Um die gesamte Lage der Auswanderung in den Blick zu bekommen, werde ich auf die sogenannten abstoßenden Faktoren eingehen, die die Leute zur Auswanderung bewogen.
Marschalcks Meinung nach wanderten die Leute aus verschiedenen Gründen aus: Religiöse Beweggründe waren im 19. Jahrhundert nur noch ein Überbleibsel aus früheren Zeiten, doch auch politische Flüchtlinge gab es immer wieder, hervorgerufen u.a. durch „die Karlsbader Beschlüsse 1819, die Revolutionen von 1830 und 1848 und die Aufstände in Baden und in der Pfalz im Sommer 1849“; genauso gab es Leute, die allein deswegen auswanderten, weil sie erwarteten, im neuen Land wirtschaftlich erfolgreicher zu sein, was auf eine neue Form der Wanderung hindeutete. Diese drei Arten von Auswanderungen hatten keine große Bedeutung. Die große Masse – 5,5 Millionen - wanderte aus sozialen Motiven aus.[55]
Marschalck führt eine Reihe von Motiven für die Auswanderung an: Missernten, Hungersnöte, Teuerungen, gescheiterte Revolutionen, erlittene Kriege, Militärdienst, Entlastung der Armenkasse, nicht eingehaltene Verfassungsversprechen, Überbevölkerung durch einen Rückgang der Sterblichkeit, soziale Veränderungen durch die Bauernbefreiung und die Einführung der Gewerbefreiheit und andere Faktoren wie z.B. das Realteilungserbrecht – die gleichmäßige Verteilung des ererbten Bodens unter den Erben nach dem Tode des Stellenbesitzers - in bestimmten Regionen.[56]
Auch Görisch gibt verschiedene Gründe für die Auswanderung der Deutschen an: die wachsende Bevölkerung, Missernten wie die von 1816/17 und 1845/47, Steuern und die Umstrukturierung der Produktionsverhältnisse: „der beginnende Zerfall der mittelalterlichen Gilden- und Zunftstrukturen, die Produktion und Absatz streng geregelt hatten, sowie der Abbruch nationaler Handelsbarrieren“ und der einsetzende freie Wettbewerb.[57] Görisch beruft sich dabei auf Männer wie den hessischen Staatsmann Hans Christoph von Gagern, der die Auswanderung schon um 1800 „als Ventil zum Abbau der wachsenden sozialen Spannungen“ sah. Schon die nationalistischen Stimmen sahen in der Auswanderung die Gelegenheit, deutsche Kultur ins Ausland zu tragen und der heimischen Wirtschaft Märkte und Rohstoffquellen zu erschließen, wovon auch das Transportgewerbe profitieren sollte.[58]
Luebke betont, dass die Auswanderer meist der niedrigen und mittleren Schicht der Gesellschaft angehörten, die in der neuen Welt ein besseres Leben suchten. Sie ist der Ansicht, dass dabei politische und religiöse Probleme keine so wichtige Rolle spielten, wie manchmal behauptet wird. Sowohl die Einwanderer in die USA als auch nach Brasilien waren u.a. ungelernte Arbeiter, Bauern, Handwerker und Kleinhändler[59].
Aber die bestehenden Unterschiede unter den Einwanderern seien von der lokalen Gesellschaft in den USA und Brasilien nicht wahrgenommen worden:
Thus important distinctions within the German immigrant society with respect to place of origin, variations in regional speech or dialect, religious divisions, and social and political differences were lost on both Anglo-Americans and Luso-Brazilians, who tended to lump them all together on the basis of their presumably common language.[60]
Auch wenn diese Heterogenität von der lokalen Gesellschaft nicht wahrgenommen wurde, existierte diese dennoch. Die Einheimischen sahen diese nur nicht so deutlich wie die davon Betroffenen selbst.
Hier sei nur auf die Phasen der Auswanderung, die durch die unterschiedlichen Formen der Auswanderung – sprich Unterschiede bezüglich Klassenzugehörigkeit, geographische Herkunft und Einzel- oder Familienauswanderung – gekennzeichnet wurden, hingewiesen.
Zwischen 1815 und 1865 wanderten selbständige Bauern- und Handwerkerfamilien aus dem süd- und westdeutschen Raum aus; im Zeitraum zwischen 1865 und 1895 wanderte vor allem die unterbäuerliche und unterbürgerliche Schicht aus Norddeutschland und Nordostdeutschland aus – neben der Familienauswanderung begann die Einzelauswanderung. Zwischen den Jahren 1895 und 1914 nahm die Zahl der Einzelauswanderer aus der Industriearbeiterschaft zu, während die Auswanderung insgesamt an Bedeutung verlor.[61]
Diese Arbeit umfasst nicht die Probleme, die mit dem Anfang der Reise in Deutschland in Zusammenhang standen, wie z.B. das Verkaufen des Landes, des Besitzes oder der Habe, die Entscheidung, über welchen Hafen ausgewandert wurde und wie die Auswanderer vom Heimatdorf bis zur Hafenstadt reisten, welche Auswanderungsinformationsschriften in Anspruch genommen wurden, um sich zu informieren, oder ob überhaupt solche vorhanden waren. Es werden auch nicht die Agenten, Makler, Agenturen, Vereine und Hilfsorganisationen, die dadurch entstanden, besprochen. Ebenso bleiben die Probleme, die es gab wenn es darum ging, welchen Auswandererverein die Leute aufsuchten, oder wie diese Vereine entstanden oder zu welchen Zwecken, außen vor, genauso wie die Fragen, wie die Leute zu genügend Geld kamen, um diese Reise zu bezahlen, wie sie die dazu nötigen Dokumente und Pässe beschafften, oder wie sie sich für ein bestimmtes Land entschieden. Nicht zu vergessen die Gefahren während der Reise, die ungefähr neun Wochen dauerte, aber in schlimmen Fällen auch zwei Jahre dauern konnte, oder die nicht eingehaltenen Versprechungen der Agenten und die Furcht der Leute vor den tropischen Krankheiten. Letztendlich zähle ich hier nur einige Schwierigkeiten auf, um deutlich zu machen, dass der Entschluss zur Auswanderung meistens nicht so einfach war, wenn man die Probleme betrachtet, die dadurch entstehen konnten und damit verbunden waren. Ich gehe hier auf die Schwierigkeiten auf politischer und gesetzlicher Ebene ein.
Denn wie Görisch behauptet, entstammte die Beschränkung der Freizügigkeit dem Leibeigenschaftsrecht des Mittelalters. Die ansteigenden Emigrantenzahlen aber zeugen davon, dass „die Strafandrohungen der alten Landesgesetze gegen Auswanderer offensichtlich wirkungslos blieben.“[62] Nach Brunn wurde die Freiheit zur Auswanderung mit den Pariser Verträgen von 1814 und 1815 geschaffen.[63] Die preußische Bürokratie betrachtete das Überschreiten der Landesgrenzen als die endgültige Loslösung vom Staat.[64]
Doch sollte die Lage in Brasilien die Gesetze in Deutschland verändern. Die Halbpachtverträge in SP waren dafür verantwortlich, denn im restlichen Brasilien gab es derartige Probleme nicht.
Moltmann zufolge warnte der preußische Zentralverein für Auswanderung in Berlin vor den unglücklichen Folgen von Halbpachtverträgen.[65]
Das parceria-System stellte nicht nur ein Migrationssystem dar, sondern war vor allem eine spezifische Form der Ernteteilung zwischen Pachtarbeitern (parceiros) und den Großgrundbesitzern (fazendeiros). Die strittigen Elemente waren die zeitliche Unbegrenztheit der Verträge und die variierenden, erst gut ein Jahr nach der Ernte bekannt werdenden Anteile der Arbeiter, weswegen die Arbeitsbedingungen willkürlich und dehnbar wurden. Die Abwälzung der Kosten der Einwanderung auf die parceiros war wahrscheinlich der auslösende Faktor für die Arbeitsunruhen und den vorzeitigen Niedergang des Systems.[66]
Alves bezieht sich auf verschiedene Autoren, wenn sie betont, dass wenn man über die colônias de parceria spricht, immer die des Senator Vergueiro in Ibicaba SP gemeint ist, auf der ab 1850 Schweizer und Deutsche lebten. Sie zitiert aber auch das Werk des Schulmeisters Thomas Davatz, der das System anprangerte. Ende 1856 und Anfang 1857 soll es zum Aufstand gekommen sein und das Thema wurde durch das Werk von Davatz in Europa bekannt.[67]
Holanda macht das System von Vergueiro für das Heydtsche Reskript, das die Auswanderung der Preußen nach Brasilien verbot, verantwortlich. Aber er meint, dass trotz der einschränkenden Maßnahmen der einzelnen deutschen Regierungen 1859 die Auswanderung nach Brasilien nicht endete.[68]
Wie Marschalck schrieb, befasste sich das Deutsche Reich mit der Frage der Auswanderung erst wieder, als die Auswanderung bereits an Bedeutung verloren hatte. Zwar sollten nach der Verfassung des Deutschen Reichs von 1871 die Bestimmungen über die Kolonisation und die Auswanderung der Beaufsichtigung des Reichs unterliegen, aber es wurde vorerst nur ein Reichskommissar dafür bestellt. [69]
„Am 25. Februar 1878 legte Friedrich Kapp dem Reichstag einen umfangreichen Entwurf eines Gesetzes betreffend die Beförderung von Auswanderern nach außerdeutschen Ländern“ vor. Doch die preußische Regierung betrachtete...