KAPITEL 3
Das Reich zerfällt – der Glaube triumphiert
Die Araber verlieren sich in Streit und Kleinstaaterei
Nach dem Tod von Hischam ibn Abd al-Malik beginnt der Stern der Umayyaden zu sinken. Hischams Nachfolger al-Walid II (Kalif von 743 bis 744) will nicht länger zusehen, wie sich seine Heerführer und Günstlinge auf seine Kosten an den Steuergeldern bereichern. Er ordnet eine zentrale, vom Kalifat vorgenommene Verteilungspolitik an. Das ist eine zwar nachvollziehbare, aber auch kurzsichtige Entscheidung, mit deren Folgen er hätte rechnen müssen. Denn mit dem Schließen der Pfründe bringt al-Walid II just diejenigen gegen sich auf, deren auch aus Gier gespeiste Kampfbereitschaft den arabischen Zellkern zu einem über drei Kontinente atmenden, gigantischen Organismus gemacht haben.
Die abbasidische Revolution
Der landesweite Aufruhr gegen die von al-Walids Nachfolgern fortgesetzte Zentralisierungspolitik beginnt im Sommer 747 mit einem Aufstand des Persers Abu Muslim im Nordosten des Irak. Er schürt die Unzufriedenheit der Truppen und nährt gleichzeitig den Zorn der Schi’at Ali auf die Umayyaden als „unechte“, weil nicht vom Blute des Propheten herstammenden Führer. Die revolutionäre Bewegung hat mithin zwei Wurzeln, deren Triebe in völlig gegensätzliche Richtungen streben. Die eine gründet auf dem Vorwurf mangelnder Geburtslegitimation des Kalifen. Die zweite – und wie sich zeigen wird: sehr viel kräftigere – ist in erster Linie materiell intendiert und bestreitet das von den Schiiten geforderte Primat der Abstammung. Zum Ausbruch kommen nun die Unterlegenheitsgefühle der Neu-Muslime gegenüber den Gläubigen der ersten Stunde – zweifellos eine Folge der zügigen und kaum von echten Integrationsbemühungen flankierten Ausdehnung des arabisch-persischen Reiches.
In der Mitte des achten nachchristlichen Jahrhunderts stammt nur noch eine kleine Minderheit, eine selbst ernannte Elite, von den Nachkommen der Gefährten Mohammeds ab. Nur wenige können von sich sagen, schon ihr Urgroßvater habe auf den Koran geschworen. Die Mehrzahl der im arabischen Riesenreich lebenden Menschen hat sich zu irgendeinem Zeitpunkt im zurückliegenden Centennium zum Islam bekannt – aus Überzeugung, aus Pragmatismus, aus Angst oder aus Gier auf Beute. Die Forderung vor allem der Perser, aber auch der Syrer, Ägypter, Nordafrikaner und Inder, wird lauter: Alle Muslime sollen ungeachtet des Zeitpunktes ihrer Bekehrung gleich behandelt werden. „Man wollte den koranischen Grundsatz, nicht die Geburt und Herkunft eines Menschen sei ausschlaggebend, sondern seine Frömmigkeit (Sure 49), besser verwirklicht sehen, als das im arabisch dominierten Umayyadenstaat der Fall war. (…) So waren alte arabische und nicht-arabische neue Muslime vereint in der Ablehnung der ‚gottlosen‘ Umayyaden.“ (Krämer, G., 2005, S. 70 f.)
Im Irak, hunderte Meilen entfernt von Mekka und Medina, bezwingt der persische Aufrührer Abu Muslim eine Stadt nach der anderen. Das ermutigt die Anführer des Heeres zum Mord an Marwan II, den vierzehnten Regenten aus dem Geschlecht der Umayyaden. Um den verhassten Stamm niemals wieder einen Kalifen hervorbringen zu lassen, töten sie alle Familienangehörigen. 120 Jahre nach Mohammeds Tod ist die Herrschaft der Umayyaden vorüber. Abu Muslim gilt seither als Widerstandskämpfer und persischer Nationalheld.
Einer kommt durch …
Ein umayyadischer Thronprätendent jedoch, sein Name lautet Abd ar-Rahman, vollbringt das Abenteuer, sich bei Gefahr für Leib und Leben vom Irak bis auf die iberische Halbinsel durchzuschlagen. In Al-Andalus begründet der Enkel Hischams das von Baghdad unabhängige Emirat von Córdoba und wird zu einem bedeutenden Staatsmann. „Abd ar-Rahman I legt den Grundstein für die philosophische und kulturelle Blüte Andalusiens. Er gibt Bauprojekte in Auftrag und fördert Künste und Wissenschaften. Handel und Austausch können ungehindert wachsen. Damit macht er das maurische Spanien zu einem Umschlagplatz, über den vom Nahen und Mittleren Osten ausgesandte antike griechische und zeitgenössische arabische Wissenschaften den Weg in die zentral- und nordeuropäische Welt finden.“ (Stähli, A., 2016, S. 32) Dieser Teil der islamischen Welt verbreitet noch bis 1031 den Glanz der Umayyadendynastie.
Weit im Osten jedoch werden die Schi‘at Ali, die Schiiten, erneut um ihre Hoffnungen betrogen. Denn nicht sie, sondern der in Intrigen und Ränke versierte Stamm der Abbasiden kann die Macht an sich reißen. Am 30. Oktober 749 lässt sich Abu I-Abbas as-Saffah zum ersten abbasidischen Kalifen ausrufen. Er gehört zum Stamm der Quraisch, also zur arabischen Elite, aber zu einem anderen Clan, nämlich zur Banu Hashim. Von diesem stammt die heutige Herrscherfamilie in Jordanien ab.
Kalif Abu I-Abbas ist ein Nachfahre eines Onkels väterlicherseits von Mohammed und trauert noch über den Tod seines Bruders Ibrahim, der kurz zuvor in Gefangenschaft der Umayyaden gestorben war. Der Hass auf dieses Geschlecht verbindet Abu I-Abbas mit den Anhängern Alis. Mehr aber auch nicht. Denn Abu I-Abbas ist zwar ein Verwandter des Propheten. Doch anders als Ali und Husain entstammt er nicht seiner direkten Linie. Von der später so genannten „abbasidischen Revolution“ des Jahres 750 haben die Parteigänger Alis mithin keinen Vorteil. Die Schiiten bleiben und verhärten sich in der Opposition.
Vom arabischen Reich der Umayyaden zum islamischen Reich der Abbasiden
Weil die Perser am Aufstieg der Abbasiden ins Kalifenamt einen erheblichen Anteil haben, spielen sie fortan eine gewichtigere Rolle in Staat und Verwaltung, am Hof und im geistigen Leben. Das wollen sie für die Ewigkeit in Stein meißeln. „Die neuen Herren blieben im Irak und entschlossen sich nach einigem Suchen, bei der alten Ortschaft Baghdâd am Westufer des Tigris eine neue Metropole, Mâdinat as-Salâm, die ‚Stadt des Heils‘ zu gründen.“ (Halm, H., 2004, S. 35) Der zweite Abbasidenkalif al-Mansur lässt 762 eine kreisrunde Palastanlage nach persischem Vorbild errichten. Von der „Runden Stadt des Mansur“ weiß heute kaum jemand noch etwas; sie wurde dem Erdboden gleichgemacht. Wohlbekannt hingegen ist noch immer sein Nachfahre Harun ar-Raschid, der zwischen 786 und 809 als Kalif im persisch-arabischen Reich regierte.
Harun ar-Raschid
Harun, ein Sprössling des al-Mansur-Sohnes al-Mahdi, wächst unter der Obhut der mächtigen Dynastie der persischen Familie der Barmakiden auf. An die Macht gelangt er 786, als er seinen Bruder al-Hadi, den vierten Abbasiden-Kalifen, nach nur einem Jahr Regentschaft vom Thron stößt und – dem Gerücht nach von der eigenen Mutter – ermorden lässt.
Das hat eine Vorgeschichte. Vom Schlachtgetöse der abbasidischen Revolution überdeckt, hat sich Kaiserin Irene von Byzanz erneut das von den Arabern unterworfene Kleinasien gesichert. 782 schickt Kalif al-Mahdi ein Heer unter dem Befehl seines um 763 geborenen Sohnes Harun aus, das Gebiet für den Islam zurückzuerobern. Der treibt die Landräuber nach Byzanz zurück und bedroht die Kaiserin, worauf sie um Gnade bittet und hohen Tribut anbietet.
Al-Mahdi hat zuvor seinen Sohn al-Hadi zum Erben des Reichs bestimmt. Jetzt, da er die Fähigkeiten Haruns erkennt, bittet er al-Hadi, zugunsten seines jüngeren Bruders zu verzichten, doch der ältere al-Hadi weigert sich. Kurz darauf stirbt der Kalif. Auf Anraten seines barmakidischen Erziehers und Ratgebers Yahya erkennt Harun seinen Bruder als Kalifen an, bestimmt sich selbst aber zum nächsten Thronerben. Das wiederum missfällt al-Hadi, er verhaftet Yahya und setzt seinen eigenen Sohn als Nachfolger ein. Wenig später ist al-Hadi tot und sein Bruder Harun ar-Raschid mit gerade 22 Jahren der fünfte Kalif der Abbasiden und Herrscher über das größte Reich der westlichen Welt.
Zu dieser Zeit reicht das Kalifat von der afrikanischen Atlantikküste bis weit nach Nordwestindien. Das macht es jedem Regenten schlechterdings unmöglich, alle Landesteile im Blick zu halten, sachkundige Beschlüsse zu fassen und die Finanzen kontrollieren zu können. „Bagdad war nicht mehr in der Lage, Armeen zu unterhalten, die das Riesenreich zwischen den Pyrenäen und dem Indus hätten zusammenhalten können“, fasst Heinz Halm (2004, S. 37) den Anfang vom Ende zusammen.
Harun verliert die Reichsgrenzen aus dem Blick
Die Provinzen Al-Andalus unter dem Umayyaden Abd ar-Rahman I und Marokko unter dem Prophetenabkömmling und selbstbewussten Schiiten Idris werden abtrünnig. Die ultraschiitische Bewegung der Karmaten macht sich an der Küste des persisch-arabischen Golfs selbst zum Herrn, gründet einen eigenen Staat und stößt erfolgreich nach Oman, in den Jemen und in den Iran vor. 920 plündern sie Mekka und rauben den Schwarzen Stein der Kaaba. (vgl. Krämer, G., 2005, S. 95) Auch in anderen Provinzen streifen die Gouverneure die Zentralmacht ab und begründen zum Teil sogar eigene Herrscherdynastien – so im Maghreb und in Kairuan, dem heutigen Tunesien, in Ägypten, in Chorasan im Nordosten vom Iran und in Zentralasien.
Der junge Kalif Harun erkennt, dass er sich nicht auf die Berichte und die vorgeblich im Interesse Bagdads vorgenommenen Handlungen seiner regionalen Statthalter verlassen kann. Delegation entlastet den Machthaber, bringt aber auch Unkenntnis mit sich. Häufig erfährt Harun zu spät von Vorfällen, bei denen...