Sie sind hier
E-Book

Die Deutschen und der Osten

Band 1

AutorHermann Schreiber
Verlaghockebooks
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl365 Seiten
ISBN9783957512925
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
»Die Deutschen und der Osten«, ein Standardwerk zu einem wichtigen Kapitel deutscher Geschichte. Hermann Schreiber, Gelehrter mit großem erzählerischen Talent, ruft einen vergessenen Teil der Geschichte wieder in Erinnerung: Was geschah während der Kolonialzeit in den deutschen Kolonien, wo genau lagen die Kolonien, Schutz und Pachtgebiete? Hermann Schreiber beschäftigt sich aber auch mit der Vorgeschichte: von der germanischen Landnahme über die Kolonialisierungsarbeit des Ritterordens, die Ausbreitung der Hanse bis zu den brandenburg-preußischen Kolonien im 17. und 18. Jahrhundert sowie die wegbereitenden Forschungsreisen. Das Ergebnis ist ein zentrales Werk der deutschen Geschichte, das so exakt dokumentiert wie unterhaltsam zu lesen ist.

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

Die Flüsse und die Wälder


Die ältesten Völkerpfade – Bauern werden Piraten – Menschen als Ware – Was ist eine Stadt? – Die Slawen werden kriegerisch – Der Kaiser als Herr über Christen und Heiden – Eine Fremde aus edlem Geschlecht

Unser kleiner Kontinent, den heute so viele Straßen durchziehen, war vor zweitausend Jahren noch so unwegsam, wie Asien oder Nordamerika es kaum jemals gewesen sind. Es war nicht die Enge, die ihn so schwer passierbar machte, es waren die Barrieren der Gebirge, die ausgedehnten Wälder und die große Teile des europäischen Nordens und Ostens erfüllenden Sümpfe. Noch in geschichtlichen Zeiten, viele Generationen nach den großartigen Straßenbauten der Römer, reiste man dort, wo jene nicht hingekommen waren, im Winter besser als im Sommer, weil der hartgefrorene Boden zwar noch keinen Weg schuf, aber Wagen oder Schlitten trug.

In der Mitte, im Kontinentalblock, von dem die Halbinseln wie Polypenarme ausgehen, war die Passage für Wandervölker, Händlergruppen und Krieger am schwierigsten. Hier steigen die Berge bis hinauf in die Wolken, und wer immer versuchte, sie zu überqueren, brachte auch im Sommer bange Tage in Eis und Schnee zu, in Stürmen und Kälte. In den niedrigen Gebirgen nördlich der Alpen waren die Wälder besonders dicht, die Täler schmal, der Regen reichlich und der Weg, wenn es ihn gab, selbst für Reiter schwierig, von Wagen oder Karren ganz zu schweigen. Dennoch bahnten sich seit Jahrtausenden immer neue Völkergruppen den Weg durch diese Mitte Europas, nicht für einzelne Familien, sondern für Hunderte und Tausende von Menschen. Das war möglich, weil die großen Ströme an ihren Ufern doch schmale Passagen freiließen, weil sie auch großen Wandergruppen das Wild der Uferauen und die Fische als Nahrung und das Flusswasser als Getränk boten.

Die Rhône, der Rhein und die Donau sind die ältesten Völkerpfade und Handelswege in Europa, sie verbanden die Küstenländer im Westen und Norden mit dem Becken des Mittelmeers. Oder und Weichsel aber wurden die Wegweiser für die Völker, die seit etwa 400 vor Christus aus Skandinavien über die Ostsee nach Mittel- und Osteuropa gekommen waren, weil sich in Nordeuropa die klimatischen Bedingungen für die Landwirtschaft verschlechtert hatten und sich Gruppen absondern mussten, für die es nicht mehr genug zu essen gab.

Die nordischen Völker, die den Weg nach Südosten und Süden antraten, waren Germanen, und die Archäologen haben inzwischen die Spuren ihrer Siedlungen und ihrer Wanderungen gesichert, von winzigen Dörfern und einfachen Grabstätten bis zu Fürstengräbern mit reichster Ausstattung. In den Gebieten zwischen Oder und Dnjepr allerdings spricht die heutige wissenschaftliche Bodenforschung nicht von deutschen Einwanderern, ja nicht einmal von Germanen, sondern fasst Fundgruppen und ihre Charakteristika so zusammen, dass man sich jedes Volk als ihren Träger denken kann (Aunjetitzer Kultur, Hügelgräber-Kultur usw.). Auf diese Weise ist ein Gedankenaustausch ohne nationale Vorbehalte wieder möglich geworden, gleichgültig, ob nun Polen, Tschechen oder Deutsche im Boden gegraben haben.

Für uns bedeuten diese Sprachregelungen immerhin, dass zwischen Ost und West in der Forschung nun einigermaßen Frieden herrscht. Auch in den historischen Atlanten der DDR finden wir für die Zeit von 100 vor bis 300 nach Christus Goten an der Weichsel eingetragen, Vandalen an der Oder, Markomannen in Böhmen und die Sueben zwischen Elbe und Oder. Nimmt man noch die Bastarner hinzu, ein ursprünglich germanisches Volk, das sich am Westufer des Schwarzen Meeres dann mit sarmatischen Stämmen vermischte, so zeigt sich uns ein Mitteleuropa, das vom Rhein bis zur Weichsel und zum Dnjestr germanisch besiedelt ist, wenn auch die Bezeichnung bevölkert richtiger wäre – denn Siedlungen wurden von den Wanderstämmen jener Zeit doch immer wieder aufgegeben. Nur einige wenige besonders markante Punkte behielten Siedlungscharakter wie etwa der Zobten, der heilige Berg Schlesiens, oder die von Handel und Schifffahrt profitierenden Flussmündungen und Flussufer. Die Slawengrenze verlief damals, in der römischen Kaiserzeit, auf einer Linie, die man etwa zwischen Odessa am Schwarzen Meer und Tilsit im Memelgebiet ziehen könnte.

Sechshundert Jahre später standen die Slawenstämme auf breiter Front mitten in Europa, vom Ostufer der Elbe bis nach Kärnten und zum Ostrand des Adriatischen Meeres, und sie hatten diesen gewaltigen Landgewinn erzielt, ohne dass man viel von Kämpfen oder kriegerischen Auseinandersetzungen gehört hätte. Die wenigen Chronisten, die sich mit den unauffälligen Slawenvölkern überhaupt beschäftigen, betonen ihre Friedfertigkeit, ihre Liebe zur Musik, ihre Kenntnis des Honigs und des Fischfangs und die Tatsache, dass niemand die Slawensprache versteht noch ihre Götter kennt. Der skeptische Tacitus beschreibt sie als erster in seiner berühmten Germania, im 46. und letzten Abschnitt, in einer Art Völker-Nachlese:

»Von den Sitten der Sarmaten haben auch (d. h. so wie die Bastarner) die Wenden (Veneder) viel angenommen; denn auf ihren Raubzügen durchstreifen sie das gesamte Wald- und Bergland zwischen den Peucinen (d. h. am Dnjestr) und den Finnen. Trotz ihres unsteten Lebens erinnern sie mehr an die Germanen als an die Sarmaten (Steppenvölker), denn sie bauen sich feste Häuser, tragen Schilde und haben ihre Freude daran, tüchtige und behände Fußgänger zu sein. Das ist alles ganz anders als bei den Sarmaten, die sich nur im Sattel und in ihren Zelten zu Hause fühlen.«

So vorsichtig sich Tacitus auch ausdrückt, so wichtig ist uns dennoch dieses neunzehnhundert Jahre alte Zeugnis über jenes Volk, das die großen osteuropäischen Flussniederungen erfüllen und bis ins Herz von Mitteleuropa vordringen wird, friedlich, aber unaufhaltsam, lautlos, aber in gewalten Bevölkerungszahlen. Der Vorgang wurde in dieser für das enge Europa höchst ungewöhnlichen Weise möglich, weil die germanischen Stämme nach einer Sesshaftigkeit von zum Teil vier- bis fünfhundert Jahren gegen Ende der römischen Kaiserzeit wieder aufbrechen und weiterziehen. Goten, Vandalen und weniger starke Völkerschaften geben damit Ostmitteleuropa auf und den Slawen den Weg frei. Nur einige wenige germanische Siedlungsinseln bleiben zurück und sind gegenüber den sehr viel zahlreicheren Slawen so schwach, dass es zu kriegerischen Auseinandersetzungen offenbar nur ausnahmsweise kommt. Man hat das slawische Vordringen mit dem Einströmen von Wasser verglichen, und wenn man sich Europa als großes Relief denkt, dann entspricht dieses Eindringen auf breitester Front tatsächlich einer Flut, die sich überall ihren Weg sucht, die Täler erfüllt und keinen Raum auslässt.

Neben Bodenfunden aus den erwähnten Gräbern und vereinzelten vorslawischen Ortsnamen germanischen Charakters hat sich aus dieser ersten Landnahme germanischer Völker im späteren Expansionsbereich der Deutschen nichts erhalten. Schlagkräftige Germanenstämme wie Vandalen und Sueben, hochbegabte Stammesverbände wie die der geistig besonders regsamen Goten, sind in der gigantischen Bewegung der Völkerwanderung nach Südosten und Südwesten abgelenkt worden und auf dem Balkan, auf der Halbinsel Italien, in Spanien und in Nordafrika zunächst militärisch geschlagen und dann von den ansässigen, an Zahl überlegenen Völkern aufgesogen worden. Wie viel Europas Mitte dadurch verloren hat, zeigt uns die eindrucksvolle gotisch-arianische Zivilisation des Theoderich-Reiches mit dem Mittelpunkt Ravenna, zeigt uns aber auch die einzigartige arabisch-gotisch-jüdische Mischkultur von Cordoba und Granada, die allem, was gleichzeitig an Rhein und Donau im kulturellen Bereich geschah, weit überlegen war.

Es hilft wenig, wenn der Kulturhistoriker dieser Entwicklung heute noch nachtrauert. Immerhin kann er umso deutlicher erkennen, dass andere, kleinere und weniger ruhmreiche Völker ihre Existenz bewahrten, ihren angestammten Charakter durch die zeitweise chaotischen Entwicklungen dieser Wander-Jahrhunderte retteten, indem sie ganz einfach in ihren Wäldern sitzen blieben, an Flussmündungen, in Gebirgstälern, an Plätzen, die vielleicht nicht uneinnehmbar waren, aber für andere, für Neuankömmlinge doch auch nicht sehr reizvoll. Solche Völker gab es an der Ostsee, im heutigen baltischen Raum (unter ihnen sind die Pruzzen die bekanntesten), aber auch am anderen Ende Europas, etwa im Baskenland. Es ist ganz ähnlich wie heute, wo die großen Nationen sich aus den gewaltigen Entscheidungen nicht heraushalten, nicht in die Neutralität fluchen können, die schon so manchen Schwachen gerettet hat. Die große deutsche Ostbewegung des Mittelalters stößt also nicht nur auf slawische Völker, sondern auf Stammesverbände, in denen Slawen gemeinsam mit Vorvölkerresten illyrisch-keltischen, baltischen und sogar germanischen Charakters lebten und leben. Es war diese sehr unterschiedliche Zusammensetzung, die aus der zunächst amorphen, sich jedes Kennenlernens entziehenden Masse der Slawen Stammes-Individualitäten hervortreten lässt: Die harten Krieger und kühnen Seefahrer der Ostseeslawen, die intellektuell herausragende mittlere Slawenzone im heutigen Polen und die frühe Aggressivität der Westslawen zwischen Moldau und Donau, wo sie in den Awaren ein stoßkräftiges Turkvolk aufgenommen haben. Eine zweite folgenreiche Vermischung zwischen Slawen und weniger friedlichen westasiatischen Stämmen ergibt sich auf dem Balkan, wo die Wolgabulgaren aus der alten Handelsstadt Bolgar in einer späten und langen Südwestwanderung den Raum der unteren Donau erreichen und die erst seit einigen Jahrzehnten hier sesshaften Südslawenstämme weiter nach Süden abdrängen, nach Thrakien und in den makedonischen Raum. Die energischen...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Europa - Geschichte und Geografie

Faschistische Selbstdarstellung

E-Book Faschistische Selbstdarstellung
Eine Retortenstadt Mussolinis als Bühne des Faschismus Format: PDF

Unter dem italienischen Faschismus wurden südlich von Rom neue Städte in den ehemaligen Pontinischen Sümpfen gegründet. Diese faschistischen Retortenstädte verknüpften neue sozialpolitische Modelle…

Faschistische Selbstdarstellung

E-Book Faschistische Selbstdarstellung
Eine Retortenstadt Mussolinis als Bühne des Faschismus Format: PDF

Unter dem italienischen Faschismus wurden südlich von Rom neue Städte in den ehemaligen Pontinischen Sümpfen gegründet. Diese faschistischen Retortenstädte verknüpften neue sozialpolitische Modelle…

Faschistische Selbstdarstellung

E-Book Faschistische Selbstdarstellung
Eine Retortenstadt Mussolinis als Bühne des Faschismus Format: PDF

Unter dem italienischen Faschismus wurden südlich von Rom neue Städte in den ehemaligen Pontinischen Sümpfen gegründet. Diese faschistischen Retortenstädte verknüpften neue sozialpolitische Modelle…

Faschistische Selbstdarstellung

E-Book Faschistische Selbstdarstellung
Eine Retortenstadt Mussolinis als Bühne des Faschismus Format: PDF

Unter dem italienischen Faschismus wurden südlich von Rom neue Städte in den ehemaligen Pontinischen Sümpfen gegründet. Diese faschistischen Retortenstädte verknüpften neue sozialpolitische Modelle…

Spätmoderne

E-Book Spätmoderne
Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa I Format: PDF

Der Sammelband „Spätmoderne" bildet den Auftakt zur Reihe „Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa" und widmet sich zuvorderst osteuropäischen Dichtwerken, die zwischen 1920 und 1940…

Spätmoderne

E-Book Spätmoderne
Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa I Format: PDF

Der Sammelband „Spätmoderne" bildet den Auftakt zur Reihe „Lyrik des 20. Jahrhunderts in Ost-Mittel-Europa" und widmet sich zuvorderst osteuropäischen Dichtwerken, die zwischen 1920 und 1940…

Weitere Zeitschriften

Card Forum International

Card Forum International

Card Forum International, Magazine for Card Technologies and Applications, is a leading source for information in the field of card-based payment systems, related technologies, and required reading ...

Computerwoche

Computerwoche

Die COMPUTERWOCHE berichtet schnell und detailliert über alle Belange der Informations- und Kommunikationstechnik in Unternehmen – über Trends, neue Technologien, Produkte und Märkte. IT-Manager ...

SPORT in BW (Württemberg)

SPORT in BW (Württemberg)

SPORT in BW (Württemberg) ist das offizielle Verbandsorgan des Württembergischen Landessportbund e.V. (WLSB) und Informationsmagazin für alle im Sport organisierten Mitglieder in Württemberg. ...

Deutsche Hockey Zeitung

Deutsche Hockey Zeitung

Informiert über das nationale und internationale Hockey. Die Deutsche Hockeyzeitung ist Ihr kompetenter Partner für Ihren Auftritt im Hockeymarkt. Sie ist die einzige bundesweite Hockeyzeitung ...

F- 40

F- 40

Die Flugzeuge der Bundeswehr, Die F-40 Reihe behandelt das eingesetzte Fluggerät der Bundeswehr seit dem Aufbau von Luftwaffe, Heer und Marine. Jede Ausgabe befasst sich mit der genaue Entwicklungs- ...