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E-Book

Die Jungenkatastrophe

Das überforderte Geschlecht

AutorFrank Beuster
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783644400511
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Das schwache starke Geschlecht - ein längst überfälliges Buch: Jahrzehntelang galten Mädchen als das schwächere Geschlecht, die Jungen als stark - jetzt haben sich die Verhältnisse umgekehrt. Pädagogen und Eltern sorgen sich um die Männer von morgen. Forscher haben angefangen, die Jungenkatastrophe auszurufen, denn zunehmend leiden Jungen und junge Männer an verschiedenen Defiziten und sind in vielen Gesellschaftsbereichen schwer verunsichert. Das Buch analysiert die Situation und entwirft Perspektiven, unentbehrlich für Eltern, Erzieher, Lehrer und alle, die sich mit dem Wandel von Geschlechterrollen und Identitäten auseinander setzen.

Frank Beuster ist Lehrer und Universitätsdozent mit dem Schwerpunkt Jungenerziehung.

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Leseprobe

Erziehung zur Mündigkeit


Der Verlust der Sprachkompetenz macht «un-mündig», er gefährdet die Fähigkeit zu demokratischem Handeln. Der Austausch über eigene Gedanken und die Suche nach Lösungen im Konfliktfall verläuft nicht mehr konstruktiv, sondern destruktiv, gewalttätig. Jungen sprechen zu lehren, heißt auch Jungen demokratiefähig zu machen.

Die Mitgestaltung in einer humanitären demokratischen Gesellschaft wird bereits in der Schule eingeübt. Die Schule ist Spiegelbild der Gesellschaft, dort wird den Kindern und Jugendlichen im gemeinsamen Miteinander das abverlangt und beigebracht, was sie als spätere mündige Demokraten für ein friedvolles, ziviles Miteinander benötigen. Die Vermittlung von demokratischen Werten, eine gewaltfreie Konfliktkultur, bei der es um den Austausch guter und nicht schlagender Argumente geht, ums Ringen um die beste Lösung für das Wohlergehen der Gemeinschaft, ist ein unbedingtes Ziel unserer Gesellschaftsform. Maßgeblich für den Erfolg dieses Ziels ist das gelebte Vorbild aller Personen, die im Leben von Jugendlichen Bedeutung haben.

Die Schule ist gefordert, sich der Situation einer wachsenden Zahl von überforderten Jungen bewusst zu werden und darauf angemessen zu reagieren. Die Schule muss ihre Hausaufgaben machen, sie kann nicht mehr mit herkömmlichen, unwirksamen Methoden versuchen, immer größere Probleme lösen zu wollen.

Wenn Jungen nicht mehr dahin kommen, wo sie hinsollen, dann müssen sie da abgeholt werden, wo sie sind. Damit sie weiter vorankommen als bisher, muss nicht nur die Schule, aber sie im Besonderen, dringend auf die Probleme von Jungen eingehen. Denn dass Schule es besser machen kann, das zeigen die Ergebnisse von PISA am Beispiel der skandinavischen Länder sehr eindrücklich. Dort erreichen bis zu 85 Prozent (Finnland) der Jungen eines Jahrgangs den Zugang zum Hochschulstudium, bei gleichem Verhältnis der Geschlechter, in Deutschland ist es gerade einmal ein Drittel eines Jahrgangs (in Bayern nur 33,1 %)!

Die Jungenkatastrophe im Bildungsbereich scheint ein besonderes deutsches Phänomen zu sein. Das deutsche Bildungssystem hat Jahre ungenutzt vergehen lassen, und so wundert es nicht, dass die Ergebnisse bei Tests desaströs ausfallen. Sehr zum Leidwesen der betroffenen Schüler und Schülerinnen. Sehr zum Schaden der Jungen.

Da es heutzutage bisweilen normal zu sein scheint, dass aus dem Recht auf Bildung, ein Zwang zum Lernen, eine Art psychische Vergewaltigung geworden ist, verwundert es nicht, dass die entscheidende Eigeninitiative im Bildungserwerb der nachwachsenden Generation nicht stattfindet. Aus einem Privileg scheint eine Bürde geworden zu sein.

Die natürliche Neugier des Kindes, der Wunsch nach Weltverständnis und eigenem Wachstum ist der frühen Resignation, dem Boykott des Lernens und einer übersteigerten Anspruchshaltung an die Allgemeinheit gewichen. Während die Mädchen in dem derzeitigen Bildungssystem zunehmend Erfolge erleben, wird an den Jungen deutlich, dass es nicht ausreichend gelingt, sie im Laufe ihrer schulischen Sozialisation vom Sinn des Lernens zu überzeugen. Sie erleben nicht, dass Lernen eine Lust sein kann, und wenn es dennoch zur Last wird, dann doch zu einer, die durchaus noch erträglich ist. Leisten wollen und leisten können gehört für viele Jungen nicht mehr zu ihrem Schulleben dazu. Eine Gesellschaft, die nur darauf bedacht ist, eine Schule zu betreiben, die vor allem zur Leistung erzieht und schwache aussondert, berücksichtigt nicht, dass die Verlierer sie teuer zu stehen kommen. Bis zu 25 000 € pro Monat kostet in Einzelfällen die Intensivbetreuung von zumeist männlichen Jugendlichen in einer geschlossenen Jugendeinrichtung in Hamburg. Welche Folgen sich für einen großen Teil der Jungen aus den gravierenden Defiziten der Gesellschaft und ihrer institutionellen Erscheinungsformen wie Schule, Medien und Arbeitswelt ergeben, lässt sich gegenwärtig in deutlicher Weise am Leben vieler Jungen ablesen.

Jungen fordern uns, sie fordern uns heraus. Sie fordern die Schule heraus, und sie brauchen eine Schule, die für sie geeignet ist. Arbeit mit Jungen in der Schule kann eine interessante, befriedigende und vor allem auch eine Freude bereitende Herausforderung sein! Doch dafür muss es notwendige Veränderungen geben und Menschen, die dafür geeignet sind.

Immer häufiger können Schule, Elternhaus und Öffentlichkeit Jungen nicht das geben, was sie brauchen, um eine positive Entwicklung machen zu können. Anhand des Interviews mit dem 14-jährigen Florian möchte ich ein Beispiel dafür geben, was ein Junge über sich und seine verfahrene Situation denkt und wie auf seine Schwierigkeiten reagiert wurde.

 

Interview mit Florian

Frank: Seid ihr mehr Jungen oder mehr Mädchen in eurem Internat?

Florian: Viel mehr Jungen!

Frank: Hast du eine Idee, warum mehr Jungen im Internat sind?

Florian: Weil sie schwieriger sind als Mädchen. Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll. Die machen mehr Mist. Die Jungs, die zu mir ins Internat kommen, sind schwierig.

Frank: Was machen die denn so?

Florian: Rauchen, trinken, malen das Internat an, brechen Fenster auf und steigen aus.

Frank: Ist das nicht auch schwierig für die Jungen, wenn neue kommen und Mist machen, dann nicht mitzumachen? Lernen die Jungen nicht sogar die schlimmen Sachen voneinander?

Florian: Nein, die Jungs, die schon länger da sind, beherrschen sich und machen dann auch nicht mit.

Frank: Was kann man im Internat lernen, wofür ist es gut?

Florian: Man bekommt Taschengeld und muss damit klarkommen. Keine Kleidung, aber Dinge für die Freizeit und was man so will. Man lernt mit Geld auszukommen. Auch wenn man mal wieder zu Hause ist und niemand da ist.

Frank: Was noch?

Florian: Man wird selbständiger. Man kann das Kochen ein bisschen lernen. Wir haben Kochen und andere AGs mit unseren Erziehern.

Frank: Wie war das damals während deiner Grundschulzeit, als du noch bei deiner Mutter gelebt hast?

Florian: In meiner Grundschulzeit war ich unkonzentriert und habe auch Angst vor meiner Mutter gehabt. Das war Druck. Den hat man so nicht im Internat. Es gab viel Stress mit Lehrern. Ich konnte mich mit den Entscheidungen der Erwachsenen nicht abfinden, weil ich keine Lust hatte auf die Schule. Dann hab ich auch nicht mitgemacht und mich geweigert.

Frank: Wie kam das, dass du keine Lust zur Schule hattest?

Florian: Das frühe Aufstehen, das Abgehetze. Ich konnte morgens nicht aufstehen, weil ich viel Schlaf brauch und zu spät ins Bett gegangen bin. Ich mochte immer gern fernsehen und habe bis spät gekuckt.

Frank: Hattest du schon einen eigenen Fernseher?

Florian: Ja, ich hatte schon einen Fernseher, von Opa gekriegt.

Frank: Wie alt warst du, als du ihn bekommen hast?

Florian: Ich war so 7 Jahre alt. Wenn es kein gutes Programm mehr gab oder es mich nicht mehr interessiert hat, hab ich auch ausgemacht und dann Gameboy gespielt.

Frank: Hat deine Mutter dir das nicht verboten?

Florian: Wenn meine Mutter es mir verbieten wollte, habe ich rumgequengelt und sie so überredet. Weil sie so abgespannt war und keine Lust mehr darauf hatte, mit mir zu diskutieren.

Frank: Wie lief denn so das morgendliche Aufstehen ab?

Florian: Wecken um 7.30 Uhr. 20 Minuten bin ich dann aber immer noch im Bett geblieben. Um 5 Minuten vor 8.00 Uhr bin ich dann immer los zur Schule. Ziemlich knapp immer.

Frank: Hattest du denn da schon etwas gegessen?

Florian: Nein, morgens kann ich nie was essen.

Frank: Hattest du denn Brote mit zur Schule?

Florian: Nein, Brote hatte ich nie mit. Ich konnte mir zu trinken kaufen.

Frank: Warst du denn noch müde in der Schule?

Florian: Ja, in der Klasse habe ich immer auf dem Tisch weitergeschlafen.

Frank: Wie haben denn deine Lehrer darauf reagiert?

Florian: Die Lehrer haben mich eigentlich immer nur gestört. Ich wollte meine Ruhe haben. Ich hab dann gesagt: «Ich hab keinen Bock auf Schule, lass mich schlafen!»

Frank: Hast du denn dabei überhaupt etwas lernen können?

Florian: Lesen und schreiben habe ich eigentlich im Schlaf gelernt. Hausaufgaben habe ich fast gar nicht gemacht.

Frank: Gab es sonst irgendwelche Probleme in der Schule?

Florian: Ja, in der Pause haben sie mich immer «Schlafmütze» gerufen. Da bin ich dann aufgewacht und hab mich gewehrt. Ich hab dann so geschubst und sie angeschrien. Dann hab ich aber wieder weitergeschlafen. Wenn ich dann aber mal wach war, dann hab ich Fußball gespielt.

Frank: Wie ging das dann nach der Grundschule weiter?

Florian: Auch in der 5. Klasse wollte ich noch nicht lernen. Da war ein Sozialpädagoge (Einschub des Autors: Florian war in einer Integrationsklasse), der hat mich immer angemacht. Hat mich genervt. «Wenn das deine Mutter wüsste!», hat er gesagt. Dann bin ich immer voll abgegangen und hab ihn angeschrien.

Frank: Was hat dich da so angemacht?

Florian: Ich will nicht, dass er mit meiner Mutter redet. Das geht ihn gar nichts an. Ich wollte nicht, dass meine Mutter etwas davon erfährt. Sie sollte denken, dass ich gut mitmache. Damit ich dann auch keinen Ärger bekomme mit ihr. Ich will keinen Ärger mit meiner Mama, weil sie die wichtigste Person für mich ist und ich keinen Ärger mit ihr will.

Frank: Wie kam es dann zur Entscheidung, ins Internat zu gehen?

Florian: Meine Mama hat mir vorgeschlagen, dass ich ins Internat gehen könnte. Wir haben es uns...

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