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E-Book

Die Flüchtlingsrevolution

Wie die neue Völkerwanderung die ganze Welt verändert

VerlagPantheon
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783641188207
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Eine Welt auf der Flucht
Flucht ist ein globales Phänomen. Die Welt ist in Bewegung. Menschen flüchten vor Krieg und Gewalt, vor Ungleichheit und Verfolgung, aus Angst vor dem Untergang ihrer Heimat oder aus Sorge um die Zukunft ihrer Kinder. Die neue Völkerwanderung ist dabei, die Welt, wie wir sie kennen, zu verändern. Die 60 Millionen Flüchtlinge, die das UN-Flüchtlingshilfswerk 2015 registrierte, sind dabei nur der Anfang. Wir erleben nicht die so oft beschworene »Flüchtlingskrise«, sondern eine Flüchtlingsrevolution.

Die Weltreporter haben die neuen Flüchtlinge überall auf dem Globus getroffen und ihre Geschichten aufgeschrieben. Sie berichten von Hoffnung und Leid, Hilfsbereitschaft und Verunsicherung, von Ideen und Plänen für eine Zukunft, von der die ganze Welt profitieren kann: wenn sie Veränderung zulässt und Herausforderungen auf innovative Art und Weise löst.

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Leseprobe

Prolog

Ich bin Syrerin und Mutter von vier Kindern. Das war meine Wahl: Bleiben wir in Syrien, werden meine Kinder und ich vielleicht von einer Bombe getötet. Fliehen wir, ertrinken wir vielleicht im Mittelmeer. Im Herbst 2015 musste ich die schlimmste Entscheidung meines Lebens treffen. Dabei war ich einst der glücklichste Mensch der Welt. Mit 23 Jahren hielt ich mein Englischdiplom der Universität Aleppo in Händen. Ich erinnere mich noch gut an die Zeremonie. Ich war so stolz! Kurz darauf fing ich als Lehrerin am Gymnasium in meiner Heimatstadt al-Hasaka im Nordosten Syriens an. Ich war eine der wenigen Frauen an der Schule, doch meine Kollegen hatten Respekt vor mir. Alles war gut.

Weil viele Menschen in al-Hasaka arm waren, aber dennoch unbedingt Englisch lernen wollten, unterrichtete ich nach der Schule in meiner Freizeit viele Schüler kostenlos. Mein Motto war immer: »Wenn man nur das tut, was von einem gefordert wird, ist man ein Sklave. Erst wenn man freiwillig mehr tut, ist man wirklich frei.« Meine Schüler mochten mich, sie lernten schnell und machten mich so sehr zufrieden. Auch sonst meinte das Leben es gut mit mir. Am 9. Dezember 2004 heiratete ich Abdulrahman, einen gutaussehenden jungen Mann mit einem großen Herzen. Einige Monate nach unserer Hochzeit gingen wir zusammen nach Kuwait. Dort unterrichtete ich erneut Englisch an einem Gymnasium. Vor zehn Jahren brachte ich meinen Sohn Mohamad zur Welt, 2007 kam meine älteste Tochter Ritaj, ein Jahr später meine Tochter Reemas. Mein Mann und ich waren gesegnet.

Im August 2010 kehrten wir zurück nach al-Hasaka, sieben Monate später brach in Daraa die syrische Revolution aus. Damals war ich mit Rinad, meiner jüngsten Tochter, im dritten Monat schwanger. Ich ahnte nicht, dass sie in eine Welt voller Krieg geboren werden würde.

Ich hoffte, dass die zunächst friedlichen Proteste nicht zu einem Krieg führen würden, doch meine Hoffnungen wurden schnell zerstört. Die Gewalt von allen Seiten nahm immer mehr zu. Irgendwann hörten wir auf, die Toten zu zählen. Ich versuchte so lange wie irgend möglich, meinen Kindern eine heile Welt vorzugaukeln. Ich wollte die schreckliche Realität einfach nicht an sie heranlassen. Aber natürlich sahen sie die Bilder von Luftangriffen und sterbenden Menschen im Fernsehen. Natürlich spürten sie, dass ihre Mutter Angst um sie hatte. Und natürlich hatten sie auch selber Angst.

Ich habe versucht, ihnen beizubringen, fest an sich selbst zu glauben. Ich habe versucht, ihnen beizubringen, dass Angst und Zweifel die gefährlichsten Feinde des Erfolges sind. Aber die Gewalt hörte einfach nicht auf, im Gegenteil: Es wurde immer schlimmer. Die Kleinsten litten am meisten. Jeden Tag verloren wehrlose Kinder ihre Eltern, Geschwister, Freunde und Lehrer. Jeden Tag starben unschuldige Jungen und Mädchen.

Ich fand nachts kaum noch Schlaf. Was, wenn auch meine Kinder sterben würden? Und wofür? Alle Kinder, die diesem verdammten Krieg bereits zum Opfer gefallen waren, hatten Eltern, die sie über alles liebten und die alles dafür getan hätten, ihren Jungen und Mädchen eine große Zukunft zu ermöglichen. Ich wusste, dass zur gleichen Zeit tausende weitere syrische Mütter wach lagen und genau das Gleiche dachten wie ich.

Rinads Kindergarten und die Grundschule meiner anderen drei Kinder befanden sich in der Nähe einer Stellung der Assad-Truppen. Nachts übernachteten die Soldaten oft in der Schule, und der »Islamische Staat« beschoss das Gebäude regelmäßig. Alle Scheiben waren bereits geborsten. Schließlich gab ich meinen Job als Gymnasiallehrerin auf und fing an der Schule meiner Kinder an. Wenn dort eine Bombe einschlug, wollte ich mit ihnen sterben. Ich konnte mir nichts Schlimmeres vorstellen, als meine eigenen Kinder zu überleben.

Seit Mai 2015 rückte der »Islamische Staat« immer schneller auf al-Hasaka vor. Die Terroristen missbrauchten unseren Glauben, folterten, mordeten, vergewaltigten, brannten Schulen und Häuser nieder. Die Regierung schlug mit Fassbomben zurück. Wer konnte, floh. Wer zwischen den Fronten gefangen war, betete. Viele starben, auch insgesamt 26 Mitglieder der einst so großen Familie meines Mannes.

Wenn wir blieben, würden vielleicht auch bald unsere Kinder zu den ungezählten Todesopfern des Krieges zählen, das wussten mein Mann und ich. Doch wir hatten nicht genug Geld, um zu sechst die Flucht anzutreten. Als Eltern mussten wir die schlimmste Entscheidung unseres Lebens treffen. Damit zumindest ein Teil unserer Familie überlebte, mussten wir uns trennen. Wir beschlossen, dass mein Mann mit unserem Sohn Mohamad und unserer ältesten Tochter Ritaj vorgehen sollte. Wir waren uns einig, dass Rinad und Reemas noch zu klein für die gefährliche Flucht waren. Ich wollte mit ihnen so lange in al-Hasaka ausharren, bis wir im Rahmen der Familienzusammenführung sicher nach Europa folgen könnten.

Als der Tag des Abschieds gekommen war, sagte ich zu Ritaj und Mohamad: »Vergebt mir. Ich hatte eine andere Zukunft für Euch geplant. Seid tapfer und habt Geduld. Ich verspreche Euch, dass wir schon bald wieder vereint sein werden und dass wir dann in einem friedlichen Land gemeinsam Großes erreichen werden.« Als ich dies sagte, wusste ich nicht, ob ich meine beiden ältesten Kinder und meinen Mann je wiedersehen würde. Sie verließen uns am 23. August 2015. Drei Tage lang habe ich geweint. Ich habe versucht, meine Tränen vor Reemas und Rinad zu verbergen. Nicht immer ist es mir gelungen.

Am 5. September erhielt ich eine Nachricht von meinem Mann. Er war auf der griechischen Insel Lesbos angekommen. Er und die Kinder hatten die gefährliche Überfahrt überlebt. Das erste Mal seit fast zwei Wochen war ich für einen Augenblick glücklich. Doch am selben Tag sah ich auf Facebook die Bilder des ertrunkenen Aylan. Der dreijährige Junge aus dem syrischen Kobane wollte – genau wie mein Mann mit den Kindern – mit seinen Eltern vor dem Krieg fliehen. Seine Leiche wurde an einem Strand in der Türkei angespült. Als ich das Bild sah, wurde mir schlecht.

Ich kannte Fotos von verängstigten Familien in winzigen, überfüllten Booten. Ich hatte Berichte gesehen, in denen Grenzpolizisten und Soldaten Flüchtlinge – auch Kinder – mit Tränengas und Wasserwerfern zurückdrängten, und ich kannte Geschichten von Menschen, die die gefährliche Flucht nicht überlebt hatten. Trotzdem hatte ich zuletzt selbst darüber nachgedacht, mich mit meinen beiden jüngsten Kindern in eines dieser Schleuserboote zu setzen. Das Foto des ertrunkenen Kindes am Strand verbannte diesen Gedanken aus meinem Kopf. Die Angst, dass ein ähnliches Bild von Reemas oder Rinad um die Welt gehen könnte, ließ mich meine Fluchtgedanken aufgeben.

Doch dann brachte eine Nachricht von meinem mittlerweile in Deutschland angekommenen Mann plötzlich alles wieder durcheinander. Er schrieb mir, er habe erfahren, dass die offizielle Familienzusammenführung über ein Jahr dauern könne. Bis dahin könnten Reemas, Rinad und ich längst tot sein. Innerlich war ich es durch die Trennung von meinem Mann und meinen beiden ältesten Kindern und die permanente Todesangst ohnehin schon lange. Beschuss von allen Seiten und Selbstmordattentäter in mit Sprengstoff beladenen Autos machten das Leben – oder besser gesagt das Überleben – in Syrien zur Hölle. Am 10. Oktober machte ich mich deshalb schließlich auch mit meinen beiden jüngsten Kindern auf den Weg, um meine geliebte Heimat zu verlassen.

Zwei Tage dauerte es, bis wir es zusammen mit anderen Flüchtlingen in einem kleinen Bus an die syrisch-türkische Grenze geschafft hatten. Unterwegs mussten wir Checkpoints der syrischen Armee, des »Islamischen Staates« und kurdischer Kämpfer passieren. Bei jeder Straßensperre habe ich gezittert. Ich hatte panische Angst, dass die Kämpfer uns alle erschießen würden. Als wir an einen kurdischen Checkpoint kamen, wurde dieser plötzlich vom IS angegriffen. Wir haben alle geschrien, und unser Fahrer hat einfach Gas gegeben. Mit Gottes Hilfe sind wir irgendwie davongekommen.

Doch spätestens an der türkischen Grenze bereute ich die Entscheidung, die ich für meine Kinder getroffen hatte. Ich sah panische Mütter, die ihre Töchter und Söhne durch die Stacheldrahtzäune drängten, und ich dachte mir: Es ist würdevoller, in ständiger Angst unter Beschuss zu leben, als so zu fliehen. Ich bin dann trotzdem mit meinen Kindern durch ein Loch im Zaun geklettert.

Von der Grenze schlugen wir uns nach Istanbul durch. Dort blieben wir ungefähr drei Wochen, bis es mir gelungen war, für meine Kinder und mich Plätze in einem Boot für die Überfahrt nach Griechenland zu organisieren. 2100 US-Dollar, die ich mir unterdessen von Verwandten und Bekannten hatte leihen können, knöpften die Schleuser mir dafür ab. Doch als wir nachts in der Nähe des türkischen Badeortes Bodrum an den Strand kamen, war ich geschockt. Das Schlauchboot war viel, viel kleiner als versprochen, und die Schleuser wollten 18 Menschen hineinpferchen. »Ich steige mit meinen Kindern nicht in dieses Boot!«, schrie ich. Doch meine Töchter flehten mich an: »Mama, lass uns gehen. Wir wollen endlich Papa, Ritaj und Mohamad wiedersehen. Wir versprechen Dir auch, dass wir nicht sterben.« Ich versuchte, ihnen zu erklären, dass das Boot zu klein und die Überfahrt zu gefährlich sei. Aber sie weinten nur und hörten mir nicht zu. Schließlich stiegen wir ins Boot. Ich wusste, dass es ein Fehler war. Ich küsste meine Kinder, dann legten wir ab.

Wir waren nicht weit gekommen, da ging plötzlich der Motor aus. Mit den Händen paddelten wir zurück an den Strand. Irgendwie war ich beruhigt. Während wir ruderten, beschloss ich: Ich gehe mit meinen Kindern...

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