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Die Illusion der perfekten Kontrolle

AutorBernd Sprenger
VerlagKösel
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783641036638
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Alles im Griff?
Der Wunsch nach Orientierung und Kontrolle gehört zu den seelischen Grundbedürfnissen. Wer aber nur auf Kontrolle setzt, erreicht häufig das Gegenteil dessen, was er sich wünscht: Das Leben wird nicht sicherer, sondern angstbesetzter. Bernd Sprenger verfolgt diese Paradoxie an vielen Beispielen und zeigt eindrucksvoll, dass weniger Kontrolle zu mehr Sicherheit im Leben führen kann.

Dr. med. Bernd Sprenger, geb. 1954, ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und Facharzt für Allgemeinmedizin. Nach 15 Jahren als Chefarzt von psychosomatischen Kliniken hat er 2008 eine psychosomatisch/psychotherapeutische Privatpraxis in Berlin eröffnet. Außerdem ist er als Coach mit dem Schwerpunkt Burn-out-Prophylaxe und als Supervisor und Berater für Organisationsentwicklungen in Kliniken, Behörden und Firmen tätig. Umfangreiche Vortrags- und Seminartätigkeit.

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Leseprobe
»Alle, die es nun wirklich besser wissen als ich, haben es gesagt: Das ist eine ganz sichere Sache. Die Prüfungsinstitute (gemeint sind die Ratingagenturen, die große Unternehmen bewerten; B.S.) haben nur gute Noten für dieses Investment vergeben. Wissen Sie, ich war in Finanzdingen eigentlich nie eine Spielerin; ich habe immer nach dem Motto gehandelt: ordentlich arbeiten, gut leben, was zurücklegen - >Sparst du in der Zeit, dann hast du in der Not<, hat schon meine Oma immer gesagt. Und jetzt das.«

Die etwa 45-jährige Kollegin, die vor mir saß, war es als Ärztin gewohnt, viel zu arbeiten. Persönlich eher bescheiden, hatte sie sich bemüht, neben der Rentenversicherung eine Rücklage aufzubauen, um vielleicht ein bisschen eher mit ihrer Praxis aufhören zu können, falls sie das in 20 Jahren einmal wollte. Ein Finanzberater hatte ihr zu zweifelhaften Anlagen geraten, in die sie erhebliche Mittel investiert hatte - »redlich verdientes und versteuertes Geld«, wie sie ein ums andere Mal sagte. Im Herbst 2008, als die internationale Finanzkrise sich abzuzeichnen begann, musste sie erkennen, dass der weitaus größte Teil dieses Geldes verloren war. Sie war zu mir gekommen, weil sie in der Folge immer häufiger in depressiven Grübelschleifen gefangen war, unter zunehmender Schlaflosigkeit litt und das Gefühl hatte, nicht mehr aus eigener Kraft aus einer beginnenden Depression herauszukommen.
Am bemerkenswertesten für mich war bei dieser Kollegin, dass ihr die Tatsache des verlorenen Geldes weniger auszumachen schien als die Erfahrung, trotz aller Vorsicht und aller »Sicherheiten«, die sie sich hatte geben lassen, völlig machtlos zu sein gegenüber dem Verlust. Ich habe mir genauer schildern lassen, wie sie sich um »Sicherheit« bemüht hat. Sie hatte herkömmlichen Bankberatern von vornherein misstraut und sich auf einen Finanzmakler verlassen, der ihr von mehreren Bekannten als seriös und redlich empfohlen worden war. Dessen Ratschläge hatte sie versucht »gegenzuchecken«, durch eigene Recherchen im Internet, wobei sie viel Zeit investiert hatte, da sie sich mit der Materie nicht auskannte. Schließlich hatte sie fast ein Jahr nach dem ersten Kontakt zu ihrem Finanzberater verstreichen lassen, bis sie zum ersten Mal einen Vertrag zur Geldanlage unterschrieb. Dabei ist ein Detail wichtig, was uns noch beschäftigen wird: Letzten Endes schenkte die Frau einem Berater Vertrauen, weil der ihr von Menschen, denen sie vertrauen konnte, empfohlen worden war. Das Thema »Kontrolle« hat viel mit dem Thema »Beziehung« zu tun, wie wir noch sehen werden.
In der Lebensgeschichte dieser Frau waren die Fragen nach Sicherheit und Kontrolle immer wieder zentrale Themen gewesen. Sie war nicht eigentlich ängstlich, aber versuchte bei allem, ein möglichst hohes Maß an Kontrolle ausüben zu können, bevor sie etwas unternahm, einen Entschluss fasste oder eine Entscheidung in die Tat umsetzte. Das Thema der Erfahrung der Machtlosigkeit bei gleichzeitig hohem Kontrollbedürfnis ist dann auch das zentrale Thema in der Therapie geworden.

Kontrollwünsche als Basisbedürfnis

Der Wunsch nach Kontrolle der eigenen Lebensumstände ist ein psychologisches Basisbedürfnis: Ich möchte, so weit das irgendwie möglich ist, sozusagen der Autor meiner eigenen Lebensgeschichte sein. Wie bei allen psychologischen Variablen ist auch hier die Spannbreite dessen, was der oder die Einzelne braucht, um sich wohlzufühlen, individuell sehr verschieden. Es gibt Menschen, die mit einem hohen Grad an Unsicherheit gut zurechtkommen, und es gibt andere, die schon bei der kleinsten Unwägbarkeit ängstlich reagieren und sich unwohl fühlen. Wird der Wunsch nach Kontrolle der einzige und das Leben dominierende Impuls, droht eine krankhafte Entwicklung. Dann kann es zu einer Angststörung oder einer Zwangskrankheit kommen. Bei den Angststörungen kommt es zu ständigen Ängsten, die nicht mehr der äußeren Lebenswirklichkeit angemessen sind und die Betroffenen erheblich im alltäglichen Lebensvollzug behindern können. Zwangskrankheiten sind dadurch gekennzeichnet, dass der Wunsch nach Kontrolle zu einem inneren Zwang geworden ist, der den Betroffenen im Griff hat - diese Patienten verlieren die Freiheit, über die Ausführung einer bestimmten Kontrollhandlung zu entscheiden (zum Beispiel bei Verlassen des Hauses zu überprüfen, ob die Tür geschlossen ist). Ein Zwangskranker muss solche Kontrollhandlungen zwanghaft zigmal wiederholen, ohne dass das Ergebnis der Kontrollhandlung dazu führt, beruhigt seiner Wege gehen zu können. Wird der Patient daran gehindert, seine Zwangshandlungen auszuführen, reagiert er in der Regel mit massiver Angst. Folgerichtig gehören in den diagnostischen Systemen der psychischen Erkrankungen die Zwangskrankheiten und die Angststörungen auch zusammen.
Es geht mir in diesem Buch aber nur am Rande um die krankhaften Extreme des Wunsches nach Kontrolle, sondern eher um das alltägliche Dilemma: Einerseits wäre möglichst viel Kontrolle gut und wünschenswert, andererseits mache ich die Erfahrung, dass ich in vielen Bereichen, die mich unmittelbar betreffen, sehr wenig wirkliche Kontrolle ausüben kann. Dazu kommt, dass zu viel Kontrolle tatsächlich das Leben behindert - und damit kontraproduktiv wird; wir werden das an vielen Beispielen sehen. Das fängt bei der eigenen Körperlichkeit an: Für viele Leute ist es sehr verblüffend, wenn sie sich einmal wirklich vor Augen führen, dass der Organismus im Wesentlichen funktioniert, ohne dass wir uns groß einmischen müssten. Das ist auch biologisch sinnvoll: Stellen Sie sich vor, Sie müssten all die Abläufe in Ihnen, die gleichzeitig vonstattengehen, während Sie diesen Text lesen, bewusst und aktiv steuern. Vom Herzschlag über den Blutdruck und die Atmung zur Spannung der Muskulatur und dem Zusammenwirken der einzelnen Organe, ganz zu schweigen der einzelnen Zellen - wenn Sie das alles bewusst steuern müssten, kämen Sie nicht mehr zum Lesen oder gar zum Verstehen dieses Textes. Und ich habe jetzt nur physiologische Abläufe aufgezählt - wenn man die psychologischen noch dazu nimmt, wird es noch ein bisschen komplizierter.
Es steht uns nur ein schmales »Fenster des Bewusstseins« zur Verfügung, das uns gewahr werden lässt, wie es in uns aussieht. Man schätzt, dass nur fünf Prozent dessen, was im Organismus geschieht, uns wirklich bewusst wird. Fünf Prozent! Der Rest, also 95 Prozent, bleibt unbewusst. Das heißt aber nicht, dass diese 95 Prozent unwichtig sind - im Gegenteil, sie bestimmen unser Erleben und Verhalten sehr deutlich mit. Das ist der Grund, warum Menschen Dinge tun, die sie selbst eigentlich nicht wollen, wenn sie bewusst nachdenken.
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