Kollontai als Kommissarin
Wir haben Alexandra Kollontai verlassen, als sie im Februar 1917 in einer Osloer Straßenbahn saß und ungläubig auf die Schlagzeile einer Zeitung starrte. Rasch kehrte sie damals nach Russland zurück und stürzte sich in den folgenden Monaten in die außergewöhnlichen Ereignisse der Revolution. Von April bis Oktober 1917 unterstützte sie entschieden Lenins Forderung, dass man unverzüglich von der bürgerlichen zur proletarischen Revolution übergehen müsse, also von der ersten Revolution vom Februar, welche die Abdankung des Zaren bewirkt hatte, zu einer zweiten von den Bolschewiki organisierten und angeführten Revolution. »Grau, teurer Freund, ist alle Theorie«, hatte Lenin – Goethe zitierend – bei seiner Ankunft in Petrograd verkündet, »und grün des Lebens goldner Baum.« Die Gelegenheit musste beim Schopf gepackt werden, welche Konsequenzen dies auch immer haben mochte. Am 10. Oktober 1917, als Lenin im Zentralkomitee der Partei die sofortige Machtübernahme forderte, stand Kollontai an seiner Seite. Einen Monat später, am 13. November, wurde sie zur Kommissarin für soziale Fürsorge ernannt, als einzige Frau in Lenins Rat der Volkskommissare in Petrograd (wie St. Petersburg von 1914 bis 1924 hieß). Inessa Armand hingegen hielt sich 1917 die meiste Zeit in Moskau auf. Im August beschloss sie, auf das Gut ihrer Familie in Puschkino zurückzukehren, um nach ihrem inzwischen 13-jährigen Sohn Andrej zu sehen, bei dem man Tuberkulose vermutete. Sie blieb in den entscheidenden Monaten der Oktoberrevolution dort.
Kollontais Arbeit als Kommissarin für soziale Fürsorge dauerte nur wenige Monate. Mit den hohen Ansprüchen, die sie an dieses Amt hatte, musste sie schon bald enttäuscht werden. Das Kommissariat, das zuvor Ministerium für staatliche Fürsorge geheißen hatte, war zuständig für Heime für Findelkinder und alte Menschen, für Waisen- und Krankenhäuser sowie für Sozialhilfeprogramme für Hunderttausende kriegsversehrter Soldaten. Mit dem Monopol über Herstellung und Verkauf von Spielkarten und Tabak verschaffte die Behörde dem Staat einen Teil der dringend benötigten Einnahmen. Aber die Not in der Bevölkerung durch Krieg, Bürgerkrieg und Revolution war derart groß, das die finanziellen Mittel vorne und hinten nicht reichten.[88]
Kollontai tat ihr Möglichstes. Im Januar 1918 gründete sie eine zentrale Behörde für die Mütter- und Säuglingsfürsorge. Sie sollte die erschreckend hohe Kindersterblichkeit in Russland durch die Einführung einer hygienischen und wissenschaftlich fundierten Pflege für Mutter und Kind senken. Berufstätige Mütter sollten zum ersten Mal in der Geschichte einen angemessenen Mutterschaftsurlaub bekommen. Endlich sei, verkündete Alexandra Kollontai, die »strahlende Epoche angebrochen, in der die Arbeiterklasse, mit eigenen Händen, Formen der Kinderbetreuung aufbauen kann, die einem Kind nicht die Mutter oder einer Mutter nicht das Kind rauben«.[89]
Innerhalb des Kommissariats bildete Kollontai, die sich ihrer mangelnden administrativen Erfahrung sehr wohl bewusst war, ein Hilfsgremium, das sich aus Ärzten, Juristen und verschiedenen Experten zusammensetzte. Tagtäglich strömten die Menschen zu ihr ins Amt auf der Suche nach Hilfe. Am Ende des Tages kehrte sie erschöpft in die kleine Wohnung zurück, die sie sich mit ihrem Sohn Mischa und ihrer Freundin Soja teilte. Louise Bryant, eine sympathisierende und scharfsinnige amerikanische Augenzeugin der Revolution, notierte sich zu einem späteren Zeitpunkt:
Frau Kollontai wird von ihrem Enthusiasmus so sehr mitgerissen, dass sie nicht beachtet, wie leicht in diesem Zeitalter des Stahls Flügel brechen. Aber wenn ihre Inspiration, die danach strebt, die Frauen in den Himmel zu heben, sie nur von den Knien auf ihre Füße hochhebt, so brauchen wir nichts zu bedauern. Die Zivilisation wird mit ihrem Fortschritt im Schneckentempo lediglich durch den brennenden Wunsch derjenigen von Zeit zu Zeit dazu gebracht, sich ein Zollbreit weiterzubewegen, die sie am liebsten eine Meile voranbringen möchten.[90]
Mit ihrer impulsiven Art unterliefen ihr mitunter auch Fehler. Mitte Januar 1918 versuchte sie, das wohlhabende Alexander-Newski-Kloster in Petrograd zu beschlagnahmen, um ein Heim für Kriegsinvaliden darin einzurichten. Es bestand ein akuter Bedarf, aber die Geistlichen und Laien wehrten sich heftig gegen dieses Unterfangen. Als Kollontai Matrosen rief, um das Kloster zu besetzen, kam es zu Kampfhandlungen, und ein Priester wurde getötet. Lenin war wütend, denn Kollontai hatte ihn nicht um Rat gefragt, und er wollte auf keinen Fall, dass dem neuen Regime zu allen anderen Problemen noch ein Krieg mit der Kirche drohte.[91] Tatsächlich sollte die Distanz zwischen Lenin und Kollontai von diesem Tag an stetig größer werden. Als am 18. März 1918 der Vertrag von Brest-Litowsk mit den Mittelmächten ratifiziert wurde (der große territoriale Zugeständnisse an Deutschland im Gegenzug für den Frieden vorsah), gab Alexandra Kollontai ihren Rücktritt als Kommissarin bekannt.
Die Macht hatte sich als allzu kurzlebig für sie erwiesen, aber dennoch stand sie weiter im Licht der Öffentlichkeit. Sie war eine prominente Gestalt der Revolution. John Reed hob ihre rhetorischen Fähigkeiten, aber auch ihre Weiblichkeit und Menschlichkeit hervor.[92] Louise Bryant beschrieb sie als »schlank und hübsch und temperamentvoll«.[93] Auch der französische Journalist und Sozialist Jacques Sadoul, der im Jahr 1917 als Attaché der französischen Militärmission nach Petrograd gekommen war, zeigte sich von der charismatischen Revolutionärin angezogen.[94]
Alexandra Kollontai hatte allerdings keine Zeit für Sadoul und seinesgleichen. Sie hatte sich unterdessen in Pawel Dybenko verliebt, einen Matrosen. Er war ein Anführer der Agitation unter der Ostseeflotte und der frisch ernannte Kommissar für Marineangelegenheiten. Es waren seine Matrosen, die Kollontai gerufen hatte, um das Alexander-Newski-Kloster zu besetzen. Für sie war Dybenko der Inbegriff der proletarischen Männlichkeit. Sie war inzwischen fünfundvierzig, er achtundzwanzig. Mit ihm lebte sie ihre Vorstellung vom »geflügelten Eros«, der sexuellen Kameradschaft und dem kameradschaftlichen Dienst an der gemeinsamen Sache aus. Später schrieb sie: »Unsere Begegnungen flossen stets vor Freude über, unsere Trennungen waren voller Qual. Ebendiese Stärke des Gefühls, die Fähigkeit, intensiv, leidenschaftlich, stark zu leben, zog mich zu Pawel hin.«[95]
Auf einem Foto, das Lenins Rat der Volkskommissare im Jahr 1918 zeigt, ist Kollontais zierliche Gestalt zur Linken Lenins und neben der Schreiberin zu erkennen. Der bärtige Dybenko überragt sie von hinten, als wolle er sie in dieser grimmigen Versammlung männlicher Revolutionäre beschützen. In Wirklichkeit war sie diejenige, die ihn protegierte. Dybenko wurde im März 1918 verhaftet, weil er angeblich sein Kommando an der Front gegen die Deutschen im Stich gelassen hatte. Kollontai beschaffte ihm die nötige Kaution zur Freilassung; später wurde er von allen Anklagen freigesprochen, allerdings eine Zeitlang aus der Partei ausgeschlossen. Als Dybenko Alexandra Kollontai um ihre Hand bat, nahm sie ungeachtet ihrer Prinzipien und des energischen Widerstands von Mischa und Soja den Antrag an.[96]
Der Rat der Volkskommissare, Anfang 1918; Kollontai sitzt zur Linken Lenins; Dybenko steht hinter ihr
Alexandra Kollontai sollte nie wieder eine so hohe Stellung in Lenins Regierung bekleiden, und sie und Dybenko wurden nach und nach an den Rand gedrängt. Dennoch behielt sie bis zum Ende ihres Lebens diese ersten Monate der Revolution als die Erfüllung eines Traum in Erinnerung: »Monate der wahren Romantik der Revolution«, schreibt sie in ihrer Autobiographie.[97] Sie und Trotzki (und phasenweise sogar Lenin) waren überzeugt, dass ihrer Revolution das gleiche Schicksal wie der Pariser Kommune von 1871 blühe, die nach nur 71 Tagen in einem furchtbaren Blutbad niedergeschlagen worden war. Ihre Aufgabe war es, Zeugnis für die Zukunft abzulegen, wie es in ihrer Autobiographie heißt: »Uns trug dabei das Gefühl, dass alles, was wir produzierten, und sei es nur ein Dekret, irgendwann ein historisches Vorbild sein und anderen helfen werde vorwärtszukommen.«[98]