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Die dunkelste Stunde

Churchill - Als England am Abgrund stand

AutorAnthony McCarten
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783843717359
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Mai 1940: Die Nazis erobern Westeuropa. In einer der dunkelsten Stunden der Weltgeschichte steht der frisch gewählte britische Premierminister Winston Churchill persönlich und politisch vor der Herausforderung seines Lebens. Soll er sich Hitler-Deutschland um eines Friedens willen annähern oder entschlossen in den Krieg ziehen? Innerhalb kurzer Zeit muss er sich entscheiden und das britische Volk auf seine Seite bringen. Anthony McCarten, Romancier und Autor der Bestseller Superhero und Licht, entwirft ein spannendes Historiendrama und zeigt, wie Winston Churchill zur Ikone eines ganzen Jahrhunderts werden konnte.

Anthony McCarten wurde 1961 in Neuseeland geboren und begann seine Karriere am Theater. Seither feiert er als Theaterschriftsteller, Romanautor und Drehbuchautor immer größere Erfolge: Mit seinen Romanen Englischer Harem und Superhero schuf er sich eine große Fangemeinde. 2015 wird er für sein Drehbuch zum Film The Theory of Everything (Auf der Suche nach der Unendlichkeit) für zwei Oscars nominiert und gewinnt zwei British Academy Awards. Anthony McCarten lebt in London.

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Leseprobe

1. Ein Haus ist uneins


Das britische Parlament befand sich in einem Aufruhr aus Ablehnung und Beschimpfungen. »Raus, raus!«, grölte es von den oberen Galerien, wo sich Adlige und Mitglieder des Oberhauses nach vorn beugten, um besser sehen zu können. »Tritt zurück, Mann! Tritt zurück!« In der britischen Politik hatte es so etwas noch nicht gegeben. Mitglieder der Opposition rollten ihre Tagesordnungen dolchartig zusammen und warfen sie in Richtung der in sich zusammengesunkenen, bereits scheiternden und still leidenden Gestalt, die vor der Dokumententruhe saß – des konservativen Premierministers von Großbritannien, Neville Chamberlain.

Aus vielerlei Gründen zögerte Chamberlain jedoch, als Regierungschef zurückzutreten – nicht zuletzt wegen seiner tiefen Unsicherheit dahingehend, wer ihm nachfolgen könnte.

Großbritannien befand sich seit acht Monaten im Krieg und war bislang ziemlich erfolglos gewesen. Sowohl Politiker als auch die Öffentlichkeit schrien nicht nur nach einem neuen Führer, sondern, wie es alle großen Zeiten erfordern, nach einem großen Führer – einem, der sagen könnte, was nur große Führer sagen können: Worte, die bewegen und aufrütteln, überzeugen und inspirieren, Worte, die in den Herzen der Menschen Gefühle erwecken können, von denen sie selbst nichts wissen. Aus diesen Worten werden Handlungen, die wiederum, abhängig von ihrem Wesen, zu Sieg oder blutiger Niederlage führen.

Daneben gab es vielleicht noch etwas, was sich eine Nation in der Krise ebenfalls von ihrem Führer wünscht, so überraschend das klingen mag: Zweifel. Die wichtige Fähigkeit, die eigene Beurteilung anzuzweifeln, einen Geist zu besitzen, der zwei sich widersprechende Gedanken gleichzeitig fassen und dann auch abwägen kann; nicht voreingenommen zu sein und somit im Austausch mit allen bestehenden Ansichten zu bleiben. Dies stand im Gegensatz zu einem entschlossenen Geist, der nur mit einer einzigen Person im Gespräch bleiben konnte: sich selbst. Großbritannien hatte damals geringen Bedarf an einem Ideologen. Was man brauchte, war ein 360-Grad-Denker.

Wie Oliver Cromwell 1650 an die Kirche von Schottland schrieb: »Im Namen Christi ersuche ich Euch, betrachtet es als möglich, dass Ihr irrt.« In jenen Tagen voller Zweifel und angesichts der Herausforderungen, vor denen die britische Nation stand, welche so ernst waren, dass ihre gesamte Zukunft vom nächsten Schritt abhing, lautete die große Frage: Wo ließe sich ein solcher Führer finden?

»In Anbetracht Ihrer jüngsten Erfolge sitzen Sie schon viel zu lange hier. Gehen Sie, sage ich, und befreien Sie uns von sich. Im Namen Gottes, gehen Sie!«1 Leo Amery, Abgeordneter für Sparkbrook in Birmingham, nahm unter donnerndem Applaus wieder seinen Platz ein. Es war der erste Abend der heute legendären Norwegendebatte, Dienstag, 7. Mai 1940. Das Haus tagte nun schon seit beinahe neun Stunden. Es war ein warmer Frühsommerabend und bereits dunkel. Seine Worte waren wie ein Messerstich in die Seite seines konservativen Kollegen Chamberlain.

Großbritannien war ein geteiltes Land, und die Regierung stand nicht etwa zusammen, sondern war gespalten durch Egos und kleinmütige Streitereien, die zu den katastrophalen militärischen Misserfolgen sowohl auf dem Schlachtfeld als auch auf hoher See beigetragen hatten. Die Aussicht auf einen Sieg des Faschismus und ein Ende der Demokratie in Europa war nicht mehr unvorstellbar.

Die Saat, die bei dieser berühmten Parlamentsdebatte an jenem Abend aufging, wurde fünf Tage zuvor gesät: England hatte die Nachricht erreicht, dass Großbritannien seine Truppen aus dem norwegischen Hafen Trondheim abzog, nachdem sie erstmals unter schweren Beschuss durch die Nazis gekommen waren. Leo Amery und Mitglieder von Lord Salisburys Aufsichtsgremium, welches aus konservativen Parlamentsmitgliedern und Lords bestand und die Regierung zur Rechenschaft ziehen sollte, ebenso wie eine All-Parteien-Initiative des Parlaments mit ähnlicher Zielsetzung, die jedoch von dem Liberalen Clement Davies angeführt wurde und Mitglieder der Labour-Partei umfasste, waren übereingekommen, eine Debatte über die Patzer zu erzwingen, die bei dieser ersten Begegnung mit Nazi-Truppen begangen worden waren, und mit dieser Debatte zu versuchen, endlich jenen Führer loszuwerden, der, wie sie fanden, ihnen und dem Land einen schlechten Dienst erwies.

Am 7. Mai, dem ersten von zwei Diskussionstagen, um 15.48 Uhr, hatte Chamberlain erstmals das Wort zum Thema »Kriegsführung« ans Parlament gerichtet. Seine Rede, sein Rettungsversuch, stärkte jedoch weder seine Position, noch konnte er Ängste mindern, dass Großbritannien auf den Abgrund zusteuerte. Vielmehr festigte sie die Wahrnehmung seiner Person als müden und defensiven Mann, der die Nation nur weiter in den Untergang treiben würde. »Gebrochenen Herzens und verschrumpelt«, wie sich ein Kommentator später ausdrückte, machte er unermüdlich weiter, während ihm seine Feinde noch weitaus griffigere Sätze an den Kopf warfen.2 Er kannte diese Sätze nur zu gut, da er sie selbst geprägt hatte: »Frieden in unserer Zeit« (sein hochmütiges Versprechen vom Vorjahr) und »Bus verpasst!« (womit er gemeint hatte, Hitler habe den Anschluss verpasst und stelle keine Gefahr mehr für Europa dar). Nun explodierten sie wie Handgranaten vor seinen Füßen.

Die verhaltene Zustimmung, die Chamberlain während seiner Rede erhielt, beschrieb Labour-Mitglied Arthur Greenwood als »synthetisch«, denn die Stimmung im Hause war nie gedrückter gewesen: »Sein Herz [des Parlaments] ist besorgt. Es ist bange; es ist mehr als bange; es ist beklommen.«3

Als Chamberlain seinen Platz wieder eingenommen hatte, setzte der konservative Abgeordnete Admiral Sir Roger Keyes, gekleidet in voller Uniform (im Unterhaus etwas noch nie Dagewesenes), zu einem theatralischen Auftritt an und brachte das Haus zum Schweigen. Keyes, der dem Premierminister seit langem kritisch gegenübergestanden hatte, warf der Regierung eine »erschreckende Unfähigkeit« vor.4 Er wusste, wovon er sprach: Er hatte das Versagen mit eigenen Augen gesehen.

Der nächste Redner war Clement Attlee, Führer der oppositionellen Labour-Partei. Er war nicht unbedingt für seine Redegewandtheit bekannt, doch das Thema inspirierte ihn offenbar, und er sprach bissig von dem »unfähigen« Umgang mit der Situation durch die Regierung:

Es ist ja nicht nur Norwegen. Norwegen ist nur der Gipfel eines verbreiteten Unbehagens. Die Leute sagen, dass diejenigen, die für die Staatsführung hauptsächlich zuständig sind, Männer seien, die eine fast ununterbrochene Karriere aus Misserfolgen hinter sich haben. Norwegen folgt der Tschechoslowakei und Polen. Es ist immer wieder dieselbe Geschichte: ›Zu spät.‹ Der Premierminister sprach davon, dass Busse verpasst würden. Was ist mit den ganzen Bussen, die er und seine Gefolgsleute seit 1931 verpasst haben? Sie alle haben die Friedensbusse verpasst und stattdessen den Kriegsbus genommen. Die Menschen sehen, dass diese Männer, die in ihrer Einschätzung der Geschehnisse ständig falsch geurteilt haben, dieselben Leute, die glaubten, Hitler würde die Tschechoslowakei nicht angreifen, die glaubten, Hitler könnte befriedet werden, offenbar auch nicht erkannt haben, dass Hitler Norwegen angreifen würde.5

Kurz vor Mitternacht am 7. Mai war Chamberlains Schicksal besiegelt, doch schien es vielen Parlamentsmitgliedern, als wäre der Premierminister selbst nicht in der Lage, dies zu erkennen. Diese Blindheit war nichts Neues. John »Jock« Colville, sein Erster Privatsekretär, hatte am Tag zuvor in sein Tagebuch geschrieben: »Der P.M. ist wegen der Angriffe auf ihn seitens der Presse sehr niedergeschlagen … Ich glaube, er leidet an einer seltsamen Eitelkeit und Selbstüberschätzung, die von München herrührt [Bezugnahme auf September 1938, als man Chamberlain zwar vorwarf, auf sämtliche von Hitlers Forderungen eingegangen zu sein, ihm aber die Wahrung des Friedens zugutehielt] und seitdem trotz mancher Blessuren weiter gediehen ist.«6

So kam es, dass am Morgen des 8. Mai, vor dem zweiten und entscheidenden Tag der Debatte und angesichts der nicht erkennbaren Bereitschaft Chamberlains, als Premierminister zurückzutreten, Mitglieder sowohl des Aufsichtsgremiums als auch der All-Parteien-Initiative noch einmal im Parlament zusammenkamen. Sie beschlossen, ein Abstimmungsverfahren zu erzwingen, bei welchem die Abgeordneten darüber befinden sollten, was laut Parlamentsmitglied Herbert Morrison zeigen würde, »ob sie mit der Führung der Staatsangelegenheiten zufrieden sind, oder ob ihnen die Staatsführung Sorgen bereitet«.7 Mit anderen Worten: Man wollte Chamberlain den K.-o.-Schlag verpassen, indem man ihm die notwendige Anzahl Unterstützer entzog, die er für eine effektive Fortsetzung seiner Amtsgeschäfte brauchte.

Man verständigte die sogenannten Whips, die parlamentarischen Geschäftsführer, die unter den Mitgliedern der zahlreichen Wahlblöcke eifrig um Unterstützung warben. Colville notierte in seinem Tagebuch, dass ranghohe Konservative »über eine Regierungsneubildung sprechen und ernsthaft Modelle wie einen Handel diskutieren (den [Lord] Halifax [Herbert] Morrison vorschlagen soll), bei dem die oppositionelle Labour-Partei zur Regierungsbeteiligung eingeladen wäre. Im Gegenzug will man ein paar wichtige hohe Tiere aus der Regierung...

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