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Die frühen Lebensjahre

Psychoanalytische Entwicklungstheorie nach Freud, Klein und Bion

AutorGertraud Diem-Wille
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl248 Seiten
ISBN9783170238138
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis30,99 EUR
Die ersten Lebensjahre sind für die Entwicklung der emotionalen und intellektuellen Grundmuster der Persönlichkeit entscheidend. Dieses Buch stellt - unter Berücksichtigung der modernen hirnphysiologischen Forschung - die aktuelle psychoanalytische Theorie zur psychischen Entwicklung in der frühen Kindheit vor. In verständlichen Worten werden die Grundlagen der Entstehung des Körper-Ichs, der Emotionen, des Denkens und der psychosexuellen Entwicklung dargestellt und mit anschaulichen Beispielen aus der Säuglingsbeobachtung nach Esther Bick und der Kinderanalyse illustriert. Die Bedeutung von Liebe für die Entwicklung des Fühlens und Denkens und der Umgang mit Bösem (Neid, Aggression und Destruktion) werden theoretisch und anhand von Situationen erläutert, die es dem Leser ermöglichen, an eigene Erlebnisse anzuschließen.

Professor Dr. Gertraud Diem-Wille lehrt Psychoanalytische Pädagogik an den Universitäten Klagenfurt und Wien. Sie ist Lehranalytikerin der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung und der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung.

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Leseprobe

1 Anlage-Umwelt-Kontroverse


Eine der grundlegenden Fragen bei der Entwicklung des Kindes ist die nach der Bedeutung der biologisch ererbten genetischen Ausstattung und dem Einfluss der Umwelt. Die verschiedenen Antworten darauf beruhen auf unterschiedlichen Annahmen über das Wesen des Menschen, der Forschungsperspektive und der unterschiedlichen Interpretation von empirischen Daten. Es herrscht heute weitgehende Übereinstimmung, dass die kindliche Entwicklung in gleichem Maß einem universellen Muster folgt, individuelle Unterschiede aufweist und von Umweltbedingungen beeinflusst wird. Welches Gewicht diesen drei Einflussfaktoren beigemessen wird, hängt von der theoretischen Orientierung der Psychologen und der Art der Fragestellung ab.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Standpunkte extrem gegensätzlich. Vertreter der Rassentheorie betonten die biologische Vererbungslehre, die eine eindeutige Rassenzuordnung unterstellte. Sie sollte die Überlegenheit der „germanischen Rasse“ als „Herrenmenschen“ vor allen anderen „unterlegenen Rassen“, den „Untermenschen“, belegen. Diese „wissenschaftlichen“ Scheinargumente sollten im Nationalsozialismus die Vernichtung „minderwertigen Lebens“, aller deformierten und abnormen Personen und der Juden legitimieren. Die zwischen den Jahren 1933 bis 1945 systematische und bürokratisch organisierte Ermordung von mehr als sechs Millionen Juden, Roma, Homosexuellen und Kriegsgefangenen in den Konzentrationslagern der „Herrenrasse“ in Deutschland und Österreich hat eindrucksvoll bewiesen, dass im Nationalsozialismus „rassische Überlegenheit“ einem entmenschlichten systematischen Verbrechertum zum Vorwand diente.

Aber nicht nur in Mittel- und Osteuropa wurde in den Sozialwissenschaften die Veranlagung von Persönlichkeit und Intelligenz als richtungsweisend angenommen. In den Vereinigten Staaten von Amerika muss heute noch jeder Heiratswillige ein Formular zu seinen Gesundheitsdaten ausfüllen, in dem nach psychischen Krankheiten in der Familie und vererbbaren Fehlentwicklungen gefragt wird. Da man davon überzeugt war, dass Intelligenz primär genetisch vererbbar sei, war es in der Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg die Praxis der Sozialbehörde in den USA, Kinder nicht als Säuglinge zur Adoption freizugeben, sondern sie bis zum Alter von sechs Monaten in Waisenhäusern unterzubringen, um festzustellen, ob sie normal intelligent seien. Da die emotionalen Beziehungen und die intellektuelle Stimulation in den Waisenhäusern aber nur gering waren und häufig eine verzögerte Entwicklung zur Folge hatten, wurden die Kinder oft als geistig zurückgeblieben eingestuft und in entsprechende Anstalten eingewiesen (Mussen u. a. 1990, 16). Erst die bahnbrechenden Untersuchungen von René Spitz (1945, 53) in amerikanischen Waisenhäusern und seine Entdeckung des „Hospitalismus-Syndroms“4 als Folge der emotionalen und intellektuellen Vernachlässigung der Säuglinge in hygienisch einwandfrei geführten Waisenhäusern ohne konstante Beziehungsangebote für die Säuglinge, führte zu einem Umdenken der Sozialbehörde. Ein langsames Aufgreifen des psychoanalytischen Gedankenguts und der kognitiven Theorien von Piaget (1999) führte zu der Einsicht, dass Entwicklung das Ergebnis einer Interaktion von reifebedingten Veränderungen und individueller Erfahrung darstellt.

Freud (1905a, 179) nahm an, dass Kinder aktive Lebewesen seien, die eine Reihe psychosexueller Entwicklungsphasen durchlaufen, in denen sie mit bestimmten inneren Konflikten, Wünschen und Phantasien konfrontiert seien; die Art und Weise ihrer Bewältigung sei ausschlaggebend dafür, ob man als reifer Erwachsener arbeits- und liebesfähig sei oder auf frühen Entwicklungsstufen fixiert bliebe. Diese These, dass die frühe Entwicklung und die frühe Beziehung zu den Eltern große Bedeutung hat, war für seine Zeit revolutionär, hat viele Menschen beeinflusst und ist heute allgemein anerkannt. In dem Standardwerk zur amerikanischen Entwicklungspsychologie geht Berk erst in der dritten Auflage 2005 auf den komplexen „bidirektionalen Zusammenhang zwischen Biologie und Umwelt“ ein und spricht von einer „Entkoppelung der Korrelation von Genetik und Umwelt bei psychischen Erkrankungen und antisozialem Verhalten“ (Berk 2005, XXXVI).

Freud (1905a) sprach von den konstitutionellen Faktoren, die zusätzlich zu den Erlebnisfaktoren eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der Persönlichkeit spielen. Vertreter der Psychoanalyse betonen heute die individuelle Veranlagung und die familiären Umwelteinflüsse. Die Persönlichkeit des Babys, sein Temperament, seine angeborene Tendenz zu Robustheit oder Sensibilität, zu Ungeduld, Neid und Frustrationsintoleranz werden ebenso als wichtige Faktoren beim Entstehen von psychischen Krankheiten genannt wie belastende Familienverhältnisse, traumatische Erfahrungen oder Deprivation. Die Psychoanalyse und die psychoanalytische Pädagogik haben eindrucksvoll gezeigt, in welchem Maß kindliches Verhalten von emotionaler Förderung oder Konflikten beeinflusst wird. So können Kinder, die als „dumm“ galten, nach einer Therapie, in deren Verlauf sie die hemmenden Faktoren der Angst, Aggression oder unterdrückte Konflikte besprechen konnten, ihre Intelligenz und ihre sozialen Kompetenzen voll nutzen. Bevor allerdings eine Therapie oder Kinderanalyse empfohlen wird, muss eine sorgfältige Abklärung möglicher somatischer und genetischer Ursachen der Störung vorgenommen werden. Eine Förderung der intellektuellen und sozialen Fähigkeiten kann nur im Rahmen der vorgegebenen Anlagen erfolgen, für deren Messung es derzeit keine Methode gibt, nur psychotherapeutisch-diagnostische Verfahren, die zeigen, ob ein Kind emotionale Hemmungen in seiner Entwicklung aufweist.

Angesichts der Fortschritte in der Biologie und Psychologie sind heute beide Annahmen, sowohl die eines Anlage- als auch eines Umweltdeterminismus, gleichermaßen naiv. Die Forschung geht davon aus, dass eine Kombination von ererbtem Potential und individueller Erfahrung eine Person zu dem gemacht hat, was sie ist und wie sie die Welt erlebt. Wenden wir uns nun den anlagebedingten Dispositionen und dann den umweltbedingten Einflüssen zu.

1.1 Anlagebedingte Dispositionen


Die Bezeichnung „genetisch bedingt“ wird in der Umgangssprache gleichgesetzt mit einer notwendigen Weitergabe eines genetischen Faktors der Eltern an alle ihre Kinder. Dieser naiven Meinung werden hier zunächst einige Perspektiven der biologischen Forschung zur Vererbung gegenübergestellt, um zu zeigen, dass die Vererbung nicht eine eindimensionale Weitergabe des Erbguts der Eltern an ihre Kinder ist, sondern ein hochkomplexes Phänomen darstellt. Danach soll auf förderliche und schädliche Umgangsweisen mit dem Aspekt der anlagebedingten Disposition eingegangen werden.

Jeder von uns besteht aus Billionen Zellen. Innerhalb jeder Zelle befindet sich ein Zellkern (ein Kontrollzentrum), der rutenförmige Strukturen enthält, Chromosomen genannt, die die genetischen Informationen bewahren und weitergeben. Die genetische Ausstattung des Menschen liegt also in seinen Chromosomen, die zu gleichen Anteilen von den biologischen Elternteilen stammen. Menschliche Zellkerne enthalten 46 Chromosomen (diploider Chromosomensatz) in Form von 23 sich entsprechenden Paaren (eine Ausnahme ist das Geschlechtschromosomenpaar XY bei Männern). Jedes Teil des Chromosomenpaares stimmt mit dem anderen in Größe, Form, Struktur und genetischer Funktion überein. Eines stammt von der Mutter und eines vom Vater. Jede Körperzelle hat 46 Chromosomen, außer Ei- und Samenzellen. Diese haben nur den halben Chromosomensatz (23 Chromosomen). Bei der Befruchtung, wenn die Samenzelle die Wand der Eizelle durchdringt, setzt sie 23 Chromosome frei, so wie auch das Ei selbst 23 eigene Chromosome freisetzt, dann verschmelzen deren Kerne und es entsteht wieder ein doppelter Chromosomensatz, d. h. jedes Individuum beginnt sein Leben mit 46 Chromosomen. Chromosomen bestehen aus chemischen Bausteinen, die zu einem Riesenmolekül, der Desoxyribonukleinsäure oder kurz DNA, zusammengeschlossen sind. Erst 1945 erforschte Oswald Averyn am Rockefeller Institut die bis dahin geheime Matrix. Es dauerte fast 20 Jahre bis die Nobelpreisträger James Watson and Francis Crick 1963 die Substanzen und den Aufbau der DNA, des grundlegenden genetischen Materials, entdeckten. Sie entwickelten das Modell der DNA, das aus zwei Molekülketten besteht, die sich um eine gedachte Achse winden und die so genannte Doppelhelix bilden (Wie eine biegsame Leiter, die sich wie eine Wendeltreppe um ihre eigene Achse windet.) (Fraser & Nora 1986, Moore 1982). Jede Sprosse besteht aus einem spezifischen Paar chemischer Bausteine, Nukleotidbasenpaare, die zwischen den beiden Holmen durch eine Wasserstoffbrücke verbunden sind. Es ist diese Sequenz der Nukleotidbasen, welche die spezifische Sequenz von chemischen Elementen bildet – ein so genanntes Nukleotid. Durch die unterschiedliche Sequenzierung wird der jeweils spezifische genetische Code eines Individuums aufgebaut, der dann bei der Eiweißbiosynthese bedeutsam ist und das genetischen Programme vorgibt. Ein Gen ist ein Segment der DNA. Gene, Träger des Erbguts, können von unterschiedlicher Länge sein – von etwa hundert bis zu mehreren tausend Leitersprossen. Eine menschliche Zelle enthält ungefähr eine Million Gene, durchschnittlich liegen 30 000 Gene entlang der menschlichen Chromosomen. Das gesamte biologische Erbe ist in diesen 23 Chromosomenpaaren enthalten.

Abb. 1.1: Die leiterähnliche Struktur der DNA

Jede Körperzelle verfügt über 22 Paar homologe Chromosomen. Das 23. Paar besteht aus den...

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