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E-Book

Die Kostbarkeit des Augenblicks

Was der Tod für das Leben lehrt

AutorMargrit Irgang
VerlagKreuz
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl176 Seiten
ISBN9783451806421
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Warum haben wir so viel Angst, uns dem Tod zu stellen? Der Hauptgrund ist, dass wir die Vergänglichkeit ignorieren. Doch wer sich ihr stellt, für den bekommt die Gegenwart ein ganz neues Gewicht. Alles ist kostbar, nichts verdient, nachlässig behandelt zu werden. Dieser Morgen, dieser Vogelruf, diese Regentropfen am Fenster, diese Sonnenstrahlen - das Leben ist wertvoll, Stunde um Stunde. Das lehrt uns der Tod.

Margrit Irgang, mehrfach preisgekrönte Schriftstellerin (Staatl. Bayrischer Förderpreis für Literatur, Münchner Literaturjahr, Marburger Förderpreis), praktiziert seit 1984 Zen. Sie ist Mitglied der 'Intersein'-Gemeinschaft von Thich Nhat Hanh und lebt in der Nähe von Freiburg. Sie gibt Seminare zu den Themen Achtsamkeit und schreibt Features für den SWR.

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Leseprobe

1.
 
»Es gibt für jeden Tag zwei Pläne – meinen und den des Geheimnisses.«
Sprichwort der Inuit


12. Januar. Die Nachricht


Es ist ein gewöhnlicher Wintertag. Ein wenig grau, aber nicht düster. Ich öffne das Fenster und schnuppere. Schnee liegt in der Luft. Ich überlege, wie ich diese Ahnung von Schnee, diese ganz bestimmte Luftqualität beschreiben würde. Mir fällt nur ein englisches Wort dafür ein: crisp. Scharf? Frisch? Knusprig? Das wohl kaum. Ich freue mich auf den Schnee und denke beiläufig, ich würde meinen Bruder fragen, ob er eine Luft, die crisp ist, dort unten im tropischen Georgia nicht vermisst. Immerhin hat er ein paar Jahre in der Schweiz gelebt, da wird er wissen, was ich meine. Aber gleich höre ich ihn lachen (sein tiefes glucksendes Lachen, ich höre es ganz deutlich) und weiß, er vermisst dort unten gar nichts, denn er ist so verfroren wie ich, seine Schwester, und seinen Wohnort hat er bewusst gewählt.

Ich habe den ganzen Vormittag an meinem Buchmanuskript gearbeitet und überlege, was ich mir zu Mittag koche. Es passt zu diesem ereignislosen Tag, dass mir nur das Übliche einfällt: Reis mit Gemüse. Aber bevor ich mich an den Herd stelle, will ich noch rasch meine E-Mails abrufen.

Über dem Schwarzwald färbt sich der Himmel dunkler. Wahrscheinlich schneit es dort oben schon. Vielleicht sollte ich heute Nachmittag in den Baumarkt fahren und eine neue Schneeschaufel besorgen; unsere alte ist mit Flügelmuttern notdürftig geflickt und das Blatt wackelt beim Schaufeln. Auf dem Rechner läuft der Virenscanner, das E-Mail-Programm braucht deshalb eine Weile, bis es sich öffnet. Im Posteingang eine Rechnung, zwei Newsletters und eine Mail meiner Schwägerin in Georgia mit dem Betreff »News«.

Dear family and friends, beginnt die Mail, die nur 3 Zeilen lang ist. Also ein Rundschreiben, das ist ungewöhnlich bei uns. Was schreibt sie da? Bei Ted habe man a primary liver tumor festgestellt, eine Operation sei nicht möglich, sie werde uns auf dem Laufenden halten, I will keep you posted.

Ich kann nicht genügend Englisch, ich verstehe das hier falsch. Ganz bestimmt verstehe ich das falsch, denn es kann nicht sein, dass mein Bruder, zwei Jahre jünger als ich, einen Tumor hat. Der nicht operiert werden kann. Und was überhaupt ist ein primary tumor? Ich schlage das Wörterbuch auf und sehe, dass ich das ganz richtig verstanden habe.

Mein Bruder hat Krebs.

Es gibt diese Momente unheimlicher Stille, bevor ein Gewitter losbricht. Die Welt scheint den Atem anzuhalten, kein Luftzug bewegt die Blätter, die Vögel sind verstummt. In solch einer Stille sitze ich am Schreibtisch. Mein Bruder hat Krebs …

Der Sturm bricht los in Form von hektischer Aktivität. Ich google »primäres Leber-Karzinom« und erfahre, dass dies ein besonders aggressiver Krebs sei: »In 80 % der Fälle können Leberkarzinome zum Zeitpunkt der Diagnose nicht mehr operiert werden«, sagt die Seite der Krebshilfe. »Falls der Leberkrebs aufgrund seiner Ausdehnung nicht vollständig durch eine Operation entfernt werden kann, zielt die Therapie nicht mehr auf eine Heilung ab.« Ich rufe einen Freund an, der Arzt ist. Er will gerade zum Essen gehen und ruft eilig in den Hörer, ja, eine sehr schlechte Prognose, in der Tat! Ein halbes Jahr geschätzte verbleibende Lebenszeit, würde er sagen. Um wen es ginge? Oh, das täte ihm leid.

Langsam lege ich den Hörer auf. Draußen beginnt es zu schneien. Große, flaumig weiche Flocken, wenige zuerst, die langsam niedersinken, dann immer mehr. Die Welt ist auf einmal so still, eingewickelt in dicke Flocken.

In Atlanta am Telefon nur das Band mit der Stimme meiner Schwägerin: Hello, please leave a message.

Ein gewöhnlicher, stiller Arbeitstag. Alltägliche Behaglichkeit. Das Leben ist in Ordnung, wie beruhigend. Du fühlst dich sorglos, fast schon von unsichtbaren Mächten beschützt, und dann, genau dann, geschieht etwas. Manchmal ist dies etwas eher Geringfügiges: die Lieblingstasse zerbricht, ein Brief geht verloren, der Plan fürs Wochenende wird durch äußere Umstände vereitelt. Kleine alltägliche Unannehmlichkeiten, die jeder kennt.

Ich sehe es inzwischen anders. Diese kleinen Verluste und Veränderungen sind viel wichtiger, als sie erscheinen: In ihnen hat der Tod eine Botschaft geschickt.

Die meisten Menschen sehen im Zerbrechen eines Stücks Geschirr eher nicht den Tod. Nun gut, sagen sie, Dinge gehen kaputt, wieder andere Dinge gehen verloren, Menschen ziehen weg und verschwinden aus unserem Kreis. Verluste und Veränderungen, sagen sie, gehören eben zum Leben.

Ja, weil der Tod zum Leben gehört.

Fast alle Menschen, die ich kenne, haben den Tod in Gedanken an das Ende ihres Lebens verbannt und ihr Ende liegt natürlich in weiter Ferne. So weit, dass sie den Tod, der dort angeblich geduldig auf sie wartet, gar nicht sehen können. Das Denken an den Tod halten sie grundsätzlich für morbide. Es ist ein sicherer Weg in die Depression, meinen sie, und deshalb stehen depressive Menschen in unserer Gesellschaft im Verdacht, ihr Leiden selbst verschuldet zu haben: Wahrscheinlich haben sie sich in Gedanken ständig mit dem Tod beschäftigt. In unserer Gesellschaft hat man leistungsfähig und tatkräftig zu sein, kreativ und motiviert, belastbar, begeistert, gesund, energiegeladen und erfolgreich.

Kein Ort für den Tod, nirgends.

Aber eines Tages, nach vielen alltäglichen Verlusten, schickt der Tod eine große Botschaft. Die Firma geht in Konkurs, der Arbeitsplatz wird wegrationalisiert, der Partner will die Scheidung, das Kind erkrankt schwer. Und in den tatkräftigen, belastbaren, energiegeladenen und erfolgreichen Menschen bricht das Chaos aus. Wenn sie jetzt einen Moment innehalten, erkennen sie vielleicht, dass sie mit all dem Lärm, den sie veranstaltet haben, und ihrem Voranstürmen die ganze Zeit nur ihre Angst überdeckt haben. Die Angst vor dem Tod.

Dann wird es sehr mühsam sein, diese Menschen davon zu überzeugen, dass an dieser Angst nichts falsch oder verwerflich ist, dass sie sich nicht dafür schämen müssen und dass diese Angst sie nicht umbringen wird, im Gegenteil: Sie könnte der Beginn eines neuen Lebens sein, eines Lebens, das sich seiner Endlichkeit in aller Klarheit bewusst ist.

Rainer Maria Rilke, in dessen Gedichten der Tod immer anwesend ist, schrieb:

»Der Tod ist groß.

Wir sind die Seinen

lachenden Munds.

Wenn wir uns mitten im Leben meinen,

wagt er zu weinen

mitten in uns.«

13. Januar. Nachtwache


Es ist kalt in der Wohnung, die Heizung läuft auf Nachtschaltung. Ich sitze im Bademantel auf dem Sofa und denke, ganz ruhig und vernünftig: Ich werde ihn verlieren. Und das, bevor ich ihn überhaupt richtig kennengelernt habe. Wir haben uns erst vor dreieinhalb Jahren gefunden, mein kleiner Bruder und ich; wir sind doch mit dem Kennenlernen erst am Anfang.

An einem sonnigen Herbsttag in Stuttgart, in einem italienischen Restaurant in einer stillen Seitenstraße, hat er sich über seinen Pastateller gebeugt und gesagt: »Jetzt wird alles gut.« Noch nie hatte jemand zu mir gesagt, dass alles gut wird. Es war immer ich, die das sagen musste, zu Menschen, deren Überzeugung es war, dass alles nur furchtbar enden kann.

An einem sonnigen Herbsttag vor dreieinhalb Jahren lag eine leuchtende Zukunft vor uns, als Bruder und Schwester. Jetzt glaube auch ich, dass es nicht gut enden wird.

Diese Stille nachts um drei. Kein Auto fährt, kein Hund bellt, nirgendwo rauscht die Wasserleitung. Draußen ist die Welt in Eis und Kälte erstarrt. Ich halte Nachtwache. Die Nachtwache ist ja ein Dienst an der Gemeinschaft: Damit alle anderen ruhig schlafen können, muss einer da sein, der wacht. Falls ein Feuer ausbricht, das Dach einstürzt, ein Dieb einsteigt, jemand plötzlich aufwacht und vor Schmerz und Entsetzen nicht mehr denken und sprechen kann. Dann muss jemand da sein, der aufmerksam und schnell ist und weiß, wie man Hilfe leistet.

Ich habe eine große Gemeinschaft zu bewachen: meine eigenen Gedanken und Gefühle. Weil meine Gedanken und Gefühle in Windeseile eine Zeitreise machen, wenn das Leben mir einen Verlust ankündigt. Sie werden dann nämlich fünf Jahre alt und Fünfjährige müssen tief und behütet schlafen dürfen. Das ist ihr Recht als Kinder, das steht ihnen zu.

In einer Nacht wie dieser also sitze ich im Geist ganz schnell auf einem anderen Sofa; der Bezug ist dünn gerieben, die Spiralfedern quietschen, das Ding gehört eigentlich auf den Sperrmüll, aber von dort haben wir es ja vor ein paar Wochen nach Hause getragen und schätzen uns glücklich, jetzt ein Sofa zu haben. Wenn eine Fünfjährige auf einem Sofa sitzt, baumelt sie meistens mit den Beinen, aber diese Fünfjährige (ich sehe sie vor mir, sie hat lange dünne Zöpfe und trägt ein blau-rot kariertes Kleid) baumelt nicht (sie wirkt erstarrt auf mich, völlig reglos). Die Mutter hat schon ihren Mantel angezogen, greift jetzt nach dem Schlüssel, wendet sich noch einmal um und sagt etwas, was dieses Kind aus dem Geborgenheitsgefühl des Kindseins schleudert, und zwar für immer. Die Mutter sagt es kalt, öffnet die Tür, schließt sie hinter sich ab und geht. Das Kind wirft sich an die Tür, trommelt an das Holz (doch, jetzt schreit es, endlich!),...

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