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E-Book

Die Deutschland-Blase

Das letzte Hurra einer großen Wirtschaftsnation

AutorOlaf Gersemann
VerlagDeutsche Verlags-Anstalt
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783641140090
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Deutschland geht es gut - wie lange noch und auf wessen Kosten?
Den Deutschen steigt das vermeintliche »neue Wirtschaftswunder« zu Kopf, so Olaf Gersemann, Ressortleiter Wirtschaft und Finanzen bei der Tageszeitung Die Welt. Wir überschätzen unsere Kraft bei weitem und übersehen dabei unsere Anfälligkeit für neue Krisen. Selbstgefällig verklären wir Massenarbeitslosigkeit zu nahender Vollbeschäftigung und Beinahe-Stagnation zu kräftigen Aufschwüngen. Und auf fahrlässige Weise verkaufen wir der Welt unsere vielen Sonderwege - wie die duale Ausbildung oder die extreme Fokussierung auf wenige Branchen - als Stärken und übersehen dabei Schattenseiten und Risiken. Bald schon wird dem deutschen Aufschwung dauerhaft die Luft ausgehen. Sehr vieles wird daher anders werden müssen, damit manches so bleiben kann, wie es ist. Ebenso pointiert wie fundiert nimmt Gersemann die verzerrten Wahrnehmungen in Politik und Wirtschaft aufs Korn.

Olaf Gersemann, Jahrgang 1968, ist Ressortleiter Wirtschaft und Finanzen der Welt-Gruppe (Die Welt, Welt am Sonntag, Welt digital). Zuvor war er Auslandschef der Financial Times Deutschland (2005-2007) und Washington-Korrespondent der Wirtschaftswoche (1999-2005). Für seine Arbeiten wurde er u. a. mit dem Ludwig-Erhard-Förderpreis für Wirtschaftspublizistik und dem Herbert-Quandt-Medienpreis ausgezeichnet.

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Leseprobe

Einleitung
Herr Turtur und der Ententest

August Gersemann, mein Urgroßvater, war Steinmetz von Beruf. Nebenbei beackerte er ein Stück Land, das nicht sein Eigen war, und arbeitete, weil er keine Pacht zahlen konnte, auf dem Hof des Eigentümers. Er hatte, so würde man es heute ausdrücken, drei Jobs. 1902 starb er, mit 32 Jahren, an einer ansteckenden Krankheit, vermutlich Typhus. Maria Gersemann, seine Frau, schlug sich durch. Sie wusch in den Häusern anderer Leute die Wäsche, per Hand, denn Waschmaschinen gab es damals nicht.

Und vieles andere auch nicht. Das Flugzeug, das Radio und der Staubsauger zum Beispiel waren gerade erst erfunden worden. Lange noch sollten sie in Deutschland ein Luxus bleiben, der einigen wenigen vorbehalten war. Es war eine Welt ohne Panzer und ohne Atombombe – aber auch ohne Anti-Baby-Pille und Antibiotika.

Augusts Sohn Josef, mein Großvater, wurde Hauer, und der Job war ungefähr so unangenehm, ungesund und gefährlich, wie es der Name andeutet. Hauer, so wurden früher einfache Bergleute genannt. Als mein Großvater um die 30 war, bekam ein Hauer im deutschen Steinkohlenbergbau neun Reichsmark am Tag; ein Kilo Butter, zum Vergleich, kostete in deutschen Großstädten damals vier Reichsmark.1

Josef Gersemann wurde hineingeboren in ein ärmliches Leben. Das Pro-Kopf-Einkommen, ein grobes Maß für den ökonomischen Wohlstand eines Landes, lag in Deutschland ungefähr auf dem Niveau, das heute Staaten wie Algerien, Bolivien oder die Philippinen erreichen. Es folgten ein Weltkrieg, die Hyperinflation, die Große Depression, noch ein Weltkrieg. Und dennoch: Als mein Großvater 1991 starb, hatte sich das Pro-Kopf-Einkommen in Deutschland mehr als verfünffacht.2 Er hatte zuletzt einen Lebensstandard genossen, der zu Zeiten seiner Geburt unerreichbar scheinen musste. Das wohl eindeutigste Zeichen dafür ist gar kein materielles: Josef Gersemann wurde – trotz seiner vielen Arbeitsjahre unter Tage, trotz eines frühen Herzinfarkts – 93 Jahre alt. Fast dreimal so alt wie sein Vater. Und mit ziemlicher Sicherheit auch weit älter als jeder seiner Vorfahren.

Keine besondere Geschichte. Und gerade das ist so besonders.

»Scheußlich, viehisch und kurz«, so beschrieb der englische Philosoph Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert das Leben des Menschen im »Naturzustand«. Für den allergrößten Teil der Geschichte traf diese Beschreibung auf den allergrößten Teil der Menschheit auch zu. Und es ging wenig voran. Im Jahr 1800 lag das Pro-Kopf-Einkommen in Deutschland sogar niedriger als drei Jahrhunderte zuvor. Die Zeitgenossen Goethes waren im Durchschnitt ärmer als die Landsleute Luthers.3

Dann erfasste die industrielle Revolution Deutschland. Seit nunmehr 200 Jahren hat hierzulande jede Generation den materiellen und immateriellen Wohlstand wachsen sehen – und das trotz aller Rückschläge. Fünf, sechs Generationen in Folge, jede zumindest im Durchschnitt in praktisch jeder nur denkbaren Hinsicht reicher als die davor – das hat es, soweit man das heute nachvollziehen kann, niemals zuvor gegeben.

Bald wird diese Serie abreißen, wir stehen vor einer historischen Zäsur. Meine Generation – ich bin Jahrgang 1968 – ist noch in sehr viel größerem Wohlstand aufgewachsen als die Generation zuvor. Meine Generation hat auch, wie die davor, einen beträchtlichen Wohlstandszuwachs miterleben dürfen. Aber meine Generation wird auch die neue Ära miterleben: die Ära, in der der Wohlstand in Deutschland mit hoher Wahrscheinlichkeit bestenfalls stagnieren wird. Die Phase dagegen, die wir aktuell erleben, eine Art Sonderkonjunktur, wird uns noch lange als die gute alte Zeit in Erinnerung bleiben. Sie ist das letzte Hurra einer großen Wirtschaftsnation.

Deutschland steht vor großen Herausforderungen. Es gilt, die Energiewende zu bewältigen, ohne dass die Preise für Strom weiter in dem Tempo der vergangenen Jahre steigen. Und es gilt, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die europäische Währungsunion dauerhaft Bestand hat. Wenn beides gelingt, dann hat Deutschland beste wirtschaftliche Aussichten: Das ist herrschende Meinung, ein weit verbreiteter Eindruck in Deutschland.

Dieses Buch widerspricht diesem Konsens. Euro- und Energiekrise sind in der Tat gewaltige Herausforderungen. Aber selbst wenn – ein großes Wenn – es gelingen sollte, sie zu meistern, gehen wir wirtschaftlich schweren Zeiten entgegen. Sehr schweren. Die Wirtschaftsmacht Deutschland gleicht Herrn Turtur aus Michael Endes Kinderbuch »Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer«: Je näher man hinschaut, umso kleiner wird sie. Deutschland ist ein Scheinriese, wir überschätzen unsere gegenwärtige wirtschaftliche Kraft ebenso wie unser wirtschaftliches Potenzial für die Zukunft.

Wenn sich dennoch Selbstzufriedenheit, ja Selbstgefälligkeit in der Wirtschaftspolitik der Ende 2013 gebildeten Großen Koalition widerspiegelt, dann ist das vor allem ein Produkt falscher Maßstäbe. Wir vergleichen uns mit Ländern, die gerade in akuten, umwälzenden Wirtschaftskrisen stecken, und freuen uns, dass wir dabei gut abschneiden. Wir definieren Beinahe-Stagnation in kräftige Aufschwünge um und anhaltende Massenarbeitslosigkeit in nahende Vollbeschäftigung. Wir protzen mit unseren Stärken und blenden unsere Schwächen aus. Wir haben uns die Latte niedrig gehängt und sind stolz, wenn wir sie überhüpfen.

Wirtschaftsexperten sind notorisch schlecht darin, die Zukunft vorherzusagen. Die Euro-Krise etwa hat praktisch niemand kommen sehen. Im Grunde reicht der Weitblick der Ökonomen noch nicht einmal bis zur nächsten Straßenecke. Rezessionen erkennen sie regelmäßig erst dann, wenn sie längst da sind.4

Auch auf sehr viel entscheidendere Fragen haben Ökonomen in der Vergangenheit vielfach die falschen Antworten gegeben. Der Österreicher Joseph Alois Schumpeter etwa, einer der ganz großen Theoretiker des Kapitalismus, sah im Kampf der Wirtschaftsordnungen den Sozialismus obsiegen. Ein anderer berühmter Ökonom, der Amerikaner Paul Samuelson, wurde 1961 noch konkreter: Schon 1984 könne die UdSSR die USA überholt haben. Die Dinge entwickelten sich bekanntlich anders, aber das schmälerte Samuelsons Zutrauen in den Kommunismus nicht. Noch 1980 schrieb er, die Sowjetunion werde womöglich zur weltgrößten Wirtschaftsmacht aufsteigen – vielleicht schon im Jahr 2002.5

Abschreckend wirken solche Blamagen offenbar nur bedingt. Vor allem Grenzgänger aus anderen Sozialwissenschaften trauten sich immer wieder kühne ökonomische Vorhersagen zu. 1979 betrachtete Ezra Vogel, ein Professor der amerikanischen Eliteuniversität Harvard, in einem gleichnamigen Bestseller »Japan as Number One«. 1993 dann machte Lester Thurow Furore. Der frühere Dekan der MIT Sloan School of Management, einer der Kaderschmieden für amerikanische Führungskräfte, sah in seinem Buch »Kopf an Kopf« drei Wirtschaftsblöcke um eine globale Vormachtstellung ringen: die USA, Europa und Japan. Thurow glaubte, dass Europa sich durchsetzen werde – ähnlich wie Jeremy Rifkin, der 2004 in »Der europäische Traum« Europa als »the new land of opportunity« propagierte und die Europäer, in einer Anspielung auf die Bergpredigt, als das auserwählte Volk. Zehn Jahre später dürfte Rifkins Traum für die vielen Millionen Arbeitslosen vor allem in Südeuropa wie Hohn klingen.

Wir glauben gerne, dass alles so bleibt, wie wir es gewohnt sind. Und so ist es ja auch meistens: Abends wird es dunkel, auf den Winter folgt der Frühling, auf den Blitz der Donner. Muster wiederholen sich, Trends setzen sich fort: Die Orientierung daran ist allzu menschlich.

Wir schreiben die Gegenwart fort in die Zukunft, wir »extrapolieren«, wie es im Deutsch der Wissenschaftler heißt. Extrapolation: darauf basierte Paul Samuelsons berühmte Prognose; er glaubte, das – scheinbar – starke Wachstum der Sowjetwirtschaft werde dauerhaft anhalten. Ganz ähnlich geartet waren die Prognosen aus den 70er- und 80er-Jahren, die Japan die USA überholen sahen. Und die heutigen Prognosen, die glauben machen, China werde bald schon zur größten Wirtschaftsnation der Welt aufsteigen, beruhen ebenfalls auf: Extrapolationen.

Dieses Buch ist auf den ersten Blick noch unbescheidener. Es behauptet nicht, dass sich ein Trend fortsetzen wird. Sondern dass ein Trend – die viel gepriesene wirtschaftliche Erholung Deutschlands nach Jahren der Stagnation nämlich – abbrechen wird, und zwar dauerhaft.

Aber die Prognosen, die dieses Buch enthält, sind nicht einfach nur plausibel in der Art, wie es simple Fortschreibungen der Vergangenheit sind. Es wohnt ihnen vielmehr eine Unausweichlichkeit inne. Denn erstens ist die dramatische Alterung der Bevölkerung, die uns bevorsteht, längst nicht mehr aufzuhalten. Um das Jahr 2035 herum werden unsere letzten geburtenstarken Jahrgänge in den Ruhestand gehen – und alle Menschen, die dann die Renten finanzieren müssen, sind bereits geboren. Es sind zu wenige.

Zweitens ist die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands in den vergangenen Jahren durch eine Reihe von Faktoren begünstigt worden, die uns in den Schoß gefallen sind und die – das ist entscheidend – nicht von Dauer sein können. Man denke etwa an die künstlich niedrigen Zinsen, die wie ein Dauerdoping auf die deutsche Wirtschaft wirken. Zudem hat die deutsche Wirtschaft in den Jahren seit 2005 enorm von der exzessiven Lohnentwicklung in Südeuropa profitiert. Damit haben sich Länder wie Spanien als Konkurrenten auf den Weltmärkten...

Blick ins Buch

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