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Die Geschichte der Normannen. Von Wikingerhäuptlingen zu Königen Siziliens

Reclam Sachbuch premium

AutorRudolf Simek
VerlagReclam Verlag
Erscheinungsjahr2021
Seitenanzahl296 Seiten
ISBN9783159613796
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Die Normannen waren nicht nur räuberische Seekrieger. Die Nachfahren der Wikinger ließen sich im 9. Jahrhundert zunächst in der nach ihnen benannten Normandie nieder und hatten einen nachhaltigen Einfluss in Kontinentaleuropa: Sie haben das Rittertum erfunden und manche Regionen Europas wirtschaftlich wie politisch reformiert. Sie förderten das mittelalterliche Klosterleben und den Austausch mit der islamischen Hochkultur des Mittelalters. Wilhelm der Eroberer, Herzog der Normandie, wurde König von England. Doch auch auf Sizilien, in Spanien und selbst im Nahen Osten haben die Normannen Spuren hinterlassen, die zu ihrem Mythos beitrugen.

Rudolf Simek, geb. 1954, ist Professor für Ältere Germanistik mit Einschluss des Nordischen an der Universität Bonn. Für Reclam hat er 'Die Schiffe der Wikinger', das 'Artus-Lexikon' und 'Die Germanen' verfasst.

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Leseprobe

[35]Normannische Vorgeschichte: Die wikingische Expansion im Frankenreich und England im 9. Jahrhundert


Für die spätere Normandie sind aber nicht die weiten Reisen der Wikinger nach Island oder Grönland und schon gar nicht ihre Vorstöße in die Weiten des russischen Tieflands und das Schwarze Meer von Bedeutung, sondern in erster Linie die meist küstennahen Fahrten entlang der europäischen Westküste: Von Dänemark über Friesland gelangten sie bis an die Rheinmündung, dann weiter entlang der flämischen Küste bis ins heutige Westfrankreich mit der Normandie und der Bretagne.

Die ersten nachweisbaren Wikingerfahrten hatten vor allem nach England und bald auch nach Irland geführt, was mit der erwähnten effizienten Küstenverteidigung des fränkischen Reichs unter Karl dem Großen zusammenhängt. Wir dürfen dabei annehmen, dass die Skandinavier auch jenseits der Nordsee und des Ärmelkanals ihre gewohnte Methode der küstennahen Navigation praktizierten: Am Tage segelte man die Küsten entlang, abends wurde angelegt und an Land gekocht, weil Feuer auf Schiffen immer problematisch sind. Die Überquerung des Kanals bildete wohl auch kein großes Problem, denn selbst im Norden, wo man nicht beide Küsten zugleich sehen kann, ist die Strecke bei günstigem Fahrtwind leicht in zwei Tagen und einer Nacht zu bewältigen, da selbst auf der Höhe der Rheinmündung und der Stadt Ipswich der Kanal keine 200 Kilometer breit ist. Zudem kam den Skandinaviern die Erfahrung zugute, die ihre Vorfahren als Händler [36]gesammelt hatten, so dass man die Routen nach Friesland, an den Rhein, nach Northumbria und selbst nach Kent gut kannte.

Es ist jedenfalls kein Zufall und auch nicht nur der Quellenlage geschuldet, dass die beiden traditionellen, aber natürlich simplifizierenden Daten für Beginn und Ende der Wikingerzeit beide mit England in Verbindung stehen: Man lässt ja diese bewegte Phase der westeuropäischen Geschichte meist mit dem berühmten Überfall auf die Klosterinsel Holy Island mit dem Kloster Lindisfarne vor Nordostengland im Jahre 793 beginnen, obwohl schon vorher punktuell von Scharmützeln mit Skandinaviern in englischen Küstenstädten berichtet wird. Das Ende der Wikingerzeit wiederum setzt man üblicherweise mit dem Jahre 1066 an, als der Norwegerkönig Harald der Harte, den man mit gutem Recht als den letzten Wikingerkönig bezeichnen könnte, bei dem Versuch, England zu erobern, in der Schlacht von Stamford Bridge bei York Schlacht und Leben verlor. Dass der Normanne Wilhelm der Eroberer kurz darauf von der Normandie her England eroberte, rundet dieses Bild ab, gehört aber eigentlich gar nicht mehr zur Wikingerzeit.

Die gut 250 Jahre skandinavischer Aggression, die dazwischen liegen, sind gerade für England keine kontinuierliche Periode. Man spricht deswegen heute geradezu von zwei Wikingerzeiten, eine um die Mitte des 9., die andere am Ende des 10. Jahrhunderts. Beide zeichnen sich als klar unterscheidbare Phasen ab. Die erste ist von sehr punktuellen Plünderungen gekennzeichnet, wie sie auch in Irland und Schottland vorkamen, nämlich als plötzliche Überfälle kleinerer Flotten ohne erkennbaren Zusammenhang.

[37]Schon während der ersten Periode der Wikingerzeit in England begannen die skandinavischen Räuber auf den kleinen vorgelagerten Inseln zu überwintern, nachdem sie sich schon einige Jahrzehnte vorher in Irland allmählich niedergelassen hatten. Aber in England markierten erst diese Überwinterungen den langsamen Übergang von den Plünderungsfahrten zum Eroberungskrieg sowie vom Eroberungskrieg zu dauerhafter Landnahme, aus der das englische danelag als eigenständiges, skandinavisches Reich in Nordostengland hervorgehen sollte.

Zuvor aber zogen in der erwähnten Phase des Eroberungskriegs Wikingerarmeen ab etwa 865 durch England und eroberten durch Schlachten und Verträge nach und nach den ganzen Osten des Landes, dessen Hauptstadt York schon ab 866 in den Händen der Wikinger war. Die sogenannte ›Große Armee‹ wütete bis 874 in England, bevor sie sich teilte und die eine Hälfte endgültig Northumbria unterwarf, während eine zweite Heeresabteilung das südenglische Königreich Wessex und das zentral gelegene, sich bis an den Humber erstreckende Mercia eroberte. Im Jahre 886 wurde dann England vertraglich zwischen den Skandinaviern im Nordosten und König Alfred im Südwesten aufgeteilt, was eine Phase der systematischen Landnahme in diesem Gebiet des danelag einleitete.

Die nächste Periode begann erst 902, als König Alfreds Sohn Edward begann, das danelag für die englische Krone zurückzuerobern. Um 918 war das Vorhaben abgeschlossen, so dass Edward 920 sogar von den nun ja überwiegend skandinavischen Bewohnern Nordostenglands als König Northumbrias anerkannt wurde. Allerdings wechselte die Krone noch wiederholt zwischen skandinavischen und [38]englischen Königen, bis 954 der vorläufig letzte Wikingerkönig, der unbeliebte Erik Blutaxt, verbannt wurde und bald darauf in einer Schlacht fiel.

Die nun folgende Periode vermehrter Wikingerangriffe direkt aus Skandinavien wird oft als die zweite Wikingerzeit Englands bezeichnet, allerdings richteten die Attacken sich vermehrt gegen Wales und die englische Westküste. Ab 980 nahm die Intensität dieser Überfälle zu, und spätestens ab 992 handelte es sich nicht mehr um unabhängige Plünderungszüge wikingischer Piraten, sondern um gezielte Eroberungsexpeditionen der Könige Olaf Tryggvason von Norwegen und Sven Gabelbart von Dänemark.

Diese Expeditionen hatten nicht zuletzt aufgrund der Unzufriedenheit der britischen Bevölkerung mit dem unfähigen König Ethelred the Unready (›dem Unberatenen‹) Aussicht auf Erfolg. Ethelred kaufte sich mit immer höheren Summen von den Wikingern frei, die als Danegild in die Geschichte eingingen und England beinahe in den Bankrott führten, denn die Summen stiegen bis ins Jahr 1001 auf 24 000 Pfund Silber. Dass der schlecht beratene König im darauf folgenden Jahr ein Massaker unter den alteingesessenen Skandinaviern provozierte, um die Unzufriedenheit von sich abzulenken, nutzte König Sven Gabelbart in den Jahren 1003–1007 zu Vergeltungsfeldzügen, die bis 1012 zu immer neuen, noch höheren Danegildzahlungen führten. Weihnachten 1013 konnte sich daher Sven Gabelbart nach einem kurzen Feldzug zum König von England krönen lassen.

Allerdings starb er schon nach zwei Monaten, und sein Sohn Knut wurde somit nicht nur König von Dänemark, sondern auch von England und ging als Knut der Große (gest. 1033) in die Geschichte ein. Knut, ein kluger und [39]weiser Politiker, wurde nach seinem Tod in Dänemark als Heiliger verehrt, seine drei Söhne allerdings verstarben alle innerhalb von nur neun Jahren nach seinem Tod. Deshalb wurde schließlich Ethelreds Sohn Edward englischer König, bevor am 6. Januar 1066 nach Edwards Tod mit Harold Godwinson noch einmal ein Skandinavier König von England wurde. Dieses Jahr sollte die englische Geschichte dank der Normannen nachhaltiger verändern als die ganze Wikingerzeit.

Als ab Mitte des 9. Jahrhunderts die Wikinger sowohl auf den britischen Inseln als auch im Fränkischen Reich begonnen hatten, nach ihren sommerlichen Plünderfahrten nicht mehr nach Skandinavien zurückzukehren, sondern gleich im Süden zu überwintern, zogen sie sich zuerst sicherheitshalber auf Inseln zurück. Die allerersten Niederlassungen sind ab etwa 850/860 nicht nur auf Noirmoutier vor der Bretagne, sondern auch auf Thanet und Sheppey in der Themsemündung, Oissel oder Jeufosse in der Seinemündung und Walcheren in der Scheldemündung belegt. Nicht von ungefähr findet sich das einzige bisher in Frankreich entdeckte wikingische Schiffsgrab, das 1906 entdeckte Brandgrab eines wikingischen Häuptlings, auf der Isle de Croix vor der Südküste der Bretagne.7 Solche Inseln im Mündungsdelta der großen westeuropäischen Flüsse bildeten wie die Flussinseln des Rheins und der Seine natürlich auch schon...

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