1. Einleitung
1.1 Forschungsstand, Fragestellung und Methodik
Am 9. Januar 1966 beschloß das Bundeskabinett, den zeitlich begrenzten Einsatz eines Hospitalschiffs zur medizinischen Versorgung durch Kriegshandlungen verletzter Zivilisten in der südvietnamesischen Hauptstadt Saigon zu finanzieren. Trägerschaft und Durchführung des Einsatzes wurden dem Deutschen Roten Kreuz übertragen. Nach kurzer Prüfung durch Fachleute der Bundesministerien für Gesundheit und Verteidigung fiel die Wahl auf den Ausflugsdampfer „Helgoland“, für dessen Nutzung als Lazarettschiff im Verteidigungsfall bereits detaillierte Pläne vorlagen. Die grundsätzliche Initiative für ein Engagement der Bundesrepublik Deutschland im Vietnamkrieg ging allerdings nicht von der Bonner Regierung, sondern von den USA aus: Im Dezember 1965 hatte US-Präsident Lyndon B. Johnson Bundeskanzler Ludwig Erhard aufgefordert, den amerikanischen Bündnispartner im Indochinakonflikt nicht nur ideell durch Solidaritätserklärungen, sondern auch durch konkretes Handeln zu unterstützen.
Bevor die „Helgoland“ nach dem Umbau in Hamburg im August 1966 ihre Reise nach Südostasien beginnen konnte, mußten zunächst verschiedene Fragen zum völkerrechtlichen Status des Schiffs geklärt, ein Kooperationsvertrag zwischen der Bundesregierung und dem DRK sowie ein bilaterales Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Vietnam geschlossen werden. Verschiedene Arbeitsgruppen in den beteiligten Bundesministerien bereiteten den Einsatz in enger Abstimmung mit dem Roten Kreuz und den Gremien des Deutschen Bundestages vor.
Anspruch meiner Magisterarbeit ist es, die Vorbereitung des „Helgoland“-Einsatzes vom Eintreffen des amerikanischen „Hilfeersuchens“ bei der Bundesregierung im Dezember 1965 bis zur Ankunft der „Helgoland“ in Vietnam im September 1966 im Rahmen einer Abhandlung zur politischen Ereignisgeschichte darzustellen. Neben einer Analyse der Hintergründe für dieses humanitäre Engagement stehen die Untersuchung des Planungsprozesses, der öffentlichen Reaktionen und der rechtlichen Rahmenbedingungen im Focus der Arbeit. Um die Thematik bearbeiten zu können, war zuvor eine ausgiebige empirische Recherche in den Archiven des Bundes und des Deutschen Roten Kreuzes erforderlich, da bislang keine zusammenhängende geschichtswissenschaftliche Untersuchung der Thematik vorgelegt wurde. In der Universitätsbibliothek, in den Archiven der beteiligten Bundesbehörden und Organisationen sowie im Internet konnten keine Publikationen ausfindig gemacht werden, in denen die politischen Hintergründe und die Vorbereitung der „Helgoland“-Mission aus historischer Sicht untersucht worden sind. Eine umfangreichere Veröffentlichung des DRK[1] zum Hospitalschiff liegt zwar vor, sie befaßt sich aber vorrangig mit den medizinischen, nicht aber mit den historischen und politischen Aspekten des Einsatzes. Auch in den in Buchform erschienenen autobiographischen Erlebnisberichten zweier an Bord der „Helgoland“ tätiger Ärzte finden sich, abgesehen von einigen Anmerkungen zu ihrem politischen Selbstverständnis bezüglich des Einsatzes, keine Ausführungen, aus denen sich Hinweise auf die politischen Rahmenbedingungen und den Prozeß der Vorbereitung der Mission entnehmen lassen.[2] Weitere Sekundärquellen zur „Helgoland“ existieren nicht – in den für die Arbeit zu Rate gezogenen Standardwerken zur Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland und zur Geschichte des Vietnamkriegs wird das Schiff nicht einmal erwähnt.[3]
Daher war eine empirische Auswertung der bis zum jetzigen Zeitpunkt unerforscht gebliebenen Primärquellen gegeben. Im Zuge der Forschungen galt es die folgenden grundsätzliche Fragen zu klären:
Welche politischen Hintergründe führten zu Vorbereitung und Durchführung der „Helgoland“-Mission und wie sind diese zu bewerten?
Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Mission und der weltpolitischen Lage der Jahre 1965 und 1966?
Welche Möglichkeiten eines aktiven Engagements im Vietnamkonflikt hatte die Bundesregierung?
Welche Aktivitäten waren ihr aus rechtlichen, politischen und historischen Gründen verwehrt?
Wer war an Durchführung und Planung des Einsatzes beteiligt?
Wie wurde die Vorbereitung koordiniert?
Welche rechtlichen Aspekte galt es bei der Vorbereitung des Einsatzes zu beachten und zu klären, welche Schwierigkeiten gab es?
Wie wurde der „Helgoland“-Einsatz in Politik, Medien und Öffentlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland bewertet?
Die vorliegende Magisterarbeit soll durch die grundlegende Aufhellung der Hintergründe, der Planung, der Durchführung und der Rezeption des „Helgoland"-Einsatzes die Basis für eine mögliche weitergehende historische Auseinandersetzung mit der Thematik legen. Der sozial-humanitäre Charakter der Mission steht in direkter Beziehung zu ihren politischen wie rechtlichen Rahmenbedingungen; ein Verständnis der Zusammenhänge ist ohne die Kenntnis dieser Hintergründe nicht möglich. Darauf aufbauende Forschungen wären ohne Berücksichtigung der hier dargestellten Zusammenhänge ebenso wenig vollständig wie umfassend möglich. Erst auf dieser Grundlage können detailliertere Untersuchungen, beispielsweise aus medizin-[4], schiffahrts- oder sozialhistorischer Perspektive, unternommen werden.
In den Akten zum „Helgoland“-Einsatz, in Presseveröffentlichungen und in verschiedenen Zeitzeugenberichten finden sich für solche weiterführenden Untersuchungen wertvolle Hinweise und Ansätze. Einige Anmerkungen zur medizinisch-humanitären Notwendigkeit des Einsatzes sowie zu seiner Wahrnehmung sind in diese Arbeit aufgenommen worden, um den Einfluß dieser Faktoren auf den Einsatz zu verdeutlichen. Der Untersuchungszeitraum bleibt bewußt auf die Jahre 1965 und 1966 beschränkt, da sich der politische Prozeß der Planung, Vorbereitung und Begleitung der „Helgoland“-Mission, abgesehen von wenigen Fragen zur Finanzierung des Einsatzes und zum Bau eines Landkrankenhauses als Ersatz für die „Helgoland“, auf diesen Zeitraum konzentriert. Daher bieten sich Untersuchungen des Folgezeitraums in erster Linie für Medizin- und Sozialhistoriker an. Es sei darauf verwiesen, daß eine historische Gesamtdarstellung der Mission von 1966 bis 1972 erst dann möglich ist, wenn keine Akten in den Archiven des Bundes mehr von der im Bundesarchivgesetz festgelegten Sperrfrist von 30 Jahren betroffen sind. Bislang sind nur Akten bis einschließlich 1970 zugänglich.
1.2 Aufbau der Arbeit
Meine Untersuchung zur „Helgoland“-Mission habe ich neben der Einleitung (Kapitel 1) und der Zusammenfassung (Kapitel 5) in drei Kapitel mit folgenden Schwerpunkten gegliedert:
Im zweiten Kapitel „Dilemma der Regierung Ludwig Erhard: Ein deutscher Militäreinsatz in Vietnam?“ soll die Vorgeschichte der „Helgoland“-Mission untersucht werden: Einführend erfolgt zunächst eine kurze zusammenfassende Darstellung der deutsch-amerikanischen Beziehungen in der Ära Erhard unter besonderer Berücksichtigung des Vietnamkonflikts. Eine Kenntnis dieser Hintergründe ist Voraussetzung für das Verständnis der folgenden Entwicklung. Im Folgenden soll der Staatsbesuch Erhards im Dezember 1965 in Washington thematisiert werden, in dessen Verlauf US-Präsident Johnson die deutsche Delegation zu einem aktiven Engagement von Bundeswehrverbänden in Vietnam aufforderte. Im Vordergrund steht hier die Fragestellung, welche Motive Johnson dazu bewegten, welche Forderungen er stellte und wie die deutsche Delegation darauf reagierte. Es folgt die Auseinandersetzung mit dem Feedback von Politikern, Medien und Öffentlichkeit auf den Wunsch der Amerikaner. Untersucht werden soll die Frage, welche Konsequenzen und Probleme sich für das politische Handeln der Bundesregierung daraus ergaben. Des weiteren enthält das erste Kapitel eine kurze Darstellung der rechtlichen Hindernisse für einen deutschen Militäreinsatz außerhalb des NATO-Gebiets. Somit soll, überleitend zum nächsten Kapitel, geklärt werden, welche Formen eines deutschen Engagements auf internationalen Kriegsschauplätzen überhaupt möglich gewesen wären.
Das dritte Kapitel „Politische Alternative: die ,Helgoland‘-Mission“ befaßt sich mit der Vorbereitung des Einsatzes von Januar bis September 1966. Zunächst erfolgt die Untersuchung, warum und wie aus dem Wunsch der USA nach deutschem Militärengagement ein humanitärer Einsatz in Form eines Hospitalschiffs wurde. Anschließend werden der Prozeß der Vorbereitung der Mission durch die Bundesregierung und den Deutschen Bundestag sowie die Diskussion in der Öffentlichkeit dargestellt. Hier sollen die Koordination, die notwendigen Planungsschritte sowie die Frage untersucht werden, welche Reaktionen das Vorhaben der Entsendung der „Helgoland“ bei Politikern, Bürgern und Medien auslöste. Abschließend sollen die letzten Vorbereitungen der Reise, die Verabschiedung in Hamburg und das Eintreffen der „Helgoland“ in Saigon thematisiert werden. Ein besonderes Augenmerk gilt an dieser Stelle der Frage, wie das medizinische...