Sie sind hier
E-Book

'Die das Zeichen Jesu tragen'. Das Kreuz als Schnittstelle zwischen Christologie und Anthropologie in den Kantaten Johann Sebastian Bachs

AutorClemens Schneider
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl55 Seiten
ISBN9783956876288
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Examensarbeit aus dem Jahr 2015 im Fachbereich Theologie - Systematische Theologie, Note: 1,1, Universität Leipzig (Theologische Fakultät, Institut für Systematische Theologie), Sprache: Deutsch, Abstract: Das Wort vom Kreuz war den griechischen und jüdischen Zeitgenossen des Paulus ein Ärgernis und eine Torheit (1 Kor 1,23). Was könnte ärgerlicher und anstößiger sein, als die »Frohbotschaft« vom gekreuzigten Gott? Bis in heutige Zeit hinein scheint sich das Wort vom Kreuz in innertheologischen Kontroversen einer dogmatischen oder moralistischen Engführung erfolgreich zu widersetzen. Unabhängig vom Streit um bestimmte Interpretamente des historischen Kreuzestodes Jesu möchte diese Arbeit das Wort vom Kreuz als eine Dynamik betrachten, die einer Dynamik zwischen Gott und Mensch entspricht. Daher liegt der Ausgangspunkt dieser Arbeit in Martin Luthers Kreuzestheologie, da diese versucht, mithilfe der Deutungskategorien von Kreuz und Auferstehung ein relationales Geschehen zwischen Gott und Mensch in Worte zu fassen. Das Wort vom Kreuz hat für Luther Verweischarakter und transzendiert in metaphorischer Sprache vorfindliche Wirklichkeit. Dabei liegt die Bedeutung des Wortes für Luther allein in seiner Relationalität begründet. Nur durch den kontingent entstehenden Glauben erhält das Wort vom Kreuz Bedeutsamkeit im Subjekt, weil es dann existenziell wird. Durch den Glauben nämlich wird eine Beziehung des Subjekts zu Gott möglich, die außersubjektiv konstituiert, aber mit der subjektiv erfahrbaren, durch das Kreuz deutbaren Lebenswirklichkeit untrennbar verbunden ist. Der Fokus dieser Arbeit liegt in der Untersuchung einer Möglichkeit, das Wort vom Kreuz im Sinne Luthers als existenzielles Deutungsmuster, als Schnittstelle zwischen Christologie und Anthropologie zu begreifen und zu artikulieren. Diese Möglichkeit liegt in Bachs Kantaten, die heutzutage allein schon in Leipzig wöchentlich bei vielen Menschen Gehör finden und in denen sich Luthers Kreuzestheologie in musikalischer Form niedergeschlagen hat. Womöglich vermag es Musik in besonderer Weise, die existenziellen Gehalte der Theologie Luther zu transportieren, da sie als kognitives und sinnliches Medium die anthropologische Ganzheitlichkeit des Glaubens bedient. Da Bachs Musik nicht nur Ausdruck, sondern auch Interpretation theologischer Inhalte darstellt, gilt es, eben diesen bestimmten Interpretationen in Wort und Ton nachzuspüren. Insofern wird zu fragen sein, ob und inwiefern wesentliche Aspekte der Kreuzestheologie Luthers in Bachs Kantaten nachweisbar sind.

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

2 Das Kreuz als Schnittstelle zwischen Christologie und Anthropologie in den Kantaten Johann Sebastian Bachs


 

2.1 Ziel, Gegenstand und Grundlegung der Untersuchung


 

Bedingt durch die formalen Kriterien einer Examensarbeit ist hier nicht der Ort, die Kantaten Bachs in ihrem musikgeschichtlichen Kontext einzuordnen und ihre gattungstypischen Elemente und Merkmale darzustellen. Zu verweisen sei hier auf entsprechende, musikwissen-schaftlich fundierte Sekundärliteratur.[121] Ziel soll es vielmehr sein, Bachs geistliche Kantaten auf die im ersten Hauptteil systematisiert dargestellten Aspekte der Kreuzestheologie Luthers hin zu untersuchen. Diese damit an der Wirkungsgeschichte der Kreuzestheologie Luthers orientierte Untersuchung arbeitet schwerpunktmäßig an den Texten der Kantaten. Sie kann im Einzelnen aber auch musikalische Aspekte beinhalten, soweit es die bescheidene musiktheore-tische Expertise des theologischen Autors zulässt. Musikalische Aspekte kommen dort zur Darstellung, wo die Musik in ihrem Wort-Ton-Verhältnis dem biblischen oder dichterischen Wort weitere Interpretationsräume und Akzentuierungen hinzufügt.[122] Aufgrund der Vielzahl der Kantaten Bachs wird sich die Untersuchung zwangsläufig in exemplarischer Weise darauf beschränken, die kreuzestheologischen Aspekte anhand einzelner Kantaten oder Kantaten-sätze zur Darstellung zu bringen.

 

Martin Luther, der in seiner kirchenmusikalischen Wirkungsgeschichte durch seine Liedtext-dichtungen und Singweisen auch Bach maßgeblich beeinflusst hat, prägte das Ziel und Proprium protestantischer Kirchenmusik als Lob Gottes entscheidend. Luther hebt im Hin-blick auf die Musik im Sinne von einem „hellen, klingenden predigen und rhuͤmen von Gottes guͤte und gnade[123] einerseits ihren Bezug zum Proprium Gottes hervor. Andererseits bringt er mit den Begriffen des Predigens und Rühmens sowohl ihre kerygmatisch-katabatische als auch ihre doxologisch-anabatische Dimension zum Ausdruck.[124] Gottes Proprium der Gnade und Güte soll in der Musik also gleichermaßen verkündigt und gelobt werden. Dieser Zielbestimmung sah auch Johann Sebastian Bach (1685-1750) sein Schaffen unterstellt, „insofern er sein Komponieren und Musizieren ganz grundsätzlich in einem doxologischen Gefälle gesehen und viele Werke mit S(oli)D(eo) Gl(oria) unterschrieben hat“[125]. Daher ist es unerlässlich, Aussagen zur Textgrundlage der untersuchten Bachkantaten und zu Bachs theo-logischem Hintergrund zu treffen. Bach legte seinen Kantaten Bibeltexte, Choraltexte und freie madrigalische Dichtungen zugrunde.[126] Die Texte stellte Bach im Hinblick auf das Prop-rium des Gottesdienstes zusammen, in dem die Kantate zur Aufführung kam.[127] Tendenziell orientierten sich die frühen Kantaten Bachs textlich an Choral und Bibelwort, wohingegen Bach ab seiner Weimarer Zeit (1708-1717) zunehmend auch auf an biblischer Sprache orien-tierte freie Dichtungen zurückgriff.[128] Grundlage aller Texte in Bachs geistlichen Kantaten war die deutsche Bibel in der Übersetzung Martin Luthers in der unrevidierten Fassung von 1545.[129] Bach partizipierte als musikalischer Interpret der Bibel intensiv an theologischer Schriftauslegung seiner Zeit.[130] Ein äußeres Anzeichen dafür ist nicht zuletzt Bachs immenses theologisches Bibliotheksinventar[131], in dem sich sowohl der für seine Zeit maßgebliche Bibelkommentar von Johann Olearius[132] als auch Luthers Werk in mehreren Ausgaben be-fand.[133] Das theologische Spektrum der Bücher reicht von der weit verbreiteten Erbauungs-literatur Johann Arndts über Predigten – sowohl die des deutschen Mystikers Johann Tauler als auch die aus dem 17. Jh. und von Zeitgenossen Bachs (Heinrich Müller und Erdmann Neumeister) –, von dogmatischen Schriften lutherischer Orthodoxie (Leonhard Hutter und Martin Chemnitz) bis hin zur Hauspostille des großen Pietisten August Hermann Francke.[134] Es ist Vorsicht geboten, von den Büchern Bachs direkte Rückschlüsse zu ziehen auf Bachs theologisches Profil und kompositorische Entscheidungen.[135] Fundierte Aussagen lassen sich diesbezüglich nur in Annäherung, anhand konkreter Untersuchungen des Bach-schen kompositorischen Schaffens, bestimmen.

 

2.2 »Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir« - Buße in Bezug auf das Kreuz Christi


 

Nach Luther hat die theologische Bedeutung der Buße bis in Bachs Zeit hinein gewisse Neuakzentuierungen erfahren, die teilweise synergistische Tendenzen aufweisen.[136]

 

Wirkungsgeschichtlich bedeutsam waren Johann Arndts 1605-10 entstandenen Bücher »Vom wahren Christen-tum«, die in ihrer Verbreitung im 17. Jahrhundert die Schriften Luthers in den Schatten stellten, sich in einer Leipziger Auflage von 1709 in Bachs Bücherschrank befanden und Impulse auf die von Bach vertonten Texte ausstrahlten.[137] Die Bücher verstehen sich als eine „Anleitung zur heilsamen Buße, zum wahren (d.h. innerlich erfahrenen) Glauben und zum heiligen Lebenswandel der rechten Christen“[138]. In dieser Intention einer »Anleitung« zur Buße und zum »wahren« Glauben zeigt sich eine synergistische Tendenz[139]. So schien in der Urausgabe von 1605 das Moment der Reue in der Buße nicht deutlich mit dem Moment des Glaubens in Beziehung zu stehen und somit die Buße als Voraussetzung für die Rechtfertigung dargestellt zu werden. Auf Synergismusvorwürfe hin hat Arndt das Konzept der Buße in den späteren Auflagen des Buches bis 1610 rechtfertigungstheologisch geglättet.[140]

 

Für unser Thema ist nun besonders relevant, dass sowohl Luther als auch Arndt das innerlich vollzogene Selbstgericht der Buße auf das Wort vom Kreuz beziehen (vgl. 1.3).[141] Zu untersuchen ist nun, ob und inwiefern dies in Bachs Kantaten zum Ausdruck kommt.

 

Das Thema der Buße bildet unter verschiedenen theologischen Akzentuierungen den Schwer-punkt vieler Bachkantaten.[142] In besonderem Maße kommt in ihnen das Bußverständnis Luthers zum Ausdruck, welches durch die Antinomie von Gesetz und Evangelium bestimmt ist und auf disparate religiöse Erfahrungen rekurriert.[143] Das Kreuz bezeichnet hierbei sowohl den durch die Sünde begründeten kategorialen Bruch zwischen Gott und Mensch als auch die gottgegebene Auflösung dieses Bruches. Exemplarisch für die Bezugnahme der Buße auf das Kreuz Christi in Bachs Kantaten soll nun BWV 131 »Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir« in den Blick genommen werden. Das 1707/08 in Mühlhausen entstandene Werk ist eine der frühesten Kantaten Bachs[144] und stellt in ihrer Konzentration des Texts[145] auf Bibelwort (Ps 130) und Choral ein typisches Beispiel dieser Schaffensperiode[146] dar. „Psalm und Kirchen-liedstrophen verweisen auf das de-tempore des 11. Sonntags nach Trinitatis, 4.9.1707; dessen Lesungen sind 1Kor 15,1-20 (Epistel) und Lk 18,9-14[147] (Evangelium).“[148] Die wie auch in anderen Mühlhausener Kantaten psalmbasierte Textgrundlage richtete sich daher im Hinblick auf den ungekürzten Ps 130 vermutlich am Eingangspsalm des Sonntags aus. Der Psalm korrespondiert als Gebet um Sündenvergebung sowohl mit dem Gebet des Zöllners im Evangelium Lk 18,9-14 als auch mit den beiden in BWV 131 von Bach vertonten, auf das Thema der Buße akzentuierten Kirchenliedstrophen[149]. Dabei erfährt der Bußpsalm durch die beiden Liedstrophen eine kreuzestheologische Interpretation. Aufbau und Textkorresponden-zen der Kantate sollen nun veranschaulicht werden.[150] Die Psalmverse erscheinen dabei im Normaldruck, die Liedstrophen im Fettdruck und die darin enthaltenen kreuzestheologi-schen Interpretamente im fetten Kursivdruck:

 

 

Die Kantate besitzt formal einen symmetrischen Aufbau.[151] Dabei bilden die Chöre 1 und 5 die Rahmensätze[152], welche die Dialoge aus Arie/Arioso und Choral als Binnensätze einschließen. Chor 3 bildet gewissermaßen Symmetrieachse und inhaltlichen Schwerpunkt. Der darin vertonte Psalmvers hebt das Moment des wartenden Glaubens hervor, der sich, im Durchleiden des opus alienum, hoffend auf das opus proprium ausrichtet und damit einen Perspektivwechsel herbeiführt. Der Grund dieser Hoffnung besteht in der Tilgung der Sünde durch den Kreuzestod Jesu (Choral in Satz 2). Die auf die Buße fokussierte Kantate bringt, gemäß Luther und CA 12, sowohl das Moment der Reue als Gewahrwerden eigener Sündhaf-tigkeit und Angewiesenheit auf Gott (v.a. Sätze 1-2) als auch das Moment des vertraulichen Glaubens an das Heilswerk Christi (v.a. Sätze 3-4) zur Geltung. Durch die Dialogisierung von Psalmwort und Choral wird einerseits die Verschränkung beider Momente, andererseits die auf Luthers Bibelhermeneutik fußende kreuzestheologische Psalminterpretation zum Aus-druck gebracht (vgl. 1.2). Der Psalmtext in Satz 2...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Christentum - Religion - Glaube

Transitus Mariae

E-Book Transitus Mariae
Beiträge zur koptischen Überlieferung. Mit einer Edition von P.Vindob. K. 7589, Cambridge Add 1876 8 und Paris BN Copte 129 17 ff. 28 und 29 (Neutestamentliche Apokryphen II) - Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten JahrhunderteISSN N.F. 14 Format: PDF

The discussion about the beginnings of Transitus-Mariae literature (apocryphal texts about the life and death of the Mother of Jesus) is marked by two hypotheses. The first is marked by the…

Abram - Abraham

E-Book Abram - Abraham
Kompositionsgeschichtliche Untersuchungen zu Genesis 14, 15 und 17 - Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche WissenschaftISSN 350 Format: PDF

This substantial contribution to Pentateuch research shows paradigmatically how the politico-geographical concepts from Genesis 14 and the concepts of the theology of promise in Gen 15 are…

Sich verzehrender Skeptizismus

E-Book Sich verzehrender Skeptizismus
Läuterungen bei Hegel und Kierkegaard - Kierkegaard Studies. Monograph SeriesISSN 12 Format: PDF

The study focuses on the sceptical forms of thought and expression with which Hegel and Kierkegaard link the claim for absolute truth. With his 'self-completing scepticism' (Phenomenology of…

Sich verzehrender Skeptizismus

E-Book Sich verzehrender Skeptizismus
Läuterungen bei Hegel und Kierkegaard - Kierkegaard Studies. Monograph SeriesISSN 12 Format: PDF

The study focuses on the sceptical forms of thought and expression with which Hegel and Kierkegaard link the claim for absolute truth. With his 'self-completing scepticism' (Phenomenology of…

Weitere Zeitschriften

ARCH+.

ARCH+.

ARCH+ ist eine unabhängige, konzeptuelle Zeitschrift für Architektur und Urbanismus. Der Name ist zugleich Programm: mehr als Architektur. Jedes vierteljährlich erscheinende Heft beleuchtet ...

Archiv und Wirtschaft

Archiv und Wirtschaft

"Archiv und Wirtschaft" ist die viermal jährlich erscheinende Verbandszeitschrift der Vereinigung der Wirtschaftsarchivarinnen und Wirtschaftsarchivare e. V. (VdW), in der seit 1967 rund 2.500 ...

caritas

caritas

mitteilungen für die Erzdiözese FreiburgUm Kindern aus armen Familien gute Perspektiven für eine eigenständige Lebensführung zu ermöglichen, muss die Kinderarmut in Deutschland nachhaltig ...

Das Grundeigentum

Das Grundeigentum

Das Grundeigentum - Zeitschrift für die gesamte Grundstücks-, Haus- und Wohnungswirtschaft. Für jeden, der sich gründlich und aktuell informieren will. Zu allen Fragen rund um die Immobilie. Mit ...

DER PRAKTIKER

DER PRAKTIKER

Technische Fachzeitschrift aus der Praxis für die Praxis in allen Bereichen des Handwerks und der Industrie. “der praktiker“ ist die Fachzeitschrift für alle Bereiche der fügetechnischen ...

die horen

die horen

Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik."...weil sie mit großer Aufmerksamkeit die internationale Literatur beobachtet und vorstellt; weil sie in der deutschen Literatur nicht nur das Neueste ...