ADHS ist eine Störung, die sich in frühester Kindheit bemerkbar macht und die gesamte Entwicklung bis in die Adoleszenz beeinflusst. Die Störung wird als sehr persistent eingeschätzt, auch wenn sich ihr Erscheinungsbild im Verlauf verändert (Petermann & Ruhl, 2006). Sie unterliegt einem alters- und kontextspezifischen Symptomwandel, der hier durch die Beschreibung des Verlaufs skizziert werden soll.
Steinhausen (2006) zufolge bedingen sowohl die verschiedenen diagnostischen Kriterien als auch die assoziierten Störungen eine große klinische Heterogenität, die einer Stereotypisierung entgegensteht. Demnach kann der hier dargestellte Verlauf nur als exemplarisch verstanden werden. Prognosen für den Einzelfall sind kaum ableitbar, da der Verlauf durch einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst wird, u. a. den möglichen Subtypen, der Bedeutung des Kontextes, dem Zeitpunkt der Manifestation, den assoziierten Problemen und Komorbiditäten. Auch Barkley (2005) weist darauf hin, dass sich die ADHS-Kinder u.a. im Verhalten, in der Entwicklung und in den späteren Risiken deutlich unterscheiden. Gemeinsam sind ihnen die Probleme, ihr eigenes Verhalten zu steuern und sich auf Dinge zu konzentrieren.
Steinhausen (2006) unterscheidet 3 Verlaufstypen:
- 2/3 der Betroffenen haben als Erwachsene aufgrund von persistierenden hyperkinetischen Störungen (Voll- oder Teilsymptomatik) deutlich mehr soziale und emotionale Probleme als Kontrollprobanden, entwickeln aber keine ausgeprägte zusätzliche psychische bzw. dissoziale Pathologie.
- Ein Teil der Betroffenen entwickelt ausgeprägte psychiatrische, meist dissoziale, Störungen, einschließlich Drogenmissbrauch, die Behandlungsbedürftigkeit und Haftstrafen nach sich ziehen können. Angst-, Affekt- und Persönlichkeitsstörungen können komorbid auftreten.
- Nur eine Minderheit entwickelt sich normal.
Da nur wenige prospektive Studien existieren, die bereits im Kleinkindalter beginnen und bis ins Grundschulalter fortgeführt werden, gibt es kaum verlässliche Aussagen bezüglich der Vorhersagekraft von Verhaltensauffälligkeiten des Säuglings bzw. Kleinkindes für eine spätere Diagnose. Dennoch nehmen viele Autoren an, dass bereits bei Säuglingen erste Anzeichen beobachtbar sind, die retrospektiv als Vorboten einer ADHS betrachtet werden können (u.a. Jacobs, Heubrock, Muth & Petermann, 2005).
Straßburg, Dacheneder und Kreß (2003) gehen davon aus, dass 60% der Kinder sich bereits im Säuglings- und Kleinkindalter auffällig verhalten. Die meisten seien demnach motorisch unruhig und leicht irritierbar, was sich in vermehrtem Schreien äußert. Weiterhin sind Regulationsstörungen, Schlaf- und Essprobleme und erhöhte Reizbarkeit sowie Anpassungsschwierigkeiten häufig (vgl. Steinhausen, 2006, Jacobs et al., 2005; Straßburg et al., 2003, Lauth, et al., 1999). Durch die motorische Unruhe kann die motorische Entwicklung beschleunigt sein, im Gegensatz zu einer eher verlangsamten Sauberkeits- und Sprachentwicklung (Steinhausen, 2006; Jacobs et al., 2005). Aber auch eine verzögerte motorische Entwicklung wird als möglicher Indikator einer ADHS angesehen (Döpfner, 2002).
Im Alltag äußern sich diese Auffälligkeiten darin, dass die Kinder kaum durchschlafen, sich nur schwer an regelmäßige Essens- und Schlafzeiten gewöhnen, tagsüber sehr unruhig sind und sich nur schwer beruhigen und füttern lassen. Die Beeinflussbarkeit durch die Eltern ist begrenzt. Die Kinder reagieren schnell trotzig und gereizt. Sie werden als sehr neugierig beschrieben, da sie sich neuen Dingen schnell, jedoch meist nur für kurze Zeit, zuwenden (Lauth et al., 1999; Holowenko, 1999).
In vielen Fällen können Anzeichen für Entwicklungsverzögerungen im sozial-emotionalen und im kognitiven Bereich beobachtet werden, wodurch sich das Risiko einer späteren hyperkinetischen Störung erhöhe (Brandau, Pretis & Kaschnitz, 2003). Die Wahrscheinlichkeit steige zusätzlich, wenn die Hauptbezugsperson nicht in der Lage ist, die durch die ungünstigen Temperamentsmerkmale des Kindes entstehenden Belastungen zu bewältigen und sich eine angespannte negative Eltern-Kind-Interaktion entwickelt (Döpfner et al., 2002). Eine überwiegend kritisierende oder sogar feindselige Haltung zum Kind, psychische Störungen der Eltern, Eheprobleme u. ä. können negativ verstärkend wirken (Döpfner et al., 2000).
Döpfner et al. (2000a) gehen ab dem 3. Lebensjahr von einer prinzipiellen Abgrenzbarkeit hyperkinetischer Symptome von normalen Verhaltensvariationen aus. Die Kinder fallen besonders durch Überaktivität, eine geringe Aufmerksamkeitsspanne und oppositionelles Verhalten auf (Döpfner et al., 2002). Dennoch ist die Abgrenzung zwischen normalem und pathologischem Verhalten schwierig und häufig fehlerhaft, da viele unruhige Dreijährige keine hyperkinetische Störung entwickeln (Döpfner et al., 2002). Umgekehrt gibt es Betroffene die als Säugling und Kleinkind unauffällig waren (Döpfner, et al., 2000b).
Esser et al. (2007a; 2007b) untersuchten die Vorboten einer hyperkinetischen Störung im Säuglings- und Kleinkindalter. Die verwendeten Daten stammen aus der prospektiv angelegten "Mannheimer Risikokinderstudie zur Entwicklungsepidemiologie psychischer Störungen". Die Gesamtstichprobe bestand aus 322 Kindern, die zwischen dem 12.01.1986 und dem 12.01.1988 in den gynäkologischen Kliniken Mannheims und Ludwigshafens geboren bzw. in verschiedenen anderen Kinderkliniken neonatologisch behandelt wurden. Zum einen wurden verschiedene Risikofaktoren im Säuglingsalter erhoben, zum anderen die Entwicklung im Kleinkindalter von 2 Jahren prospektiv verfolgt und ihre prädiktorische Relevanz für die Ausbildung einer hyperkinetischen Störung (ICD-10) im Alter von acht Jahren untersucht. Die Ergebnisse dieser komplexen Untersuchung können wie folgt zusammengefasst werden: Als bedeutsamste Prädiktoren für eine spätere hyperkinetische Störung ergaben sich ein geringes Geburtsgewicht, frühe Kontaktstörungen des Kindes, die Vernachlässigung des Säuglings durch die Mutter sowie die Herkunft der Mutter aus zerrütteten Verhältnissen. Weiterhin konnte die Kombination von erhöhter motorischer Unruhe, Irritierbarkeit und einem verringerten Sprachverständnis der Zweijährigen als relativ bedeutsam für die Ausbildung einer hyperkinetischen Störung im Grundschulalter angenommen werden. Die Autoren weisen aber darauf hin, dass die Vorhersagekraft von Auffälligkeiten im Säuglingsalter eher unbefriedigend und unspezifisch sei. Etwas sicherer könne die Entwicklung einer Verhaltensstörung aus Sicht des Kleinkindalters vorhergesagt werden, wobei die Spezifität dieser Vorhersagen für eine hyperkinetische Störung nicht gegeben sei.
Die Prävalenzraten für hyperkinetische Störungen variieren einer Untersuchung von Kuschel et al. (2006, im Rahmen des Forschungsprojektes "Familie mit Zukunft") zufolge bei Kindern zwischen drei und sechs Jahren, von 2.7% bis 9.9% (N = 280). Es zeigten sich keine signifikanten Geschlechtsunterschiede und als häufigste Diagnose stellte sich der hyperaktiv-impulsive Typ heraus. Eine Studie von Döpfner und Breuer (2006; N = 521) postuliert in der Zeit der Vorsorgeuntersuchungen U8 und U9 (mittleres Alter 4,7 Jahre; SD ±0,6) eine Rate von 11,3% laut Elternurteil nach DSM-IV (ICD-10: 3,8%), während es im Erzieherurteil nur 6,6% (ICD-10: 1,5%) sind. 4,2% (ICD-10: 1,2%) der Kinder werden von Eltern und Lehrern übereinstimmend als auffällig beurteilt. Hier konnten Prävalenzraten anderer Autoren bestätigt werden. Kuschel et al. (2006) werten ihre Studie, trotz methodischer Einschränkungen, mit Blick auf hohe Komorbiditäts- und niedrige Behandlungsraten als Nachweis für die Relevanz von Präventionsmaßnahmen und Interventionsprogrammen bei Kindern im Vorschulalter.
Insgesamt ist festzustellen, dass die Studienbasis noch sehr schwach ist, methodischen Einschränkungen unterliegt und sich im Einzelfall auf Eltern- und Erzieher-"Diagnosen" stützt. Fraglich bleibt, inwieweit eine sichere Diagnose, Präventions- und Interventionsmaßnahmen im Kleinkindalter möglich und sinnvoll sind.
Die ersten Hinweise auf eine Aufmerksamkeitsschwäche kommen häufig aus dem Kindergarten. Das Kind kann in diesem Kontext mit anderen Kindern seines Alters verglichen werden und abweichendes Verhalten fällt auf (Lauth et al., 1999). Auffälligkeiten treten stärker zutage, weil das Kind hier wesentlich mehr ablenkenden Reizen ausgesetzt ist und weniger Einzelzuwendung erhält (Döpfner et al., 2000b). Doch auch in diesem Alter ist es aufgrund der Variationsbreite normalen kindlichen Verhaltens noch schwierig, die ADHS-Symptomatik eindeutig abzugrenzen (Straßburg et al., 2003; Holowenko, 1999).
Die betroffenen Kinder fallen in diesem Alter vor allem durch motorische Hyperaktivität, mangelnde Verhaltenssteuerung und Impulskontrolle auf, woraus Regelverletzungen und Störverhalten erwachsen (vgl. Steinhausen, 2006; Döpfner et al., 2000a). Nach Neuhaus (2007) erlernen die Kinder Regeln schwerer und profitieren kaum aus Erfahrungen. Sie werden von Eltern und Betreuern als umtriebig, dranghaft und ziellos aktiv wahrgenommen, was sich u.a. in geringer Spielintensität und...