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E-Book

Der Junge, der immer in Ohnmacht fiel

Neue unglaubliche Fallgeschichten aus der Medizin

AutorMartina Frei
VerlagEichborn AG
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl317 Seiten
ISBN9783732560509
Altersgruppe16 – 
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR

Warum kann es beim Autofahren durchaus Sinn machen, seine Geldbörse aus der vorderen oder hinteren Gesäßtasche zu entfernen? Was hat es mit der so genannten Silofüller-Krankheit auf sich? Und warum kann ein schöner Body-Builder-Rücken die Bewegungsfähigkeit des Kopfes so einschränken, dass das Linksabbiegen im Auto zum Glücksspiel wird?

Mit Sachverstand und feinem Humor präsentiert die Medizinerin und Journalstin Martina Frei in ihrem neuen Buch ein Kabinett aus skurrilen Verletzungen, Diagnosen und Fehldiagnosen, unbeabsichtigten Nebenwirkungen und verblüffenden Spontanheilungen.



Dr. Martina Frei, geboren 1965, hat in Freiburg und München Medizin studiert. Nach einem Abschluss an der Ringier-Journalistenschule arbeitet sie als Wissenschaftsredakteurin beim Schweizer Tages-Anzeiger. Ihre wöchentliche Kolumne "Medizinisches Kabinett" erscheint dort seit Oktober 2009. Heute arbeitet Martina Frei auch wieder als Vertretungsärztin und lebt in der Nähe von Zürich.

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Leseprobe

»Geschockte« Patienten


Selbst wenn Ihr Arzt heute auch noch nach bestem Wissen behaupten mag: »Das kann nicht sein!« – warten Sie ab. In der Geschichte der Heilkunst mussten Mediziner schon oft vermeintliche Erkenntnisse über Bord werfen zugunsten neuer, überraschender Einsichten – von denen die Patienten in manchen Fällen bereits Monate früher hörten als ihre Doktoren.

Ein Schuss, der nach hinten losging


Alles bereitete sich auf Weihnachten vor. John Ridyard und Chris Evans machten im Royal Southern Hospital von Liverpool gerade ihre letzte Patientenvisite vor den Festtagen – als ein jäher Knall zu vernehmen war. Es hörte sich an wie ein Pistolenschuss vom anderen Ende der Station. Die beiden Ärzte eilten sofort hin, fanden jedoch nichts Verdächtiges vor, weder eine Waffe noch einen vorzeitig gezündeten Silvesterkracher.

Stattdessen stand dort eine verschüchterte Patientin, der das Ganze hochnotpeinlich war: Der Knall sei aus ihren Gedärmen gekommen, erklärte sie den Ärzten und entschuldigte sich vielmals für den Aufruhr.

Bereits zwei Wochen zuvor war die 40-Jährige in eine ähnlich schamvolle Situation geraten. Damals stellte ein Fernsehtechniker bei ihr zu Hause gerade das TV-Gerät ein, als der Schuss losging. Der Techniker zog sofort den Stecker des Geräts. Er vermutete einen Kurzschluss und untersuchte den Fernseher, doch da war nichts zu finden.

Weil das Geräusch aus Richtung der Polstergarnitur gekommen war, auf der die Frau gesessen hatte, nahm er als Nächstes die Polster auseinander und suchte nach einer vermeintlich gebrochenen Sprungfeder – Fehlanzeige.

Die besagte Dame hingegen wusste, woher der Knall gekommen war. Doch sie schwieg beschämt.

Den beiden Ärzten verriet sie nun ihr Geheimnis: Schuld an der Knallerei seien die Kapseln, die der Hausarzt ihr gegen ein Geschwür am Zwölffingerdarm verschrieben habe. Seit sie dieses Medikament namens Duogastrone schlucke, schieße es in ihren Gedärmen, erklärte sie den verdutzten Medizinern.

Der Wirkstoff des Medikaments wurde aus Süßholz gewonnen und sowohl gegen Magen- als auch gegen Zwölffingerdarmgeschwüre eingesetzt. Er sollte die Schleimhaut widerstandsfähiger machen. Drei bis sieben Stunden nachdem sie eine Kapsel geschluckt habe, ertöne dann der Schuss, berichtete die Patientin. Um von dem Knall nicht aus dem nächtlichen Schlaf gerissen zu werden, hatten sie und ihr Mann sich inzwischen angewöhnt, nach der abendlichen Einnahme erst den »2-Uhr-Schuss« abzuwarten, bevor sie zu Bett gingen …

Den beiden Medizinern war diese explosive Nebenwirkung völlig neu. Bekannt war bis dahin nur, dass Duogastrone Kaliummangel verursachen konnte, der wiederum gefährliche Herzrhythmusstörungen auslöste.

Ridyard und Evans verfassten daraufhin einen Brief an die britische Ärztezeitung BMJ und beschrieben den Fall, wobei sie die Frage anschlossen, ob auch andere Patienten von solchen Nebenwirkungen gehört hätten. Kaum war er im Januar 1969 erschienen, stand das Telefon im Royal Southern Hospital nicht mehr still. TV-Teams zeichneten die Schüsse auf, die Presse berichtete, von überallher meldeten sich Betroffene.

Darunter war zum Beispiel auch der Wirt eines italienischen Restaurants in London. Seine Gäste erschraken wegen der Knallerei immer wieder aufs Heftigste. Als zum ersten Mal ein Schuss in ihm losgegangen war, standen er und seine Frau um vier Uhr morgens senkrecht im Bett: Seine Frau dachte, er sei geplatzt, sein Cocker Spaniel Suzy fing an zu bellen, vermutlich weil er annahm, die Jagd habe begonnen. Auch der Wirt schluckte Duogastrone.

Den Ärzten war das Geknalle im Darm bis dahin verborgen geblieben. Auch der Hersteller von Duogastrone wurde von der Wirkung überrumpelt, er konnte die Patienten aber beruhigen: Das Ganze sei harmlos. Die Kapsel quelle im Magen auf das Doppelte ihrer ursprünglichen Größe auf. Bei der Passage in den Zwölffingerdarm werde sie dann vom Magenschließmuskel zusammengedrückt und platze. Man habe jedoch nicht erwartet, dass dies zu hören sei, rechtfertigte sich ein Firmensprecher.

Die Ohrenzeugen Ridyard und Evans nahmen trotzdem, so gut es ging, Abstand von Duogastrone, dessen Wirkung manche Ärzte sowieso bezweifelten. Sie verordneten das Medikament nach dem denkwürdigen vorweihnachtlichen Schuss nur noch sehr zurückhaltend.

Explosion im OP


Heutzutage muss kein Patient mehr fürchten, durch Duogastrone in peinliche Situationen zu geraten. Denn dieses explosive Medikament ist längst vom Markt verschwunden. Dafür sehen sich heutige Magen-Darm-Patienten anderen Gefahren ausgesetzt. Im Vergleich dazu waren die Duogastrone-Schüsse nur »Peanuts«.

Seit Jahren schon hatte der frühere Landwirt immer wieder Magen- und Darmbeschwerden. Mal plagte ihn ein Magengeschwür, mal war es eines am Zwölffingerdarm. Zweimal war er deswegen schon operiert worden, und mehrfach hatten diese Geschwüre bereits geblutet, sodass er sogar Bluttransfusionen benötigte. Verglichen mit heute waren die therapeutischen Möglichkeiten damals allerdings viel bescheidener. Auch über die Ursachen solcher Geschwüre wussten die Mediziner viel weniger als heutzutage.

Nachdem der Patient rund zehn Jahre lang damit herumlaboriert hatte, schlugen ihm die Ärzte im September 1951 vor, sich nochmals operieren zu lassen, um die Probleme aus der Welt zu schaffen. Routinemäßig wurde vorher der Verdauungstrakt des Patienten durchgecheckt. Dazu gehörte auch die Sigmoidoskopie. Dabei besieht sich der Arzt mit einem Endoskop den letzten Abschnitt des Dickdarms. Im Rahmen dieser Untersuchung fand man bei dem Kranken zwei kleine, harmlos erscheinende Polypen.

Darmpolypen sind bei älteren Menschen sehr häufig. Etwa ein Drittel dieser sogenannten Adenome verschwindet von allein wieder, mindestens ein weiteres Drittel verändert sich nicht. Die restlichen bergen allerdings das Risiko, dass sie entarten und schließlich bösartig werden.

Deshalb entschied der Arzt, die beiden Darmpolypen zu entfernen, auch wenn sie nicht für die Blutungen verantwortlich waren. Er nahm von beiden Polypen eine Gewebeprobe, um sie begutachten zu lassen, und verödete dann die je sechs Millimeter kleinen Wucherungen mit einem Elektrokauter. Dabei fließt Strom zwischen zwei kleinen Elektroden. Die entstehende Hitze »verschmurgelt« das Gewebe und stillt so auch etwaige Blutungen, die beim Abtragen der Polypen entstehen.

Vom zweiten Polypen war noch ein kleiner Geweberest übrig. Der Darmspezialist setzte also den Elektrokauter nochmals an.

Mit dem, was dann folgte, hatte niemand gerechnet: Kaum floss der Strom, kam es zur Explosion – im Innern des Patienten. Aus dem Ende des Endoskops schoss eine 30 bis 60 cm lange blaue Flamme, der Patient kreischte auf und versuchte vom Untersuchungstisch zu klettern. Der dumpf klingende Explosionsknall war so laut, dass er sogar im Nebenraum zu hören war.

Dem Patienten waren die Verdauungsgase zum Verhängnis geworden. Wie jeder weiß, dem schon einmal ein Wind entfleucht ist, enthält der Darm Gase. Rund drei Viertel der etwa 200 Milliliter Gas pro Darm werden von den unzähligen Darmbakterien produziert. Sie verarbeiten oder fermentieren das, was der menschliche Verdauungstrakt nur teilweise oder gar nicht verdauen kann: den Zuckeraustauschstoff Sorbitol zum Beispiel oder das als Abführmittel eingesetzte Mannitol.

Den größten Anteil am Darmgas macht Stickstoff aus, daneben finden sich dort aber auch Sauerstoff, Wasserstoff, Kohlendioxid und Methan. Explosiv wird die Mischung, wenn der Anteil des Wasserstoffs vier Prozent übersteigt und/oder derjenige des Methans fünf Prozent. Beträgt der Sauerstoffanteil in der Darmgaswolke überdies mehr als fünf Prozent, genügt ein Funke – und es passieren furchterregende Dinge im Operationssaal.

Wie häufig solche Schreckensereignisse sind, lässt sich nicht beziffern, weil vermutlich nicht jeder Fall an die Öffentlichkeit gelangt. In der Fachliteratur wird etwa einer pro Jahr beschrieben.

Als der Arzt den Patienten wieder einigermaßen beruhigt hatte, führte er das Sigmoidoskop nochmals in dessen Enddarm ein. So weit er sehen konnte – also etwa auf eine Distanz von 25 Zentimetern – war der Darm unverletzt geblieben.

Der 65-jährige Patient wirkte blass und ängstlich. Kein Wunder nach dem, was er gerade im eigenen Leib erlebt hatte. Seine Bauchschmerzen hielten sich zunächst in Grenzen.

Eine Stunde nach der Explosion aber wurde er sicherheitshalber geröngt. Auf dem Bild war viel Luft im Bauch zu sehen. Das passte zum Untersuchungsbefund: Sein Bauch schwoll immer stärker an.

Vermutlich hatte die Wucht des Unfalls irgendwo die Eingeweide des Patienten verletzt, sodass Luft und Bakterien aus dem Darm in die Bauchhöhle dringen konnten. Binnen einer weiteren Stunde lag der Mann deshalb auf dem Operationstisch.

Etwa auf der Höhe der Milz, also viel weiter oben als vermutet, war der Dickdarm an insgesamt sieben Stellen komplett gerissen. Der längste Riss mass zehn Zentimeter. Etwa ein halber Meter des Organs war bläulich verfärbt und blutete. Der Chirurg schnitt 54 Zentimeter Dickdarm heraus und legte dem Patienten vorübergehend einen künstlichen Darmausgang an.

Drei Monate später wurden die beiden Darmenden in einer zweiten Operation miteinander verbunden, sodass die Ausscheidung wieder vonstattenging wie zuvor. Der Mann erholte sich im Weiteren gut von dem erlebten Horror und den Operationen.

Im besten Fall führen solche Explosion...

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