Jahrhunderte hindurch konnte Deutschland nicht als maritime Macht bezeichnet werden. Wie selbstverständlich schien die See den Spaniern, Franzosen, Portugiesen, Engländern, Holländern und Dänen zu gehören. Die Deutschen hingegen waren in ihrem kontinentalen Partikularismus gefangen; kaum etwas erinnerte noch an alte hanseatische Traditionen. 1898 postulierte Wilhelm II., Kaiser des noch jungen deutschen Nationalstaates, anlässlich der Eröffnung des neuen Stettiner Hafens, die künftige Zielsetzung des Kaiserreiches: „Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser“[1]. Deutschland wollte Weltmacht werden und benötigte dafür – ganz im Zeichen des Navalismus[2] - eine Flotte, die in der Lage war, ihm den Status einer Seemacht zu verleihen und seine Interessen auf der Welt selbstbewusst durchzusetzen.
Die Idee einer gesamtdeutschen Flotte war indes nicht neu. Bereits 50 Jahre vor der Rede des Kaisers hatte sich die Nationalversammlung der Paulskirche dem Projekt einer deutschen Flotte gewidmet. Sie sollte als weithin sichtbares Zeichen die Einheit der Deutschen und die Macht eines geeinten Deutschlands nach außen transportieren. Gerade erst hatte Dänemark den Deutschen durch eine Blockade vor Augen geführt, wie verwundbar sie an ihren Küsten waren. So folgte im Juni 1848 ein Beschluss der Nationalversammlung, der ein ambitioniertes Flottenbauprogramm forcierte. Doch es fehlte zu dessen Umsetzung an qualifiziertem Führungspersonal, den notwendigen finanziellen Mitteln, an dem Willen der Einzelstaaten sich an diesem Programm zu beteiligen - dafür etwaige eigene Flottenplanungen zurückzustellen – und schließlich an der Unterstützung durch die deutsche Öffentlichkeit. Damit scheiterten diese ersten gesamtdeutschen Flottenpläne, wie am Ende auch jenes Parlament, welches sie beschlossen hatte.[3]
In den folgenden fünf Jahrzehnten hatten sich die Rahmenbedingungen für eine Flottenrüstung jedoch entscheidend verändert. Mit Blut und Eisen[4] wurde 1870/71 der erste (klein)deutsche Nationalstaat geschmiedet. Das Kaiserreich entwickelte sich bis zur Jahrhundertwende wirtschaftlich wie militärisch zu einem Schwergewicht im Herzen Europas; seit den 1880er Jahren kamen auch koloniale Ambitionen hinzu. Im Bewusstsein der Stärke seiner selbst, schrieb sich das Reich „eine deutsche Weltpolitik auf die Banner“[5]. Nach imperialistischem Verständnis war nur eine schlagkräftige Marine in der Lage, dem Reich Weltgeltung zu verschaffen; eine solche musste jedoch das Verhältnis der Deutschen zu den führenden Seemächten – allen voran dem Britischen Empire - belasten, befand sich doch Deutschland auf dem Kontinent bereits in einer halbhegemonialen Stellung[6]. Unter der Ägide des Kaisers und des Konteradmirals Alfred von Tirpitz begann, mit dessen Berufung zum Staatssekretär des Reichsmarineamtes 1897, alsbald eine maritime Aufrüstung des Reiches, die sich an den theoretischen Grundsätzen des navalistischen Konzeptes von Seemacht orientierte und bereits seit Beginn der 1890er Jahre von Tirpitz in Denkschriften entwickelt wurde. Im Gegensatz zu 1848 waren jetzt die ökonomischen und politischen Voraussetzungen gegeben. Die Unterstützung der Bevölkerung wurde durch eine geschickte Öffentlichkeitsarbeit gewonnen und die Organisation des Flottenbaus in Gesetzesvorlagen sollte diesen schrittweise der Zustimmungspflicht des Reichstags entziehen.
Gezielt wollte die deutsche Führung die Flotte fortan als außenpolitisches Instrument einsetzen, durch sie sollte das Reich „als Gegner gefürchtet, als Bündnispartner begehrt sein.“[7] Die Flottenfrage wurde so in den Folgejahren zunehmend ein immanenter Faktor der deutsch-britischen Beziehungen. Zudem geriet das Kaiserreich mit seiner kontinentaleuropäischen Außenpolitik in eine prekäre Sicherheitslage. Unter dem Druck der außenpolitischen Isolation wechselte der Schwerpunkt der deutschen Politik 1912, trotz nochmaliger Flottennovelle, wieder auf die kontinentale Landmacht; die Hochzeit des deutschen Flottenbaus war somit beendet.
Das Ziel dieser Arbeit ist es, die ideologischen Voraussetzungen und theoretischen Planungen des deutschen Flottenbaus, sowie seine innenpolitische Initiation darzustellen. Ebenso die Klärung der Frage, in welcher Beziehung er zur deutschen Außenpolitik stand und welche Auswirkungen er auf die Sicherheitslage des Kaiserreichs hatte. Dem folgend, ausgehend von der These, dass die deutsche Flottenpolitik 1912 gescheitert war, sollen ebenfalls das deutsch-britische Wettrüsten und die Flottenverhandlungen von 1912 analysiert werden.
Der Kaiserreichsforschung wohnte nach 1945 auch immer der Versuch inne, eine Erklärung dafür zu finden, wie es zum Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland kommen konnte. Vielfach wurde hierbei mit Hilfe der Sonderwegsthese argumentiert; an den Besonderheiten der deutschen Entwicklung wurde versucht, den Weg in den Nationalsozialismus zu erklären.
Zentraler Untersuchungsschwerpunkt bezüglich des Kaiserreiches hierfür war die Diskrepanz zwischen der technisch-gesellschaftlichen Modernisierung und einem veralteten, autoritären Staatswesen? In den 1970er Jahren fanden zunehmend die gesellschaftlichen Verhältnisse des Kaiserreiches Eingang in die wissenschaftlichen Untersuchungen. Hans-Ulrich Wehler steht hierbei als einer der richtungweisenden Vertreter, der der Forschung neue Impulse gab. Obwohl er im 1995 erschienenen dritten Band seiner „Deutsche Gesellschaftsgeschichte“ von vormaligen Leitbegriffen aus den 1970er Jahren wie „Sozialimperialismus“ und dem „Primat der Innenpolitik“ Abstand nahm, hielt er doch an seinem gesellschaftspolitischen Interpretationsweg fest. In den diesem Muster folgenden Interpretationen wird die Flottenrüstung eher aus einem innenpolitischen Blickwinkel betrachtet, ihr Charakter als nationale Aufgabe und gesellschaftliches Integrations- und innenpolitisches Kampfinstrument hervorgehoben.
Dem stehen Kaiserreichsdarstellungen gegenüber, die die Innenpolitik des Reiches zwar aufgreifen, ihr jedoch keine übergeordnete Stellung zugestehen, sie vielmehr in das gesamtstaatliche und gesellschaftliche System des kaiserlichen Deutschland einreihen. Hierzu zählt Thomas Nipperdeys „Deutsche Geschichte“, in der der Autor Planung und Umsetzung der Flottenrüstung verstärkt in einen außenpolitischen und geostrategischen Kontext stellt. Zudem wendet er sich gegen die Sonderwegsthese und versucht die deutsche Entwicklung als eine Variation gesamteuropäischer Entwicklungen zu klassifizieren. Hierbei wird bereits eine Tendenz der jüngeren Forschung seit den 1990er Jahren deutlich. Eine Trennung außen-, innen- und gesellschaftspolitischer Entwicklungen und Faktoren erscheint zunehmend analytisch ungeeignet, umfassende Gesamtdarstellungen damit jedoch deutlich schwieriger; Winklers „Der lange Weg nach Westen“ stellte hier für Ewald Frie einen verspäteten Schlusspunkt bezüglich der Gesamtdarstellungen dar. Die Sonderwegsthese wirkte nicht länger beschränkend und somit ist die jüngere Forschung durch spezialisierte Fallstudien, aber auch vergleichende Studien, die auch die Verhältnisse anderer Staaten in die Betrachtung einbeziehen, gekennzeichnet.[8]
Bereits in den 1920er Jahren gab es teils emotional geführte Diskussionen um die kaiserliche Flottenrüstung, die vielfach in die Debatte über die deutsche Verantwortung für den Ausbruch des Weltkrieges eingebettet waren. In den folgenden Jahrzehnten folgten weitere Analysen, die von Überlegungen über strategische Fehlkalkulationen des Tirpitz-Plans bis hin zu dessen Auswirkungen auf die außenpolitischen Konstellationen zwischen den Großmächten reichten. Einen wissenschaftsanalytischen Auftrieb erhielt die Forschung dann in den 1960er Jahren mit der Öffnung der Archive der westlichen Staaten, denen infolge des Zweiten Weltkrieges eine große Anzahl an Aktenmaterial in die Hände gefallen waren.[9]
Grundlegend für die Forschung zur kaiserlichen Flottenrüstung erschien wenige Jahre später Volker Berghahns Werk „Der Tirpitz-Plan“. Er analysierte die Planung und die Umsetzung des deutschen Flottenbaus; hierbei fokussierte er zum Einen den anti-parlamentarischen, zum Anderen aber auch den anti-englischen Charakter des Rüstungsprogramms. „Die wilhelminische Flottenrüstung“ von Michael Epkenhans stellt ein weiteres grundlegendes Werk dar, das in dieser Untersuchung Verwendung finden wird. Es setzt analytisch neben die Umsetzung des Flottenbaus auch die deutsche Industrie und den technischen Fortschritt als treibende Faktoren des Wettrüstens. Zusätzlich benennt der Autor präzise die gesellschaftlichen und außenpolitischen Rahmenbedingungen für den Flottenbau im Reich. Bezüglich des seestrategischen Denkens, das der deutschen Flottenpolitik zugrunde lag, wird hier Rolf Hobsons „Maritimer Imperialismus“ herangezogen werden. Hobson stellt der deutschen Flottenkonzeption eine Analyse des seestrategischen Denkens der Zeit – England und Deutschland stehen hierbei im Mittelpunkt – voran und versucht hierbei die Logik der Strategie Tirpitz´ in dieses einzubetten. Für einen besseren Blick auf den Flottenbau aus englischer Perspektive werden die Untersuchungen von Paul Kennedy hinzugezogen, da seine eher traditionalistische britische Sicht Divergenzen besonders deutlich werden lässt.
In Kapitel I werden die...