Neofunktionalismus und Intergouvernementalismus waren von der Forschungsfrage geleitet, weshalb es überhaupt zur Integration souveräner Staaten kommt und welche Faktoren diesen Prozess vorantreiben.
Der Neofunktionalismus versuchte die Integration als Folge funktionaler Sachzwänge zu erklären, da die Probleme pluralistisch verfasster Industriegesellschaften nur noch akteursübergreifend zu lösen seien. Nach der Logik des Neofunktionalismus werden zunächst unpolitische Teilbereiche („Low Politics“) vergemeinschaftet. Erfolgreiche Lösungsansätze greifen auf weitere Teilbereiche über, schwappen dann in politische Bereiche („High Politics“) über und führen schrittweise zu deren Integration. Dieses „Überschwappen“ in die politischen Bereiche wird als als „Spill-over-Effekt bezeichnet“. [18]
Die Intergouvernementalisten erklärten den Zusammenschluss von Staaten als Zweckverband zur Bearbeitung spezifischer Kooperationsaufgaben. Staaten kooperieren beispielsweise zur Reduzierung der Transaktionskosten und zur Erzielung von Kooperationsgewinnen. Kooperation findet nur dann statt, wenn sich die Interessen der Beteiligten decken oder wenn sie ihre Interessen in einer Serie von Abkommen ausgleichen können. In dieser realistischen Sichtweise stellt die Europäische Gemeinschaft lediglich eine Organisation zur Koordination von Staateninteressen dar, in der die Souveränität der Nationalstaaten nicht etwa überwunden, sondern gemeinsam ausgeübt wird. Die Mitgliedstaaten bleiben nach Ansicht der Intergouvernementalisten die entscheidenden Akteure im Integrationsprozess und behalten die Kontrolle über die institutionelle Entwicklung in der Hand. [19]
Beide Ansätze, der Neofunktionalismus und der Intergouvernementalismus, versuchen die Integration mit einer einzigen Interaktionebene, nämlich der der Nationalstaaten, zu erklären. Dabei vernachlässigen diese Ansätze die Möglichkeit transnationaler Beziehungen auf Interaktionsebenen unterhalb des Nationalstaates völlig. So werden die entstandenen Politiknetze oder die Interessenvertretungen subnationaler Akteure in der Analyse nicht berücksichtigt.
In der politikwissenschaftlichen Europaforschung hat in den letzten Jahren ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Dieser führte weg von den Forschungsansätzen des Neofunktionalismus und des Intergouvernementalismus und hin zu neueren Ansätzen, für die sich die Begriffe „Regieren im Mehrebenensystem“ bzw. „multilevel governance“ etabliert haben.
Ein Aspekt des Paradigmenwechsels betrifft die Fragen nach der Erscheinungsform des Staatengefüges „Europäische Union“. Weder ist diese Modell mit den Konzepten des föderalen Bundesstaates vereinbar noch mit denen des Staatenbundes. Vielmehr setzt sich die Auffassung durch, die Union als ein Gebilde eigener Art (sui generis) zu sehen, in dem sich die europäische (supranationale), die nationalstaatliche und die regionale sowie kommunale (subnationale) Ebene zunehmend verschränken und zivilgesellschaftliche Akteure in Verhandlungs- und Kommunikationsnetzwerken in verstärktem Maße an politischen Steuerungsprozessen beteiligt werden. [20] So spricht denn auch das Bundesverfassungsgericht in seinem „Maastricht-Urteil“ von einem „Staatenverbund“.
Bei den „Mehrebenenansätzen“ werden weniger die Ursachen der Integration untersucht, als vielmehr die Folgen des Integrationsprozesses analysiert. Die Erklärungsansätze entfernen sich so von der reinen Lehre der Internationalen Politik und mischen sich mit Ansätzen aus der Vergleichenden Regierungslehre. Denn auf europäischer Ebene wird regiert und aus dieser Tatsache heraus müssen die Institutionen und Verfahren auf die Regierungstätigkeit hin untersucht werden.
Bei der Bestimmung konstitutiver Merkmale des europäischen Mehrebenensystems lassen sich aus der dazu vorliegenden Literatur unterschiedliche Herangehensweisen eruieren. Zum einen lässt sich ein funktionales Verständnis von Mehrebenensystemen von einem institutionellen abgrenzen. Das institutionelle Verständnis von Mehrebenensystemen wurde vor allem in Forschungsarbeiten zur europäischen Regionalpolitik vertreten.[21] Nach diesem Verständnis lassen sich zwar mehrere institutionelle Handlungsebenen identifizieren (Europäische Union, Nationalstaaten, Regionen, Kommunen) und auf ihren je spezifischen Beitrag zum Entscheidungsprozess und der Implementation europarechtlicher Bestimmungen befragen, der Akteursstatus der handelnden Subjekte erfährt jedoch keine Berücksichtigung. Auch werden so Interdependenzbeziehungen zwischen den einzelnen Akteuren auf den unterschiedlichen Ebenen nicht hinreichend in die Darstellung einbezogen. Demnach fördert dieses Verständnis eine eher undifferenzierte Betrachtungsweise und erfasst in nicht ausreichendem Maße die Vielgestaltigkeit der Kommunikationsbeziehungen in einem Mehrebenensystem.[22]
Erst durch ein funktionales Verständnis von Mehrebenensystemen lässt sich die reale Komplexität europäischer Politikprozesse angemessen begreifen. Ein Mehrebenensystem in diesem Sinne konstituiert sich aus formal unabhängigen, aber funktional interdependenten politischen Akteuren und Politikarenen und ermöglicht so auch Formen der „horizontalen Politikverflechtung“.
In einem solchen Mehrebenensystem gibt es supranationale Kooperationsbeziehungen zwischen Akteuren der intragemeinschaftlichen Ebene. Dies sind die verschiedenen Organe der EU.
Wenn nationale Akteure in supranationalen Entscheidungsgremien, wie dem Rat der Europäischen Union, zusammenkommen, so stellt dies die internationale Kommunikationsarena dar. So wirkt der Bundesrat als Vertreter der Bundsländer an der Entscheidung über die Position der Bundesrepublik als Mitgliedstaat mit.
Neben den intragemeinschaftlichen und den internationalen Verhandlungsgremien bilden die intersubnationalen Organe, wie der Ausschuss der Regionen, einen weiteren Bereich. Nationale Akteure handeln auf der intranationalen Ebene. In den nationalen Entscheidungsgremien werden die jeweiligen Standpunkte zu europäischen Politiken ermittelt.
Die Beteiligung der Bundesländer über den Bundesrat als Form der Mitwirkung regionaler Akteure auf der nationalen Ebene ist eine weitere Form der Kooperationsbeziehungen innerhalb des europäischen Mehrebenensystems.
Vielfältige Kooperationsbeziehungen zwischen den deutschen Ländern, z.B. in der Europaministerkonferenz, sichern die Einheitlichkeit des Standpunktes der auf der nationalen Ebene involvierten regionalen Akteure in den intraregionalen Beziehungen. [23]
Das Merkmal des europäischen Mehrebenensystems ist somit die komplexe Verflechtung der oben dargestellten Ebenen. Sie agieren nicht autonom, sondern zeichnen sich durch Vernetzungen und Kooperationsbeziehungen vielfältiger Art aus. Hinzu kommen Akteure der unterschiedlichsten Interessenverbände und Organisationen.
Da Mehrebenensysteme über eine weit größere Anzahl von „Schnittstellen“ zwischen autonomen Organisationen und Institutionen als hierarchisch strukturierte Systeme verfügen, erhöht sich der Koordinationsbedarf staatlicher Politik in Mehrebenensystemen immens.[24]
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass ein Mehrebenensystem ein politisches System darstellt, in dem Akteure und Institutionen von unterschiedlichen territorialen und funktionalen Einheiten interagieren. Die Kompetenzbereiche der Akteure beziehen sich nicht nur auf eine Ebene, sondern können auf subnationaler, nationaler und supranationaler Ebene verankert sein. Die Handelnden versuchen, allgemein verbindliche Entscheidungen zu treffen. Die Folgen der Entscheidungen betreffen das gesamte EU-System. Das Mehrebenensystem umfasst zum einen eine vertikale und horizontale Politikverflechtung zwischen verschiedenen staatlichen Einheiten und Ebenen. Zum anderen gibt es diverse sektoral organisierte Interessengruppen, die in Organisationen, Verbänden und anderen gesellschaftlichen Gruppierungen organisiert sind und so im Mehrebenensystem mitwirken.
Fritz W. Scharpf sieht die institutionelle Besonderheit der Europäischen Union in der Tatsache begründet, dass es sich dabei um ein verflochtenes Mehrebenensystem handelt. Um ein solches nicht-hierarchisches interdependentes Mehrebenensystem zu beschreiben, hat Scharpf den Begriff der Politikverflechtung geprägt und auf die europäische Politik angewandt.[25]
Politikverflechtung bedeutet, dass der Politikprozess, der die Entscheidungsfindung, Planungsvorgänge und Implementationsvorgänge beinhaltet, in einem komplexen Verbund von mehreren territorialen Einheiten...