Kapitel 2- Ein neuer Name und ein neuer Anfang
Nach der Übertragung der Besitzrechte erhielt die Franca C einen neuen Namen. Monate zuvor hatten OM- Mitarbeiter damit begonnen, Ideen dafür zu sammeln: zum Beispiel Morgenstern, Licht, Botschafter, Freundschaft, Charis oder Doulos. Jeder Vorschlag wurde bedacht und diskutiert, bis sich die Mehrheit der Stimmen für den Namen Doulos einsetzte.
Doulos, so wurde entschieden, drückte am besten aus, worum es bei der Arbeit der Schiffe eigentlich ging. Es war ein griechisches Wort, das oft im Neuen Testament verwendet wurde und so viel wie ‘Knecht’ oder ‘Diener’ bedeutet. Der Apostel Paulus zum Beispiel bezeichnete sich selbst als einen doulos des Herrn Jesus Christus. In seinem Brief an die Gemeinde in Korinth schrieb er: »Denn wir sind nicht der Mittelpunkt unserer Predigt, sondern Christus, der Herr! Wir sind nur eure Diener [doulos], und das aus Liebe zu Jesus.«
Genau das war der Herzenswunsch der OM-Leute: in völliger Hingabe Jesus Christus zu dienen und dadurch auch ganz zu Dienern der Menschen zu werden, welchen sie von Christus erzählen wollten. Ihr Ziel war nicht, irgendetwas Großartiges zu leisten oder die Antworten auf alle Fragen und Probleme des Lebens zu verkünden. Nein, sie zogen in die Welt, um zu lernen und zu dienen. Und daran würde der Name Doulos sie stetig erinnern.
Ihr Vorbild dazu war einzigartig. Jesus Christus selbst hatte alles Ansehen, alle Ehre, allen Reichtum und alle Vorrechte seiner himmlischen Stellung abgelegt und wurde, um es mit den Worten Paulus’ zu sagen, »rechtlos wie ein Sklave [doulos]«.
So wurde das neue OM-Schiff Doulos getauft und seine Mannschaft verschrieb sich dem Dienen. Nicht oberflächlich, wie bezahlte Arbeiter, die jederzeit gehen konnten, wenn ihnen etwas nicht passte, sondern als Freiwillige in tiefer Hingabe, um Diener von Jesus Christus zu sein.
Als die Doulos-Mannschaft mit dieser Einstellung ans Werk ging, entdeckte sie etwas Erstaunliches: Sie wollten zwar Diener sein, aber Jesus kam ihnen als Freund entgegen. Es war genau so, wie er es seinen Jüngern im Johannesevangelium gesagt hatte: »Ich nenne euch nicht mehr Knechte (doulos), denn einem Knecht sagt der Herr nicht, was er vorhat. Ihr aber seid meine Freunde ...« Im Dienen entdeckten sie die Gegenwart Jesu. Er legte seinen tröstenden Arm um sie, wenn etwas sie bedrückte. Wenn sie nicht mehr weiterwussten, zeigte er den nächsten Schritt. Er nahm sie so an, wie sie waren und sah gleichzeitig schon das, was er noch aus ihnen machen wollte. Er bezog sie in Dinge mit ein, die ihm auf dem Herzen lagen. Er begegnete ihnen als Freund. Dienen und Freundschaft: das wurden die Markenzeichen, welche sich in der Geschichte der Doulos in immer neuen Variationen wiederholen würden.
Doch seetüchtig war die Doulos noch nicht. Das Dienen vieler douloi war dazu noch nötig. Der Schiffsmotor musste überholt werden und viele andere Arbeiten mussten noch erledigt werden, damit das Schiff all die nötigen Sicherheitszertifikate erhielt, um in See stechen zu können. Schon bevor der Kauf vollständig abgewickelt worden war, hatten die Arbeiten begonnen: Bereits ein gutes Dutzend Männer kam an Bord, um dort zu arbeiten und zu leben. Dann folgten mehr. Der Direktor George Miley schrieb in einem Bericht über die ersten beiden Monate:
Dann kamen immer mehr. Sie kamen aus den USA, aus Kanada, aus Großbritannien, aus der Schweiz, aus Deutschland und aus anderen Ländern. Von manchen wussten wir, dass sie kommen würden. Andere kamen einfach so.
Einige waren noch nie zuvor auf einem Schiff gewesen. Andere hatten schon Jahre auf hoher See verbracht. Auf einige hatten wir von Anfang an gezählt. Andere kannten wir noch gar nicht, als wir den Kaufvertrag unterschrieben. Schon bald hatten wir 35 Leute an Bord.
Dann 50. Bevor wir uns versahen, waren wir 80. Und bevor wir von Genua aufbrachen, waren wir um die 150 - mehr schon auf der Jungfernfahrt der Doulos, als die Logos je an Besatzung gehabt hatte!
Einer von denen, die an Bord kamen, war Rudi, ein Schweizer. Seine Englischkenntnisse waren bescheiden, sein Arbeitswille hingegen umso größer. Als der leitende Ingenieur eines Morgens um sechs in den Maschinenraum kam, traf er auf Rudi, der gewissenhaft bei der Arbeit war.
»Rudi«, rief er erstaunt, »hast du etwa die ganze Nacht hier gearbeitet?«
»Ja«, erwiderte der und erklärte, »ich kann nicht predigen. Ich kann auch nicht lehren. Aber ich kann dem Herrn mit meinen Händen dienen.«
Ein anderer, der gekommen war, um auszuhelfen - und letztendlich einige Jahre als leitender Ingenieur blieb, kam aus Dänemark. Seine Beschreibung war der von Rudi sehr ähnlich: »Er kam an Bord, stellte sich kurz vor, verschwand dann im Maschinenraum, wo er seither ist.« Einmal wurde er in einer Gruppenandacht gebeten, etwas über sich zu erzählen.
»Wenn ich so schlecht arbeiten würde, wie ich rede«, meinte er, »würdet ihr mich auf diesem Schiff nicht benötigen.« Sprach’s und verschwand wieder im Maschinenraum.
Mike Poynor, der maßgeblich bei der Suche nach dem Schiff und dessen Inspektion beteiligt gewesen war, zog mit seiner Frau und vier Töchtern, darunter sechs Wochen alte Zwillinge, auf dem Schiff ein. Seine Frau, Carol Ann, beschreibt, wie Familienleben damals aussah:
Als wir an Bord einzogen, gab es noch kein fließendes Wasser. Ich holte jeden Morgen einen Eimer voll Wasser in der Kombüse, wo durch einen Schlauch Wasser vom Festland hergepumpt wurde. In einem Wasserkessel erwärmte ich es und badete die Zwillinge in einer kleinen Plastikwanne.
Weil es auch noch keine Heizung gab, war es auf dem Schiff bitterkalt. Wenn man in einer Koje schlief, die entlang der Schiffswand lag, fror man ständig, und beim Ausatmen schlug sich an der stählernen Wand des Schiffes Kondenswasser nieder.
All unsere Sachen mussten wir zum Waschen an Land geben und für jedes Stück einzeln bezahlen. Da das aber mit all diesen winzigen Babykleidern zu teuer war, wusch ich alles von Hand und versuchte, die Kleider auf dem Schiff trocken zu kriegen.
Wenn die Babys abends jeweils gewaschen, gefuttert und schlafen gelegt waren, begann ich zusammen mit einer anderen Mutter das Schiff zu putzen. Unsere erste Aufgabe war es, alle verstopften Toiletten zu reinigen. Die Wächter, die auf dem Schiff gewesen waren, hatten so lange eine Toilette benutzt, bis diese verstopft war - weil man aufgrund des fehlenden Wassers nicht spülen konnte - und dann waren sie einfach zur nächsten Toilette gegangen, bis auch diese verstopft war. Wir schleppten also als Erstes Eimer um Eimer voll Wasser her, um sie in die Toiletten zu gießen. Toilettenspülung mit fließendem Wasser gab es erst später, als das Schiff wieder eigenen Strom produzierte.
Einige Wochen später, als das Schiff im Trockendock lag, zog der leitende Ingenieur, Rex Worth, mit seiner Frau und der einjährigen Tochter an Bord. Seine Frau bekam einen Schlüssel für die Damentoilette am anderen Ende des Docks, ungefähr 200 m weit entfernt. Jeden Tag wickelte sie ihr Baby in eine Decke und ging die Landebrücke des Schiffs hinunter, dann in der bitteren Kälte entlang des Trockendocks bis zum Waschraum, wo es fließend warmes Wasser gab. Dort badete sie ihr Kind, wickelte es wieder ein und ging denselben Weg zum Schiff zurück.
»Damals fand ich das nicht ungewöhnlich«, erzählte sie später. »Es schien die natürlichste Sache der Welt zu sein. Wir kamen mit allem Möglichen zurecht. Es war so aufregend, an diesem neuen Projekt mitzuarbeiten.«
So sah das Leben an Bord aus, bevor die Doulos Ende Januar aus dem Trockendock kam und die Schiffsgeneratoren endlich gestartet werden konnten. Es gab wieder Strom und das Leben wurde ein bisschen einfacher.
Eine Ecke des Schiffes war jedoch die ganze Zeit über relativ warm und gemütlich gewesen. Es war der Ingenieur-Aufenthaltsraum, der allen an Bord als Speisesaal diente. Ein Kabel vom Festland versorgte hier einen elektrischen Herd mit Strom, worauf der Koch die Mahlzeiten zubereitete. Der Herd verbreitete Wärme und dieser Raum wurde zum »Wohnzimmer« des Schiffs. Jeden Morgen trafen sich die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zum Gebet, auch zum Gebet für die täglichen Aufgaben eines jeden.
Ähnlich wie Adele an Bord legte auch Rex Wert darauf, vor dem gemeinsamen Gebet einige Zeit alleine mit Gott zu verbringen, bevor er die Aufgaben seines Tages anging. Eines Morgens las er im Buch Esra im Alten Testament über die Rückkehr der Juden aus dem Exil und wie sie ihren Tempel wieder neu aufbauten. Während des Lesens beeindruckte ihn ein Grundsatz: Wenn man Gottes Werk tat, kam alles dazu Nötige zur rechten Zeit an die nötige Stelle. Rex geriet in eine solche Begeisterung über das, was er las, dass er darüber die Zeit vergaß. Plötzlich merkte er, dass er für die gemeinsame Morgenandacht schon viel zu spät dran war. Er schlug seine Bibel zu und flitzte zu den anderen, welche bereits begonnen hatten. Bei der ersten Gelegenheit, die sich ihm bot, sprang er eifrig auf, um den anderen von seiner morgendlichen Entdeckung zu berichten. Da fingen alle an zu lachen. Ganz perplex sah sich Rex um. »Ich...