Um DIS als komplexe psychische Störung in ihren Ursprüngen zu begreifen führt das anfängliche Kapitel in konzeptionelle Grundlagen zu Dissoziation und darüber hinaus in Klassifikationskriterien dissoziativer Störungen ein. Anschließend erhält der Leser einen Einblick über die geschichtliche Entwicklung der Störung und wird überdies zur Prävalenz informiert. Die brisant geführte Diskussion über existentielle und ätiologische Annahmen zu DIS soll dieses Kapitel zum Abschluss bringen.
Im weitesten Sinne bezeichnet Dissoziation das Gegenteil von Assoziation, dass heißt Spaltung oder Trennung. Spiegel und Cardena (1991) betrachten Dissoziation differenzierter, als „... eine strukturierte Separation mentaler Prozesse (von Gedanken, Körperempfindungen, Bedeutungen und Erinnerungen oder der Identität) [...], die zuvor in die ganzheitliche Wahrnehmung integriert waren.“. Weiter heißt es bei Putnam (1989, S.9), dass sich der ursprünglich „normale Prozess“, anfangs vom Individuum als Abwehr und zur Protektion eingesetzt, „... mit der Zeit in einen schlecht angepassten oder pathologischen Prozess verwandelt“.
Im „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorder“ (DSM, anglo- amerikanisch geprägt), dem Handbuch zur Klassifikation psychischer Störungen, wird Dissoziation daher als Unterbrechung oder zumindest Veränderung der normalerweise integrativen Funktion des Bewusstseins, des Gedächtnisses, der Identität und der Wahrnehmung definiert (vgl. Saß et al. 2003, S.586).
Deistler und Vogler (2002, S.42f.) fassen Dissoziation als allgemein menschlichen, psychisch internalisierten Verarbeitungsprozess mit extremer Spannbreite unterschiedlicher Phänomene zusammen, bei dem Anteile eines ursprünglich
zusammengehörigen Vorgangs (Erleben, Handeln) voneinander fern gehalten werden. Das heißt es sind spezifische Bewusstseins- und Aufmerksamkeitsprozesse aktiviert, welche die Informationsteile eines Gesamtgeschehens nicht mehr assoziieren, obwohl Teilbereiche ins Bewusstsein, dem Gedächtnis oder Selbstbild integriert wurden. Das Gesamterleben im Ursprung, das heißt mit Gedanken, Erinnerungen, Gefühlen, Bewegungsabschnitten oder Handlungsimpulsen, ist nicht mehr oder nur teilweise bewusstseinsfähig.
Die Fähigkeit zur Dissoziation ist in jedem Menschen vorhanden, kann allerdings in ihrem Ausprägungsgrad individuell variieren. Geschlechtsspezifische Unterschiede im Dissoziationsvermögen wurden bislang nicht gefunden.
Studien (z.B. Morgan/ Hilgard 1973) belegen, dass Kinder generell stärker in der Lage sind zu dissoziieren (bspw. aufgrund größerer Phantasiefähigkeit), als Erwachsene, denn mit zunehmenden Lebensalter lässt das Dissoziationspotential nach. Forscher (Kluft 1984; Hilgard 1977) gehen davon aus, dass Kinder und DIS- Betroffene bereits prädispositionell besonders suggestibel für Dissoziationen sind. Ihnen fällt es leichter in andere Bewusstseinszustände, fremde oder innere Welten zu wechseln und das Außen zu vergessen. Unter extrem belastenden Umweltbedingungen, wie DIS- Betroffene sie vorfanden, kann die eigene Dissoziationsfähigkeit im gleichen Maße zunehmen, wie sich die Suggestibilität zu Dissoziieren und die Absorptionsneigung erhöht. Voraussetzung für ein erhöhtes Dissoziationspotential ist demnach die Hypnotisierbarkeit, Phantasie und Absorption. Angenommen wird, dass die Fähigkeit zur Dissoziation zum einen genetische Dispositionen aufweist und zum anderen externale Gegebenheiten beteiligt sind. Inwieweit Dissoziationsfähigkeit anlagen- oder umweltbedingt ist, sollte weiter erforscht werden (vgl. Dornbusch 2002, S.35ff).
Putnam und Bernstein (1986) betrachten Dissoziation in verschiedenen Ausprägungen interindividuell auf einem Kontinuum. Je nach Grad ihrer Ausprägung reichen die dissoziativen Zustände und Phänomene von „normal“/ alltäglich (vorübergehender Zustand) bis „abweichend“/ pathologisch (Dissoziation als Hauptsymptom einer Störung, chronischer Zustand), während dazwischen „Dissoziation als Teil von anderen Störungen“ (z.B. bei Angststörungen oder als einzelnes Symptom) auftritt.
Bereits 1988 stellte Braun (1988) das Kontinuum- Modell dissoziativer Phänomene graphisch dar:
(Quelle: Dornbusch 2002, S.52)
Als Alltagsphänomen äußert sich Dissoziation in komplexen Handlungsroutinen, automatisierten und überlernten Verhaltensweisen sowie in selektiver Informationsverarbeitung. Dissoziative Phänomene reichen von Gedankenabwesenheit (z.B. „Autobahn- Trance“), Tagträumen, alltäglichem Vergessen, Flow- Erleben im Sinne von „ganz in eine Tätigkeit versunken zu sein“ (Csikszentmihalyi 1990) bis hin zum Eintauchen in andere Bewusstseinszustände, Schlafwandeln und ausgeprägten Trance- Erlebnissen (vgl. Deistler/ Vogler 2002, S.42ff).
So wie Kinder dissoziative Zustände in ihrem täglichen Verhalten spiegeln, indem sie imaginäre Spielgefährten haben, stark in unterschiedliche Affektzustände fluktuieren und sich selbst als eine andere Person wünschen (z.B. Prinzessin oder Ritter); nutzen auch Erwachsene Dissoziation, um täglichen Anforderungen gerecht zu werden. Durch die Trennung wesentlicher Informationen von unwesentlichen, wird der Aufmerksamkeitsfokus enger und Reaktionen effektiver. So sind gesellschaftliche Rollen und verschiedene Funktionen des Menschen (Rollen- Fluktuations- Hypothese: berufliche, mütterliche Rolle u.a.) erfolgreicher zu erfüllen und zu bewältigen (vgl. Fiedler 1999, S.187ff).
Bewegt man sich im Sinne der Kontinuum- Hypothese weg vom Alltäglichen, weiter in Richtung „pathologischen Pol“, zeigen sich dissoziative Zustände bereits als Symptome psychischer Störungen und erhärten sich im Extremfall zu chronischen, eigenständigen Störungen. Die stärkste Ausprägung ist ein übermäßiges, unkontrollierbares Dissoziieren und bezeichnet die DIS (vgl. Deistler/ Vogler 2002, S.43f.).
Obwohl in Fachkreisen anerkannt und angewandt, ist die Kontinuum- Hypothese zu dissoziativen Zuständen nicht ganz unumstritten. Einige Forscher (z.B. Waller et al. 1996) vertreten die Ansicht, Dissoziation sei lediglich in zwei Ausprägungsformen geteilt. Zum einen bestehe die kontinuierlich vorkommende, nicht- pathologische beziehungsweise alltägliche, und zum anderen eine diskret auftretende, pathologische Dissoziation, die selten bei „gesunden“ Individuen zu erwarten ist. Neuerdings widersprechen Putnam (Putnam et al. 1986) und Ross (1991) dieser Hypothese zunehmend selbst. Die Autorin schließt daraus, dass die Forschung noch am Anfang steht.
Im Kontext des Kontinuum- Modells kann Dissoziation also als Alltagsphänomen fungieren, aber auch pathologisiert als psychische Störung auftreten.
Neben DIS sind im DSM-IV-TR drei klassische dissoziative Störungen, die Dissoziative Amnesie, Dissoziative Fugue und Depersonalisation sowie die Restkategorie der Nicht- näher bezeichneten dissoziativen Störungen, festgehalten. Sie zeichnen sich aus durch fehlende Erinnerungen an wichtige vergangene Ereignisse des Lebens, plötzliches Verlassen des Zuhauses und durch eine Veränderung der Selbstwahrnehmung bezüglich des körperlichen Selbsterlebens oder des Gefühls für die eigene Wirklichkeit. Da DIS als komplexes Syndrom und stärkste Ausprägungsform des Kontinuums auch Amnesie- und Fugue- Episoden sowie Depersonalisations- und Derealisations- Erlebnisse aufweist, werden im Folgenden die Diagnosekriterien aller Dissoziationsstörungen nach DSM-IV-TR dargestellt (vgl. Saß et al. 2003, S.576ff)
Die Pathologisierung dissoziativer Phänomene beginnt, wenn Dissoziation autoregulativ häufiger als „normal“ im Alltag angewandt wird. Dies kann der Fall sein, wenn belastende und existentiell bedrohliche Lebensumstände wie zum Beispiel dauerhafte Traumatisierungen vorliegen, denen sich der Mensch zu entziehen versucht. Dissoziation übermäßig stark und regelmäßig zu nutzen, ist eine Möglichkeit der Reaktion und Verarbeitung. Dabei kommt es zur innerpsychischen Focusbildung auf das Geschehen, welche die Aufmerksamkeitsprozesse bindet und absorbiert. Das Dissoziationspotenzial wächst gleichzeitig mit der Häufigkeit der Anwendung und entzieht sich der Kontrolle und Bewusstheit des Menschen über sein Erleben und Handeln. Dissoziieren ist nicht mehr beeinflussbar und geht mit wesentlicher Beeinträchtigung der Integration von Identität, Gedächtnis, Bewusstsein und der Wahrnehmung der Umwelt einher. Dissoziation bekommt pathologischen Charakter (vgl. Fiedler 1999, S.37).
Das vorherrschende Störungsbild der Dissoziativen Amnesie (300.12) zeigt sich in einer oder mehreren Episoden, in denen eine plötzlich einsetzende Unfähigkeit besteht, sich an wichtige persönliche Informationen zu erinnern, die zumeist traumatischer oder belastender Natur sind....