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Die Franken

Geschichte, Gesellschaft, Kultur

AutorBernhard Jussen
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl128 Seiten
ISBN9783406661822
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,49 EUR
Dieser Band informiert knapp, kompetent und anschaulich über Geschichte und Kultur der fränkischen Gesellschaft von der Völkerwanderungszeit bis zu dem unspektakulären Ende des letzten Nachfahren Karls des Großen im 10. Jahrhundert. Schwerpunkte liegen auf dem Erbe des Imperium Romanum, das die Franken sehr erfolgreich ausgestalteten, sowie auf den politischen und sozialen Strukturen. Die kleine Einführung erhellt zudem die Entstehung der christlichen Kultur, die Wissensorganisation und die wirtschaftlichen Verhältnisse in der fränkischen Gesellschaft.

Bernhard Jussen lehrt als Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Frühmittelalterliches Europa, politische Sprache, Verwandtschaft im Kulturvergleich, historische Semantik und visuelle Kultur des Mittelalters sind seine Forschungsthemen. 2007 wurde er mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet. Vom selben Autor herausgegeben, ist im Verlag C.H.Beck lieferbar: Die Macht des Königs. Herrschaft in Europa vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit (2005).

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Leseprobe

II. Koordinaten – Bedingungen – Vorgeschichten


1. Mangelgesellschaften drängen in eine bessere und sicherere Welt


Von «Völkerwanderung» zu «Migrationsbewegungen»

Schluss mit den Völkerwanderungskarten! Auf der Suche nach dem Stichwort «Franken» landet man in Handbüchern der ersten 50 Nachkriegsjahre in Kapiteln über die «Völkerwanderung» der «Germanen». Damit sind die großen Migrationsbewegungen des 3. bis 6. Jahrhunderts in das Gebiet des römischen Imperiums hinein gemeint. Das Bild der Franken hängt also davon ab, wie man sich diese «Völkerwanderung» vorstellt. Beide Themen – «Völkerwanderung» und «Germanen» – haben ihre Karriere in der nationalen bis nationalistischen Geschichtsschreibung vom späten 19. Jahrhundert bis zum Ende des «Dritten Reiches» gemacht und sind in den vergangenen Jahrzehnten massiv revidiert worden. Die Zeiten, in denen kaum ein Buch auf eine «Völkerwanderungskarte» verzichtete, sind vorbei. Vor rund 80 Jahren – seit den 1930er Jahren – sind diese Karten in fast allen europäischen Ländern gleichzeitig in die Geschichtsbücher und Atlanten eingerückt und haben viel Unheil in der historischen Imagination angerichtet. Denn die großen Bevölkerungsbewegungen verliefen nicht so, wie die Pfeile der Karten es suggerieren – nicht so zielgerichtet, nicht so kompakt, ja, nicht einmal so ähnlich. Mit heutigen Migrationsproblemen im Kopf sehen Historiker auch die früheren Migrationen in neuem Licht. Wie heute, so gab es auch seinerzeit sehr viele Gründe und sehr verschiedene Arten der Migration: dauerhafte Armutsmigrationen, Massenfluchten vor aggressiven Nachbarn, Plünderungsmigrationen ohne Besiedelungseffekte, militärische Anheuerung, Zwangsumsiedlung nach einer Niederlage gegen die römische Armee, nomadische Wanderung, Expertenmigration oder Migration infolge von Sklavenhandel, um nur die augenfälligsten zu nennen. Hier migrierten Individuen oder Familien, dort große, gut organisierte Gruppen von Kriegern samt Frauen, Kindern und Nichtkriegern ins Imperium (im 5. Jahrhundert etwa unter Führung der Goten Theoderich oder Alarich). Hier migrierte man kollektiv stoßartig und dort schleichend, gewissermaßen einsickernd über einen langen Zeitraum. Die einen (Goten, Vandalen) wanderten über weite Distanzen, die anderen (Franken) offenbar nur auf die andere Seite der – nicht überall scharf markierten – Grenze. So führte die Einwanderung fränkischer Bauern und Krieger in die nördlichen Randzonen des Imperiums zu völlig anderen Besiedelungssituationen und zu völlig anderen Beziehungen zwischen Zuwanderern und Einheimischen als die Vorstöße der Goten, Burgunder oder Vandalen tief ins Innere des Imperiums. Gerade diese Verschiedenheit muss man in den Blick nehmen, um zu verstehen, was den fränkischen Königen half, sich durchzusetzen und zu überdauern – Ihnen gewissermaßen einen historischen Selektionsvorteil verschaffte (S. 28).

Mangelgesellschaften jenseits des Limes Das expansive römische Imperium hat einen Großteil der Migrationen selbst ausgelöst. Denn Imperien wie das römische waren (wie wir Herfried Münklers Buch Imperien entnehmen können) nicht nur Unterdrückungssysteme. Sie schafften zugleich Frieden und Sicherheit in sehr großen Regionen, die sich durch bessere Entwicklungsund Wohlstandschancen von ihrer Umgebung abhoben. Dies gilt auch für das römische Imperium der alten Welt. Sein Glanz und seine im Westen bis weit ins nicht-römische Gebiet ausstrahlende Aura und Interventionsfähigkeit, seine im Vergleich mit den nördlichen Nachbarregionen unerreichbar überlegenen Kulturleistungen und Repräsentationsformen zogen Mengen von Menschen aus den Nachbarregionen an. Nur an der Ostgrenze des Imperiums stand den Römern mit den Persern eine ebenso hoch entwickelte kulturelle Alternative gegenüber. Die Gesellschaften in Reichweite dieser imperialen Aura waren durchweg Mangelgesellschaften. So drängten sie hin zu dieser viel reicheren, sichereren und unvergleichbar größeren Kultur.

Expertenmigration Aus heutigen Gesellschaften sind wir gewohnt, dass nicht zuletzt Experten migrieren – Personen mit seltenen und gesuchten Kompetenzen. Auch in dieser Form muss die Migration in der fränkischen Welt gedacht werden. Für die frühen Jahrhunderte sind die einfachsten Beispiele fränkische Kriegsexperten, die ins Imperium migrierten. So finden wir Ende des 4. Jahrhunderts fünf Franken als Oberbefehlshaber (magister militum) im römischen Militär – Charietto, Merobaudes, Richomeres, Bauto und der historisch besonders interessante (S. 33) Arbogast. Am Hof Karls des Großen beispielsweise erlangten solche Migranten besonders große Bedeutung und waren hochwillkommen; sie waren aus ihren Heimatregionen nach Aachen übergesiedelt – so etwa der Angelsachse Ealhwine (der lateinisch zu Alcuin wurde), der Ire Dungal oder der Westgote Theodulf (S. 112).

Kurzum, in der aktuellen Geschichtswissenschaft ist kaum noch etwas übrig geblieben von jener Geschichte, die bis vor kurzem mit Hilfe von «Völkerwanderungskarten» erzählt wurde, schon gar nichts von der früher erzählten Geschichte eines zunehmend marode und wehrlos werdenden Imperiums, das von brandschatzenden und plündernden Horden (obgleich es solche zweifellos auch gab) überrannt wurde. Mit dem Wissen über heutige Migrationsprobleme – von gewaltsamen Vertreibungen über politische Fluchtbewegungen bis hin zu Armuts- und Wirtschaftsmigrationen, von kleinen Bevölkerungsverschiebungen etwa zwischen Stadt und Land bis hin zur allgegenwärtigen Expertenmigration – kommt man auch den Phänomenen vor anderthalb Jahrtausenden näher.

Römische Identität verschwindet von den Leibern der Romanen

Wenn Migranten sich eingliedern wollen, gehören Anpassung von Namen, Sprache und Kleidung zu den einfacheren Mitteln der Assimilation. Belege für Franken mit römischen Namen wie die erwähnten Bonitus oder Silvanus (S. 14f.) sind zwar dünn gesät, aber vorhanden. Die Sprache der Leitkultur zu verstehen, also Latein, war für integrationswillige Migranten unumgänglich, denn Latein war die Befehlssprache des Militärs, ihres größten Arbeitgebers.

Aber diese Art interkultureller Aneignung war alles andere als einseitig. Auch die romanische Bevölkerung, die in der Gallia oder der Germania täglich mit den fränkischen Einwanderern zu tun hatte (oder in Italien mit den gotischen, im Rhônebecken mit den burgundischen usw.), eignete sich von den Zugereisten mehr an, als der Kaiserhof akzeptabel fand. Der «barbarische Stil» (habitus barbarus), wie die Zeitgenossen ihn bisweilen nannten, war anscheinend weit verbreitet auch unter Romanen – im gallischen Siedlungsraum der Franken nicht anders als im nordafrikanischen Einwanderungsraum der Vandalen, aber selbst in der alten Metropole Rom.

Der «barbarische Stil» war eine Art mediterrane Tracht geworden, die nicht über die ethnische Herkunft, sondern über die Veränderung der Eliten etwas aussagte, über die zunehmende Macht von – oft zugereisten – Aufsteigern. Die neue Elite des spätrömischen Imperiums gab sich nicht mehr wie einst die Senatoren in demonstrativ ziviler Kleidung, die Grenze zur militärischen Tracht verschwamm. Gegen 400 spricht der Dichter Claudian über waffentragende Senatoren, selbst von dem Philosophen Boethius (um 480 – um 524) wird berichtet, dass er ein Schwert getragen habe. «Sichtbar wird hier», so resümiert eine bahnbrechende Studie, «ein neuer Habitus, der einerseits ganz römisch ist, andererseits aber jederzeit auch als fremd bzw. barbarisch abgetan werden kann. In ihm kommen keine germanischen Identitäten zum Ausdruck, sondern diejenige der spätantiken Militäraristokratie» (von Rummel).

Schon einige Jahrzehnte bevor man in den westlichen Provinzen das klassische System der römischen Armee aufgab zugunsten einer völlig neuen, auf die Migranten zugeschnittenen Organisation (S. 15), konnte man im Militär an Kleidung und Haartracht erkennen, wie sehr die Soldaten mit Migrationshintergrund die Kultur geprägt hatten. Auf zwei heute berühmten Monumenten des Kaisers Theodosius I. (347–395) tragen die Soldaten keine spezifisch römische Kleidung und Haartracht mehr: auf der in Spanien gefundenen, runden Silberplatte eines prunkvollen Essgeschirrs (sog. Missorium) zum zehnten Regierungsjubiläum des Kaisers Theodosius I. (Abb. 2, mit langen Haaren) und auf dem Sockel des Obelisken in der Pferderennbahn (Circus Maximus) vor dem kaiserlichen Palast in Konstantinopel aus der gleichen Zeit (Abb. 3, mit langem Haar und Halsring). Hatte man ursprünglich einmal an langen Haaren die Germanen erkannt, so waren lange Haare inzwischen zu einem generellen Zeichen des Militärischen geworden.

Einer unserer wichtigsten Zeugen für jenes Gallien des 5. Jahrhunderts, in dem die fränkischen Einwanderer inmitten romanischer Einheimischer siedelten, ist der demonstrativ...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Titel3
Impressum4
Inhalt5
I . Was gehen uns «Die Franken» an?7
Ab wann und bis wann sind «Die Franken» ein relevanter historischer Gegenstand?14
II. Koordinaten – Bedingungen – Vorgeschichten17
1. Mangelgesellschaften drängen in eine bessere und sicherere Welt17
Von «Völkerwanderung» zu «Migrationsbewegungen»17
Römische Identität verschwindet von den Leibern der Romanen20
2. Postimperiale Räume – Wie endet das Imperium?23
Voraussetzungen: Imperiales und postimperiales Gallien24
Vor den fränkischen Königen: Gallische Aristokraten erfinden das neue politische System26
Selektionsvorteil der Franken: Einheimische unter Einheimischen28
III . Politische Ereignisse: Von Arbogast dem General zu Ludwig dem Nichtstuer32
1. Ereignisse im postimperialen Raum33
Trier, 390 – Arbogast entmachtet den Kaiser33
Tournai, um 481 – Ein Herrscherbegräbnis ohne Zukunft39
Tours, 498, 500, 503 oder 508 – Chlodwig lädt zur Taufe44
2. Macht und Medien in der Hand der Karolinger51
Verberie, 752 – Die Königsstürzer hinterlassen keine Spuren52
Rom, 755 – Ein neues Arsenal diplomatischer Druckmittel56
Köln, 798 – Übergabe des Kaisertums an König Karl64
3. Der rex Francorum wird Geschichte70
Paris, 888 – Das dynastische Argument verschwindet72
Senlis, 987 – Ludwig der Nichtstuer fällt vom Pferd76
IV. Politische und soziale Strukturen, Administration und Wissenskulturen78
1. Formen des Politischen (1): Kein Staat, kein Reich, kein Lehnswesen78
Kein «Staat», kein «Reich»81
Kein «Lehnswesen»84
2. Formen des Politischen (2): Gott, sein königlicher Diener und das kollektive Seelenheil86
Eine hochentwickelte, abstrakte politische Theorie86
Die büßende Gesellschaft94
3. Formen des Politischen (3): Eine Gesellschaft ohne Ahnenkult101
«Was Gott verbunden hat …»: Umbau des Ehe- und Verwandtschaftssystems101
«Lass die Toten ihre Toten begraben»: Der Umbau der Gedächtniskultur105
4. Kulturen des Wissens: Eine Buchgesellschaft107
Von der Buchrolle zum Buchkodex107
Die Bildungs- und Bücherkampagne110
Kodifizierung der Sprache und der Schrift115
Die Befreiung der Kunst116
Die Karriere der Musik120
5. Ökonomische Verhältnisse: Betriebssysteme und Arbeitsorganisation121
Vergetreidung122
Grundherrschaft123
V. Qarlush bin Ludhwiq, malik al-Faranj: Epilog126
Weiterführende Literatur128
Bildnachweis128

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