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Die körperliche und seelische Beeinträchtigung von Kindern durch Misshandlung und Vernachlässigung

Ursachen, Folgen, Präventions- und Interventionsmaßnahmen

AutorNadja Rueth
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2007
Seitenanzahl164 Seiten
ISBN9783638585637
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis27,99 EUR
Diplomarbeit aus dem Jahr 2006 im Fachbereich Soziale Arbeit / Sozialarbeit, Note: 2,0, Otto-Friedrich-Universität Bamberg, 164 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Die Misshandlung und Vernachlässigung von Kindern ist keine neu aufkommende Erscheinung. Sie lässt sich einige Jahre bzw. gar Jahrzehnte zurückverfolgen. Sicherlich wird jeder von uns diesbezüglich Geschichten aus vergangenen Zeiten kennen, in denen die Großeltern in der Schule mit dem Rohrstock 'erzogen' wurden und zur Strafe unwürdigen Verhaltens auf dem spitzen Holzscheit knien mussten. Dieser Tatbestand wurde von ihren Eltern akzeptiert, da sie sich derartiger Erziehungsmaßnahmen auch selbst zuhause bedienten. Nicht nur seitens der Eltern, sondern auch seitens der Gesellschaft waren gewaltnahe Erziehungs- und Züchtigungsmethoden anerkannt. Man kannte es schließlich nicht anders und hielt es für normal. Disziplin und Gehorsam hatten seinerzeit oberste Priorität in Bezug auf die Erziehungsziele, welche mit Züchtigungsmaßnahmen erreicht werden sollten. Davon abgesehen gab es nicht mehr viel Spielraum für eine liebevolle Erziehung. In emotionaler Hinsicht wurden die Kinder extrem vernachlässigt. Dieses Erziehungsverständis hat sich in unserer heutigen Zeit geändert. Nun stehen andere Erziehungsziele an erster Stelle, und ebenso wird dem Kind eine andere Bedeutung beigemessen. Im Jahre 2000 verabschiedete der Deutsche Bundestag § 1631 BGB. An der Stelle, an der vorher das 'elterliche Züchtigungsrecht' rechtlich verankert war, steht nun mit in Kraft treten des § 1631 BGB fest, dass 'Kinder gewaltfrei zu erziehen sind. Zudem sind körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Erziehungsmaßnahmen unzulässig'. Demnach werden dem Kind Rechte zugesprochen, welche es vorher nicht innehatte. Trotzdem scheint diese Tatsache einigen Eltern noch nicht bekannt zu sein. Denn trotz des neuen, in Bezug auf die Kinder sensibilisierten Erziehungsverständnisses berichten die Medien immer wieder schreckliche Tatsachen von Kindern, die fast verhungerten, von den eigenen Eltern körperlich gepeinigt und verstümmelt wurden oder tagelang ohne Essen und Toilettenmöglichkeiten eingesperrt wurden. Gerade durch solche Nachrichten und Bilder in den Medien ist die Kindesmisshandlung im Vergleich zu früher neu erschienen bzw. überhaupt erst ans Tageslicht gelangt. Denn beginnend mit der stärkeren Anerkennung und gesetzlichen Festlegung der Rechte und Interessen der Kinder, hat das Phänomen der Kindesmisshandlung und -vernachlässigung eine Aktualisierung erfahren.

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Leseprobe

2.2.1. Soziale und ökonomische Faktoren


In den meisten früheren Untersuchungen, etwa von 1960 bis Ende 1980, sind sich die Experten auf dem Gebiet der Kindesmisshandlung überwiegend einig, dass Kindesmisshandlung in allen ethnischen und sozialen Gesellschaftsschichten vorkommt und nicht nur in sozialen Randgruppen. Erst Sozialarbeiter stellten fest, dass ein Zusammenhang zwischen Misshandlung und schwacher finanzieller und ökonomischer Situation besteht (vgl. Thyen 1986, S. 52). Die wichtigsten sozialen und ökonomischen Faktoren, die eine Misshandlung begünstigen und auslösen können, sind neben Armut unerwünschte Schwangerschaften, sehr junge Eltern, soziale Isolation, niedriges Intelligenz-und Bildungsniveau, schlechte Wohnverhältnisse oder Arbeitslosigkeit. Falls solche ungünstigen Verhältnisse gegeben waren, lag es den meisten Autoren nahe anzunehmen, dass Kindesvernachlässigung bis hin zur Misshandlung zwangsläufig stattfinden musste. Obwohl diese Behauptungen über die aufgeführten Einflussfaktoren umstritten sind, „bleiben sie zweifellos wichtige Indikatoren zur Beschreibung des mißhandlungsbegünstigenden Milieus“ (Stöhr 1990, S. 31). Es herrscht allerdings nie eine 100prozentige Übereinstimmung. Denn diese letzt genannte These wird von einigen Wissenschaftlern kritisch beäugt, da ihrer Meinung nach deren Zuverlässigkeit eingeschränkt wird, weil die meisten Untersuchungsergebnisse auf rückblickende Daten beruhen. Mende und Kirsch untersuchten 1968 die Statuskriterien Beruf, Einkommen und Bildung im Zusammenhang mit Kindesmisshandlung. Unter den betroffenen untersuchten Menschen fanden sich überwiegend ungelernte Arbeiter oder Hilfsarbeiter. Es fehlten Beamte und Angestellte und Leute mit gelernten Berufen waren unterrepräsentiert (vgl. Zenz 1979, S. 186). Ebenso konnten sie in weiteren Untersuchungen feststellen, dass sich die Tendenz eher in Richtung geringere Schulbildung der Eltern bewegt (vgl. ebd.). Im Hinblick auf finanzielle Mittel konnten Mende und Kirsch belegen, dass zu ihrer Zeit etwa 70 bis 80 Prozent der misshandelnden Familien sehr schwach gestellt waren. Damalige fürsorgliche Berichte enthielten „immer wieder Hinweise auf ungenügende kaum ausreichende Geldmittel“ (Mende/Kirsch zit. n. Biermann 1969, S. 46), weshalb einige Familien finanzielle Unterstützung erhalten mussten. Anhand solcher Untersuchungen kann allerdings nicht bewiesen werden, „daß die Inzidenz in niederen sozialen Schichten höher sei als in der Gesamtpopulation, da die Gruppe der mißhandelnden Eltern bestimmter Selektionsmechanismen ausgesetzt ist“ (Thyen 1986, S. 53). Unterschichtfamilien sind den Ämtern eher bekannt und sind einer stärkeren Kontrolle ausge-

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setzt. Sie kommen häufiger in Kontakt mit Behörden, da sie Anträge auf Unterstützung stellen müssen. Damit lässt sich die Überrepräsentation der sozialen Randgruppen erklä- ren. Besserbemittelte Familien haben dahingegen keinen Grund Sozialbehörden aufzusuchen und können Misshandlungen besser verbergen. Zudem kommen sie gar nur schwer in den Verdacht ihre Kinder zu misshandeln, „da sie entfernt von Nachbarn in Einfamilienhäusern residieren und durch ihre soziale Stellung über den Verdacht erhaben seien“ (ebd.).

Diese Untersuchungen reichen zwar schon weit in die Vergangenheit zurück, sind aber dennoch nicht veraltet. Auch heute noch wird der Unterschicht ein erhöhtes Risiko der Kindesmisshandlung zugeschrieben, denn finanzielle Not und Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung „erwiesen sich in verschiedenen prospektiven Studien als signifikante Prädikatoren von Misshandlung und Vernachlässigung“ (Bender/Lösel 2005, S. 330). Gerade in unserer heutigen Zeit gibt es viele Familien, die finanziell eher schlecht dastehen. Grund dafür ist oft Arbeitslosigkeit eines Partners - in den meisten Fällen des Vaters. In der Regel ist der Vater für das Familieneinkommen zuständig, während die Mutter die Kinder versorgt. Wenn allerdings das einzige Einkommen fehlt, so wird es für die Familie knapp mit dem Kindergeld und der dann zustehenden Sozialhilfe oder dem Arbeitslosengeld auszukommen. Eltern, die sich in einer solchen Lage befinden, fühlen sich dann bereits mit der eigenen Versorgung überfordert. Sind noch Kinder und Kleinkinder vorhanden, fühlen sich die Eltern in dem Maße überfordert, dass sie frustriert werden und daraufhin oft mit Aggressionen und Gewalt auf ihre Kinder reagieren. Einige Autoren halten ausdrücklich fest, „Arbeitslosigkeit sei keine Ursache (wohl aber ein signifikanter Faktor) für Mißhandlung, denn man könne nicht erwarten, daß Miß- handlungen verschwänden, wenn etwa Vollbeschäftigung einträfe“ (Amelang/Krüger 1989, S. 77).

Der Zustand der Arbeitslosigkeit zieht nicht nur die finanzielle Belastung mit sich, sondern wirkt sich auch auf die Psyche der Eltern aus. Die Arbeitslosigkeit und die damit einhergehende finanzielle Not belasten besonders die Väter und deren Selbstwertgefühl. Der Vater fühlt sich nutzlos und kompensiert seinen Ärger und Frust mit Gewalt an seinen Kindern. Die Kinder nehmen sozusagen die Sündenbockrolle ein. Denn „Stress geht mit einer Erhöhung des inneren Erregungsniveaus einher, was die weitere Stress- und Frustrationstoleranz sowie die Impulskontrolle reduzieren kann“ (Bender/Lösel 2005,

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S. 330). Weiterhin ist der Vater die meiste Zeit zuhause, wodurch sich zeitlich betrach- genügend Möglichkeiten ergeben Misshandlungen zu begehen. Die finanzielle Not zieht noch weitere Faktoren nach sich, die eine Misshandlung begünstigen können. Durch Armut ist es den Familien nur beschränkt möglich angemessene Wohnverhältnisse zu schaffen. Außerdem geht mit der Verarmung meist auch soziale Isolation einher. Natürlich ist in der Bundesrepublik keiner mehr von absoluter Armut betroffen, d. h. keiner muss mehr Hunger leiden oder gar am Hungertod sterben. Aber es gibt sehr wohl die relative Armut bei der es eher um das soziale Elend geht. Laut einem Zitat von Thyen 1972 heißt es: „Armut nimmt dort, wo sie nicht mehr physischen Hunger bedeutet, monströse, entwürdigende Züge an: inmitten des Güterwohlstands schwindet die letzte Chance, sich mit dem schlechteren ökonomischen Schicksal abzufinden. War früher die Zugehörigkeit des einzelnen zur besseren Gesellschaft eine Bedingung dafür, ob sie am Konsum teilnehmen konnten oder nicht, so entscheidet heute das Maß, in dem der einzelne heute am Konsum teilnimmt, darüber, ob er sich zur Gesellschaft rechnen darf oder nicht. Materielle Armut bedeutet erzwungene Desintegration“ (Brückner zit. n. Thyen 1986, S. 62).

Ist man selbst arm, lebt man wohl auch in einer eher armen Wohngegend. Eine depri- und arme Nachbarschaft, in der Gewalt nicht fern liegt, kann ein weiteres Risiko für Kindesmisshandlung darstellen, da „[..] sich das Ausmaß an Gewalt in Familien generell [erhöht]“ (Bender/Lösel 2005, S. 330). Nach Mende und Kirsch wohnten die Familien vielfach in Barackensiedlungen oder Neubausiedlungen mit sozial schwachen Familien, aus denen auch die meisten Misshandlungsfälle kämen (vgl. Zenz 1979, S. 187). Abgesehen von der Gegend und der Nachbarschaft spielen sich die Probleme auch in den eigenen vier Wänden ab. Oft ist die Wohnung viel zu klein für die Familien. Die Kinder haben nicht einmal ein eigenes Zimmer und die ganze Familie lebt auf einem sehr engen Raum zusammen. Weder die Kinder noch die Eltern können sich bei so wenig Freiraum entfalten oder sich bei Bedarf aus dem Weg gehen. Wenn es dem Kind an Eigenraum innerhalb der Wohnung fehlt, „dann kollidiert es ununterbrochen mit der Mutter und mit anderen Erwachsenen bei deren Tätigkeit“ (Mitscherlich zit. n. Biermann 1969, S. 88). Natürlich wird in solchen Situationen die Toleranzgrenze auf Seiten der Eltern stark strapaziert, da sie selbst keinen Eigenraum für sich finden und sie das somit gegenüber den raumgreifenden Kindern noch aggressiver macht. Bessergestellte Familien leben in der Regel in großzügigeren Wohnungen, so dass diese Problematik vermieden werden kann.

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Wie bereits angedeutet liegt bei derartigen Wohnverhältnissen und sozialer Randstän- die soziale Isolation nicht fern. Als einer von vielen auslösenden Faktoren für Gewalt in Familien ist oft erkennbar, „dass diese Familien oder Elternteile in sozialer Isolation leben und wenig verlässliche, unterstützende Verbindungen zur Herkunftsfamilie, Verwandtschaft und Nachbarschaft haben“ (Kramer 2000, S. 123). Als mögliche Erklärung hierfür kann man den Charakter der Eltern heranziehen. Das Verhalten von sozial isolierten und misshandelnden Eltern ist gegenüber ihren eigenen Eltern und dermaßen ablehnend, so dass sie häufig auch keinen Kontakt zu Verwandtschaft pflegen. Dadurch bleibt ihnen der emotionale und finanzielle Rückhalt von der eigenen Familie verwährt.

Sozial isolierte Menschen leben zurückgezogen und lösen ihre Probleme für sich allein. Hilfe von anderen anzunehmen lehnen sie grundsätzlich ab und schotten sich mehr und mehr von der Umwelt ab. In den meisten Fällen nehmen diese Familien ihr Umfeld als negativ wahr, was die „Wahrscheinlichkeit [reduziert], dieses um Hilfe zu bitten“ (Bender/Lösel 2005, S. 331).

In der Regel sind misshandelnde Eltern weniger belastbar als „normale“. Allerdings wä- re es falsch zu glauben, dass ausschließlich Unterschichtfamilien...

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