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Die Entstehung der Soziologie aus der Sozialreform

Eine Fachgeschichte

AutorKatharina Neef
VerlagCampus Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl326 Seiten
ISBN9783593418698
FormatPDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis41,99 EUR
Soziologie war um 1910 in aller Munde - nicht nur bei Akademikern, sondern gerade auch bei sozial engagierten Intellektuellen: Ingenieuren, Ärzten, Naturwissenschaftlern. Eine Wissenschaft von der Gesellschaft - das hatte Potenzial für optimistische Fortschrittsgedanken. Wie funktioniert Gesellschaft? An welchen Rädern muss man drehen, um sie zu verbessern? Das Schlagwort der Intellektuellen war eben nicht die von Max Weber propagierte Werturteilsfreiheit und Selbstbeschränkung, sondern das Gegenteil: Kulturbeherrschung. Katharina Neef zeichnet die Entwicklung einer Soziologie jener Denker nach, die aus der Sozialreform nach 1900 hervorgegangen sind.

Katharina Neef, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Religionswissenschaftlichen Institut der Universität Leipzig.

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Leseprobe
Ich glaube, dass es ganz allgemein bei jedem Feld um seine Grenzen geht, um die Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit zu diesem Feld. In einem Feld von Soziologen stellt sich die Frage, wer Soziologe ist und wer nicht, und damit, wer das Recht hat, darüber zu bestimmen, wer Soziologe ist und wer nicht (oder in einem Feld von Mathematikern, wer Mathematiker ist und wer nicht).

Das 'Feld' der Soziologie und dieser Arbeit

Die 'Frage, wer Soziologe ist und wer nicht' - und weiter: die Frage nach beruflicher, sozialer, religiöser oder politischer Identität - stellt sich nicht nur zeitgenössisch als Positionierung zu Kollegen oder zu denen, die man eben nicht als Kollegen sieht; sie stellt sich auch historisch. Durch den Rekurs auf Forscher vergangener Generationen wird (nicht zuletzt in Anlehnung an Thomas Kuhns Paradigma der Entstehung wissenschaftlicher Disziplinen) eine akkumulative 'Ahnenreihe' konstruiert, auf die sich gegenwärtige Vertreter einer Disziplin berufen. Diese ?Galerie? legitimiert die Disziplin und ihre aktuellen Vertreter zum einen durch das Aufzeigen einer Tradition, in die man sich stellt, und zum anderen dadurch, dass diese Tradition durch ihre pure Existenz die Legitimität und Plausibilität des Erkenntnisanspruchs der Disziplin zu beweisen scheint: Die Anzahl und das Alter von Lehrstühlen werden dann zum Beleg nicht nur des Alters der Disziplin, sondern auch zum Beleg der Sinnhaftigkeit ihres Erkenntnisinteresses und ihrer Erkenntnismethoden.

In der Folge werden alternative Methoden, alternative Vorstellungen vom Ziel der betreffenden Disziplin oder alternative Akteure (als die aus der 'Ahnengalerie' bekannten) als abwegig und der Legitimation und Plausibilität einer konkreten akademischen Disziplin abträglich angesehen und infolgedessen vernachlässigt oder gar abgewehrt. Die Metapher des Feldes ist für diese Prozesse angemessen: Ein Feld wird von Grenzsteinen und Grenzlinien entlang dieser Marken definiert. Was im Landbau durch Steine und Geodäten geschieht, passiert analog im Geistigen und Sozialen durch das Forschungsobjekt und die Methoden bestimmende Lehrsätze; bestimmte Positionen und Ansichten sind unhinterfragbar - ihre Infragestellung kommt dem Grenzübertritt gleich. Jenseits dieser Linien ist nicht 'Niemandsland', dahinter sind andere Felder, andere Disziplinen.

Der Begriff des Feldes ist als einfache Metapher und als funktional differenziertes Konzept eingeführt. Hier wird er nur als Metapher genutzt; die kritische Diskussion der jüngeren Bourdieu-Exegese wäre daher wenig ergiebig. Bourdieus Felder konstituieren sich als autonom, das heißt, sie entstehen durch Abgrenzung von anderen Feldern durch Ausdifferenzierung. Über Art und Herkunft der Ausdifferenzierung aus den vielgestaltigen Phänomenen sozialen Zusammenlebens äußert Bourdieu sich nicht; diese Bestimmung steht dem Forscher, seinem Erkenntnisinteresse und seiner Perspektive zu.

Die Interessen und Perspektiven dieser Arbeit seien daher konkretisiert. Ihr liegt die einfache Feststellung zugrunde, dass Soziologiegeschichtsschreibung nicht den Anforderungen historischer Arbeit gerecht wird: Sie verkürzt sich auf professorale Vertreter und Vordenker, thematisiert deren Theorien und verweist auf Beziehungen dieses engen Zirkels zueinander. Dass und wie dieses Verfahren den legitimatorischen Interessen der Disziplin, dem 'Abstecken ihres Feldes', gerecht wird, wird im Teil 'Disziplin- versus Fachgeschichte' umfassend dargestellt. In den historisch verkürzten soziologiegeschichtlichen Arbeiten geriet der Umstand aus dem Blick, dass wissenschaftliche Disziplinen gerade im Moment ihres Entstehens als solche weder aus dem Nichts hervortreten noch als reine ideelle Gebilde umfassend beschrieben werden können. Die Soziologie - wie alle akademischen Disziplinen, deren Entstehung in das Ende des langen 19. Jahrhunderts fällt (Psychologie, Religionswissenschaft, Kulturwissenschaft) - entstand aus dem Versprechen, Gesellschaft wissenschaftlich erforschen zu können, ganz gleich ob der methodologische Zugang und Zweck des Unterfangens das Erklären oder das Verstehen war.

Entstehung und Bestand dieses gesellschaftlichen Erwartungshorizonts beachtet die Soziologiegeschichtsschreibung nicht; doch zeigt sich gerade hier, wie vielgestaltig und universitätsfern die Entstehung einer akademischen Disziplin sein kann. Das ist zu zeigen: Gesellschaftswissenschaft interessierte viele Menschen. Verschiedenste Milieus stellten um 1900 Ansprüche an eine solche Wissenschaft und formulierten theoretische oder politische Programme. Eine gesamtgesellschaftliche Rekonstruktion der Erwartungshaltung an die Soziologie zu geben, würde den Rahmen sprengen: Zu viele Lager, Vereine, Strömungen und Denker wären zu erfassen und zu groß wäre der zeitliche Bogen, selbst wenn es sich im Kern um weniger als zehn Jahre (1905-1914) handelt.

Die Soziologie ist so das Produkt eines vor 1914 offenen intellektuellen und nicht universitär beschränkten Diskursfeldes und es genügt daher zur Darstellung dieser Entstehung nicht, den vermeintlichen Kern zu rekonstruieren. Vielmehr ist es unumgänglich, gerade die Peripherie mit ihren Übergängen in die Sozialpolitik, Sozialreform und Technologie aufzuzeigen. Für den Beleg der These - die Soziologiegeschichte kann nicht nur aus akademischen Milieus und Debatten heraus geschrieben werden - ist die Rekonstruktion des Gesamtbildes letztlich nicht notwendig. Stellvertretend für die Vielzahl von Ideen zur Soziologie um 1900 wurde das positivistische Programm ausgewählt, das sich besonders eignet. So ist der Positivismus geradezu eine Negativfolie zum maßgeblich rezipierten werturteilsneutralen Soziologieverständnis: Ihn tragen ein anderes Wissenschaftsverständnis, Erkenntnisinteresse und andere Akteure. Ferner ist die Trägerschicht des Positivismus distinkt, sie beschränkt sich auf sozialreformerische, freidenkerische Vereine und Zirkel. Diese habitualisierten geradezu Publizität und ein selbstreflexives Bekenntnis. Ihre Vertreter waren meist akademisch gebildet und partizipierten als Bildungsbürger an den kommunikativen Foren der Zeit. Gleichzeitig befanden sich viele von ihnen in prekären beruflichen Verhältnissen und mussten sich vielfältiger Medien bedienen: Sie waren Buchautoren, Zeitschriften- und Zeitungsmitarbeiter, Redner und ?Vereinsmeier?.

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Inhalt6
Einführung10
Das »Feld« der Soziologie und dieser Arbeit10
Soziologie als Sozialtechnologie14
Soziallamarckismus und Sozialdarwinismus18
Internationalismus und Sozialreform21
Gemeinschaft und Gesellschaft22
Soziologie und Sozialwissenschaft24
Die Rede von den »Diskursen«25
Wissenschaft als Weltanschauung26
Disziplin- vs. Fachgeschichte28
1. Anstelle eines Forschungsstandes: Die Soziologiegeschichte30
Wozu braucht es Klassiker?32
Ein Gegenentwurf: Die Fachgeschichte35
Rezeptive Brüche und ihre Folgen37
»Historische Wissenschaftsforschung«38
2. Die Entstehung der Soziologie in Deutschland nach 196440
Wolfgang Glatzer: Max Weber und die DGS40
Gertraude Mikl-Horke: Eine fachgeschichtliche Alternative43
Helene Kleine 1989: Soziologie und Erwachsenenbildung47
Dirk Käslers Milieustudie von 198448
Helmut Fogt 1981: Der geheime Klassiker51
Ursula Karger 1976: Max Weber53
Hanna-Inge Rathenow 1976: Soziologiegeschichte in der DDR54
3. Erinnerungen an die Anfangszeit der Soziologie nach 194557
Max Weber zum Gedächtnis 196357
Zum fünfzigjährigen Bestehen der DGS 195959
4. Nachrufe als Quelle65
Honigsheim auf Weber 192166
Goldscheid auf Eisler 192866
Tönnies auf Goldscheid 193268
5. Rezeptive Brüche in der Soziologiegeschichte70
Entstehungsmilieus und Personage74
6. Historische Schlaglichter76
Akademische Existenzen: Der Status der Universität am Beispiel Leipzigs77
Das Leipziger Positivistenkränzchen79
Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnis81
Bildungsaspekte: Volksbildung83
Wilhelminische Schul- und Bildungsreform86
Dissidenz, Multiple Devianz und Reform87
Von der Reform des Lebens und der Gesellschaft93
Das gesellschaftliche Klima für die monistische Sozialreform103
7. Intermezzo: Klassische Akteure der Soziologiegeschichte104
8. Akteure einer alternativen Soziologie107
8.1 Rudolf Goldscheid (1870–1931)107
Weg in die Sozialreform109
Pazifismus und Internationalismus113
Staatssozialismus und Finanzsoziologie115
Entwicklungen Goldscheids nach 1918116
Ein Who’s who des Roten Wien118
8.2 Wilhelm Ostwald (1853–1932)120
Die Energetik123
Erste Schritte kulturellen Engagements125
Eintritt in den DMB128
Reformfreimaurerei130
Freidenkerische Netzwerke131
Der DMB als Alternative zur DGS135
Kritik am Utilitarismus138
Internationalismus und Pazifismus141
Ruhestand in der Weimarer Republik143
8.3 Franz Carl Müller-Lyer (1857–1916)147
Der Arzt als Soziologe147
Postume Rezeption im DMB154
9. Typologie der monistischen Soziologen156
Soziologiegeschichte aus den Quellen158
10. Soziologisches Vereinswesen160
Soziologische Vereine in der österreich-ungarischen Peripherie161
Der Verein für Socialpolitik (VfS)163
Das IIS als Drehkreuz internationaler Soziologie165
Das Institut Solvay in Brüssel169
Der Sozialwissenschaftliche Studentenverein173
Soziologische Vereine in Wien174
Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie183
Der Kongress der Wissenschaften zur Weltausstellung 1904193
11. Korrespondenz195
Nachlass Max Weber195
Nachlass Wilhelm Ostwald197
Partizipierender Klassiker: Ferdinand Tönnies207
12. Publizistik211
12.1 Reihen211
12.2 Zeitschriften220
12.2.1 Bibliographie der Sozialwissenschaften220
12.2.2 Internationale Zeitschriften227
12.2.3 »Soziologische«/»Sozialwissenschaftliche« Zeitschriften230
12.2.4 Sonstige wissenschaftliche Zeitschriften237
12.2.5 Sozialreformerische Zeitschriften244
Schlussbemerkungen263
Dramatis Personae273
Abkürzungen279
Literatur281
Archivalien281
Jahrgangsweise sondierte Zeitschriften282
Gedruckte Quellen283
Rezensionen301
Sekundärliteratur304

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