mit häufigen Fehlern behaftet. Auch die automatische Erinnerung an geplante oder regelmäßige Aufgaben, zum Beispiel Müll herausstellen zur Leerung, Butter einkaufen etc., ist reduziert. Während im jüngeren Lebensalter dies oft als »Schusseligkeit« abgetan wird, werden diese Symptome im späteren Lebensalter oft als Zeichen einer beginnenden Demenz fehlgedeutet.

 

Kopf-, Bauch- und Gliederschmerzen

Wo sonst als in unserem Körper sollen wir Schmerzen empfinden? Der Ausdruck Seelenschmerz ist in unserer Zeit nicht mehr gebräuchlich. Depressionen können aber Schmerzen erzeugen, die keiner gebräuchlichen Abgrenzung auf einzelne körperliche Schmerzeinheiten folgen. Redensarten wie »Das macht mir Kopfschmerzen« oder »Das schlägt mir auf den Magen« können auch mögliche Auswirkungen von Depressionen auf die Körperwahrnehmung beschreiben.

Zusätzlich sorgt die Depression für häufiger auftretende Erinnerungen negativer Erfahrungen. Versuchen Sie mal, sich an Ihren unangenehmsten Zahnarztbesuch zu erinnern. Die strahlende Lampe, das Geräusch des Bohrers, die Anstrengung, den Mund offen zu halten. Spüren Sie jetzt diese Missempfindung im Kiefer? So wie die Depression das Erinnern und Empfinden von Schmerzen verstärken kann, können positive Emotionen das Schmerzempfinden mindern. So kommt es, dass trotz aller Widrigkeiten die zu engen, aber schönen Schuhe für die Dauer einer Feier toleriert werden.

Häufiger als dass Schmerzen aus einer Depression heraus entstehen kommt es vor, dass vorher bestehende Schmerzen in depressiver Verfassung verstärkt wahrgenommen werden. Menschen mit einer Depression erleben eine wesentliche Zunahme ihrer Schmerzempfindung. Deshalb sind die meisten Schmerztherapien bei einem depressiven Menschen zum Scheitern verurteilt, wenn nicht auch eine Depressionstherapie stattfindet. Die Frage, ob Schmerz oder Depression Henne oder Ei sind, ist für die Therapie belanglos. Die Beziehung zwischen Schmerzwahrnehmung und Stimmung sind wechselseitiger Natur. So sorgen chronische Schmerzen verständlicherweise für eine gedrückte Stimmung, aber eine gedrückte Stimmung verstärkt auch wieder die Schmerzwahrnehmung.

 

Entscheidungsschwierigkeiten

Über das erhebliche Ausmaß der Konzentrations- und Antriebsstörung hinaus besteht bei Menschen mit einer Depression eine hochgradige Unentschlossenheit und Wankelmütigkeit. Hierbei geht es nicht um große Fragen wie einen Umzug oder eine Anschaffung im Wert von vielen tausend Euro. Die Unentschlossenheit zeigt sich bereits bei der Auswahl einer Zahnpasta, der Frage, ob ein Telefonanruf erfolgen oder eine Tablette eingenommen werden soll. Hierbei bleibt oft unklar, welche mehr oder weniger dramatischen Befürchtungen mit der jeweiligen Entscheidung verbunden werden. Und der Zeitaufwand des Überlegens erscheint in Bezug auf die Bedeutung der Entscheidung vollkommen unverhältnismäßig. Diese hochgradige Wankelmütigkeit kann aber durch eine klare Einstellung anderer umgebender Menschen beeinflusst werden. Ist die Umgebung auch unentschlossen, kann aufgrund der Ambivalenz oft nicht einmal ein klitzekleiner Schritt gegangen werden.

 

Zeitwahrnehmung, Verlangsamung, Gefühl des Unwirklichen und der Fadheit

Eine typische Schilderung von Menschen mit einer Depression betrifft eine veränderte Zeitwahrnehmung. So können Stunden des Alleinseins oft wie Tage empfunden werden. Gleichzeitig bewegen sich Menschen mit einer Depression oft wie in Zeitlupe. Viele positive Begebenheiten erscheinen ihnen leicht unwirklich, grau oder verfremdet. Das Essen kann wie Pappe schmecken, Musik dumpf klingen. Der ganze Tag ist grau.

 

Negative Selbstsicht

»Mach es wie die Sonnenuhr, zähl die guten Stunden nur.« Nach dieser Lebensweisheit verfährt unser autobiografisches Gedächtnis beim Abrufen von Erinnerungen in gesunden Stunden. Deshalb fallen uns häufig positive Begebenheiten aus der Vergangenheit ein. Darum war die alte Zeit oft gut, obwohl wir natürlich genau wissen, warum wir nicht in die gute alte Zeit zurück wollen. Der Effekt, dass wir uns spontan in guten Zeiten hauptsächlich an positive Ereignisse aus der Vergangenheit erinnern, ist ein Effekt des selektiven Abrufens, nicht der selektiven Einspeicherung. Das autobiografische Gedächtnis, dieser Fahrtenschreiber unseres Lebens, ist nicht wie die Sonnenuhr in den düsteren Stunden des Lebens durch die Verschattung in der Aufzeichnung beeinträchtigt. Im Gegenteil, auch die düsteren Kapitel wie Enttäuschung, Trennung, Tod oder eigene Verfehlungen werden im autobiografischen Gedächtnis festgehalten. Solange dieser Fahrtenschreiber aber aktuell im Bereich »Wohlbefinden« seine Markierungen setzt, werden uns spontan kaum alte Erinnerungen aus den Phasen »Missempfinden/Scheitern« ins Bewusstsein treten. Darum erscheint die Erinnerung an die eigene Vergangenheit bei gegenwärtigem Wohlbefinden auch immer deutlich harmonischer als in Phasen von aktuellem Missempfinden.

Eine starke Beschäftigung mit negativen Erinnerungen findet sich deshalb häufig bei Menschen mit einer Depression, deren Fahrtenschreiber im Bereich Missempfinden wie ein Plattenspieler bei einem Kratzer festhängt.

 

Die Zukunft ist schwarz

Es sind nicht die Dinge, die uns Angst machen, sondern unsere Vorstellung von ihnen. Menschen mit einer Depression sehen alle Probleme oder aber auch nur mögliche Schwierigkeiten wie durch ein Brennglas vergrößert. Sie fürchten eigene gesundheitliche Verschlechterungen oder bangen um Leib und Leben von zum Teil deutlich jüngeren Angehörigen. Sie ängstigen sich vor Inflation und Verlust der wirtschaftlichen Grundlagen, vor Einbrechern und Räubern. Auch wenn alle diese Ängste eine nachvollziehbare Wurzel haben, ist das Ausmaß der Befürchtungen und die beständige Beschäftigung mit ihnen doch hinweisend auf eine Depression.

Die Betroffenen haben dabei das Gefühl, zur Bewältigung der Befürchtungen nichts beitragen zu können. So findet manchmal paradoxerweise bei Gesundheitsbefürchtungen keinerlei Arztbesuch...

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