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Die Kontrolle von Intransparenz

AutorNiklas Luhmann
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl149 Seiten
ISBN9783518754528
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Die hier versammelten Texte aus Niklas Luhmanns letzter Schaffensphase stellen sein Theorievermächtnis dar. Sie kulminieren im titelgebenden Aufsatz über die Kontrolle von Intransparenz. Luhmanns Interesse gilt jener Eigenart sozialer Systeme, die sie dazu befähigt, mit Wissen ebenso wie mit Nichtwissen umzugehen. Die Fragestellung könnte aktueller nicht sein: Sie beschreibt eine soziale Intelligenz, die sich sowohl von psychischer Intelligenz als auch von künstlicher Intelligenz unterscheidet. Wird damit eine Schwelle markiert, die von der künstlichen Intelligenz nicht überschritten wird? Oder finden die Computer andere Wege, sich an der Kommunikation zu beteiligen?

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<p>Niklas Luhmann wurde am 8. Dezember 1927 als Sohn eines Brauereibesitzers in Lüneburg geboren und starb am 6. November 1998 in Oerlinghausen bei Bielefeld. Im Alter von 17 Jahren wurde er als Luftwaffenhelfer eingezogen und war 1945 in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Von 1946 bis 1949 studierte er Rechtswissenschaften in Freiburg und absolvierte seine Referendarausbildung. 1952 begann er mit dem Aufbau seiner berühmten Zettelkästen. Von 1954 bis1962 war er Verwaltungsbeamter in Lüneburg, zunächst am Oberverwaltungsgericht Lüneburg, danach als Landtagsreferent im niedersächsischen Kultusministerium. 1960 heiratete er Ursula von Walter. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor. Seine Ehefrau verstarb 1977. Luhmann erhielt 1960/1961 ein Fortbildungs-Stipendium für die Harvard-Universität. Dort kam er in Kontakt mit Talcott Parsons und dessen strukturfunktionaler Systemtheorie. 1964 veröffentlichte er sein erstes Buch <em>Funktionen und Folgen formaler Organisation.</em> 1965 wird Luhmann von Helmut Schelsky als Abteilungsleiter an die Sozialforschungsstelle Dortmund geholt. 1966 wurden <em>Funktionen und Folgen formaler Organisation</em> sowie <em>Recht und Automation in der öffentlichen Verwaltung</em> als Dissertation und Habilitation an der Universität Münster angenommen. Von 1968 bis 1993 lehrte er als Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld. 1997 erschien sein Hauptwerk, das Resultat dreißigjähriger Forschung: <em>Die Gesellschaft der Gesellschaft</em>.</p>

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Leseprobe

9Erkenntnis als Konstruktion


I.


Es ist eine alte Kommunikationstechnik für unbeweisbare oder schwer beweisbare Behauptungen: die Behauptung kommunikativ zu verstärken. So findet man in der Endphase der lateinischen Rhetorik von der Tugend zu wahrer Tugend, so verlangt man von der Politik heute echte Reformen. So findet man in Läden heute naturreine Früchte angeboten. Und die letzte Mode in der Erkenntnistheorie heißt »radikaler Konstruktivismus«. Je mehr solche Verstärker hinzugesetzt werden, um so mehr sind Zweifel angebracht. Je mehr der Konstruktivismus sich im Unterschied zu anderen Erkenntnistheorien als »radikal« behauptet, desto mehr kann man deshalb zweifeln, ob nun diese Theorie (erstmals) das Problem der Erkenntnis gelöst hat, und sogar: ob sie wenigstens ihre Hausaufgaben ordentlich gemacht hat. Wer sich an das erinnert, was Kant (mit Bezug auf Descartes) »problematischen Idealismus« genannt hat,[1] wird nicht so leicht erkennen, was denn der radikale Konstruktivismus an prinzipiell Neuem zu sagen hat.

Man versteht, wie es zu der Selbstbezeichnung als radikal kommt; denn in der Tat gibt es schwächliche, unentschlossene Ja/Aber-Ausgaben von Konstruktivismus. Man nimmt alle Argumente, die in diese Richtung zu führen scheinen, zur Kenntnis, sagt dann aber, ganz so hart sollte man sich nicht ausdrücken, ausschließlich konstruktiv könne die Erkenntnis nicht verstanden werden, denn schließlich müsse doch irgendeine Beziehung zur Realität vorausgesetzt werden können.[2] Bekanntlich hatte schon Kant in die zweite Auflage der »Kritik der reinen Vernunft« einen entsprechenden Rückzieher eingefügt, der die in der transzendentalen Ästhetik erreichte Position wenn nicht aufgibt, so doch auf unklare Weise wieder abschwächt.[3] Rückzieher dieser Art sind jedoch we10nig überzeugend, sind nur Symptome für eine unzureichend erfaßte Problematik. Man könnte daraufhin die Akten schließen. Wenn die Erkenntnistheorie keine Problemlösungen anbieten kann, hat sie auch keine Probleme mehr. Sie kann sich dann für glücklich erklären oder sich mit empirischen Forschungen beschäftigen. Die Frage ist, ob der Sachstand diesen Rückzug erzwingt.

Wenn man darauf achtet, wie das Problem der Erkenntnistheorie formuliert ist, kann man in der Tat eine Radikalisierung erkennen. In der Tradition des erkenntnistheoretischen Idealismus ging es um die Frage der Einheit in der Differenz von Erkenntnis und Realgegenstand. Die Frage lautete: wie kann die Erkenntnis einen Gegenstand außerhalb ihrer selbst feststellen? Oder: wie kann sie feststellen, daß etwas unabhängig von ihr existiert, wo doch alles, was immer sie feststellt, schon Erkenntnisleistungen voraussetzt und gar nicht unabhängig von Erkenntnis (das wäre ein Selbstwiderspruch) durch Erkenntnis feststellbar ist? Ob man nun transzendentaltheoretische oder dialektische Problemlösungen bevorzugte, das Problem lautete: wie ist Erkenntnis möglich, obwohl sie keinen von ihr unabhängigen Zugang zur Realität außer ihr hat. Der Radikale Konstruktivismus beginnt dagegen mit der empirischen Feststellung: Erkenntnis ist nur möglich, weil sie keinen Zugang zur Realität außer ihr hat. Ein Gehirn beispielsweise kann nur Information erzeugen, weil es umweltindifferent codiert ist, d. h. im rekursiven Netzwerk der eigenen Operationen eingeschlossen operiert.[4] Ebenso müßte man sagen: Kommunikationssysteme (soziale Systeme) können nur deshalb Informationen erzeugen, weil die Umwelt nicht dazwischenredet. Und nach alldem dürfte sich dasselbe auch für den klassischen »Sitz« (Subjekt) der Erkenntnistheorie von selbst verstehen: für das Bewußtsein.

Offenbar sehen die radikalen Konstruktivisten diesen Schritt von »obwohl unmöglich« zu »weil unmöglich« als eine befreiende Radikalisierung, mit der man zweitausend Jahre unnütze Reflexion abhängen kann.[5] An der Bedeutung dieses Schrittes von »obwohl« 11zu »weil« will man nicht zweifeln, ebenso wenig wie an der Notwendigkeit der Neufundierung der Erkenntnistheorie. Man möchte aber genauer wissen, was wir mit diesem Schritt von »obwohl« zu »weil« gewinnen; und hier stehen wir erst am Anfang einer nur in vagen Umrissen absehbaren Entwicklung.

Einen Neuheitseffekt könnte der Konstruktivismus erzielen, wenn er der Frage nachginge, wie Abkopplung (mit anderen Worten: Indifferenz, Schließung usw.) möglich ist. Die Subjekttheorie der Erkenntnis hatte es nie zu dieser Frage gebracht, weil sie immer mit der paradoxen Forderung zu ringen hatte, durch Introspektion herauszubekommen, wie andere sich zur Welt verhalten.[6] Sie konnte konzedieren, daß es keinen direkten Zugang zum Erleben anderer Subjekte gibt; aber zumindest sollte durch Rückgang auf das Faktum des eigenen Bewußtseins herauszubekommen sein, nach welchen Prinzipien sich im anderen die Gegenstände der Welt ordnen. Die Subjekttheorie mußte dabei eine gemeinsame, zumindest eine gemeinsam beobachtbare Welt voraussetzen und war dadurch gehindert, die Abkopplung je eines erkennenden Systems als Bedingung der Erkenntnis zu denken. Aber auch der Übergang zu einer Objekttheorie der Erkenntnis hilft nicht (mag er das erkennende Objekt nun physikalisch, biologisch, psychologisch oder soziologisch beschreiben). Er gelingt nicht, weil die Reduktion der Beschreibung auf Vorgänge des beschriebenen Objekts wiederum das Problem der Abkopplung[7] überspringt. Wir schlagen daher vor, die Unterscheidung von »Subjekt« und »Objekt« zu ersetzen durch die Unterscheidung von »System« und »Umwelt«. Diese Unterscheidung bleibt bei klassischen Problemstellungen insofern, als sie von einer Differenz ausgeht und deren eine Seite in die andere wiedereintreten läßt. Sie überholt klassische Problemstellungen, weil sie 12sowohl die Subjekttheorie als auch die Objekttheorie revidiert. Sie kann die Frage nach der Abkopplung durch Schließung als Frage nach der Ausdifferenzierung von Systemen stellen, und sie kann die Prämisse einer gemeinsamen Welt ersetzen durch eine Theorie der Beobachtung beobachtender Systeme (second order cybernetics).

II.


Wir gehen davon aus, daß alle erkennenden Systeme reale Systeme in einer realen Umwelt sind, mit anderen Worten: daß es sie gibt. Das ist naiv, so wird oft eingewandt.[8] Aber wie anders als naiv soll man anfangen?[9] Eine Reflexion des Anfangs kann nicht vor dem Anfang durchgeführt werden, sondern erst mit Hilfe einer Theorie, die bereits hinreichende Komplexität aufgebaut hat.[10]

Die Frage, wie Systeme in einer Umwelt Erkenntnis zustande bringen, kann dann reformuliert werden in die Frage, wie Systeme sich von ihrer Umwelt abkoppeln können, oder mit Heinz von Foerster: wie Schließung durch Einschließung möglich ist. Diese Frage auch nur zu stellen heißt: sehr scharfe Beschränkungen, also hochselektive Bedingungen eines solchen Vorgangs zu vermuten. Die Selbstisolierung eines erkennenden Systems – einer Zelle, eines Immunsystems, eines Gehirns, eines Bewußtseins, eines Kommunikationssystems – führt gerade nicht in die Beliebigkeit der dadurch ermöglichten Operationen. Das Gegenteil trifft zu. Jeder Beobachter eines sich zur Erkenntnis abschließenden Systems kann scharfe Beschränkungen des daraufhin Möglichen erkennen. Überhaupt gibt es in der Realwelt keine Beliebigkeit. Die Unterstellung von Willkür heißt vielmehr immer: beobachte das System, dem Du Willkür ansinnst; und dann wirst Du sehen, daß Deine Vermutung nicht zutrifft. Belieben ist, so gesehen, also nichts anderes als ein Begriff für die Weisung: beobachte den Beobachter.

13Denn: wie ist Schließung möglich? Doch nur dadurch, daß ein System eigene Operationen produziert und im Netzwerk ihrer rekursiven Vor- und...

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