Die Überschrift des dritten Kapitels bemächtigt sich, im Sinne der „räuberischen“ Attitüde der Cultural Studies, eines von David Buckingham formulierten Buchtitels. Ausgehend von den Ursprüngen der Cultural Studies in der Erwachsenenbildung wird dieser Ansatz sowohl in der allgemeinen als auch in der Kritischen Pädagogik verortet werden.
Besonders in ihrem Ursprung gingen die Cultural Studies von dezidiert pädagogischen Intuitionen aus, was sicherlich damit zusammenhängt, dass die drei Protagonisten der ex-plorativen Gründungsphase (siehe Kapitel 2.2.1) Hoggarts, Williams, Thompson und auch Hall allesamt aus der Erwachsenenbildung stammen. Ihr innerhalb der „Abendschulen“ vertretender Ansatz bestand darin, zusammen mit ihren größtenteils aus der „prole-tarischen Arbeiterschicht“ stammenden Klientinnen und Klienten, die praktische Relevanz und nicht die Spezialisierung von Wissen herauszuarbeiten.[87] In ihren Kursen ging es um eine kritische Analyse der eigenen „proletarischen Arbeiterkultur“, um den Fokus auf „sub-ordinierte, marginalisierte, unterdrückte und unkonventionelle Aspekte der gesellschaft-lichen Wirklichkeit“[88] und die Aufdeckung von diesen, die Wirklichkeit durchziehenden, machtpolitischen Diskursen zugunsten einer Selbstermächtigung der darin verhafteten Menschen. Dieser pädagogische Ansatz wurde mit in die anfängliche Arbeit des CCCS hinüber genommen, aber nicht weiter ausgebaut. Laut Rainer Winter wurden explizit pädagogische Fragestellungen nur oberflächlich behandelt,[89] auch wenn sich die Cultural Studies durch die Subkulturstudien und Populärkulturstudien in den 1960er/1970er Jahren beispielsweise dezidiert mit dem Phänomen der Jugend auseinandersetzten.
Henry Giroux, ein Vertreter der kritischen Pädagogik, umschreibt das wechselseitige Des-interesse folgendermaßen: „Educational theorist demonstrates as little interest in cultural studies as cultural studies scholars do in more recent theories of schooling and peda-gogy.“[90]
So kann „die Geschichte der Begegnung zwischen den Cultural Studies und der Päda-gogik“ abgesehen von dem Ansatz der kritischen Pädagogik (siehe Kapitel 3.3) grundlegend „als Geschichte einer verpassten Chance erzählt werden.“[91] Nach Sven Sauter liegt, auf den deutschsprachigen Raum bezogen, eine grundlegende Missrezeption zwischen den beiden Sphären vor, was sich deutlich in der wissenschaftlichen Literatur niederschlägt. Laut Paul Mecheril und Monika Wirtsch fehlt eine Auseinandersetzung, „die nach dem systematischen Wert der Cultural Studies für pädagogisches Deuten und Handeln fragt.“[92] Die einzige umfangreichere deutschsprachige Publikation zum Wechselspiel von Cultural Studies und Pädagogik stellt der 2006 herausgegebene Sammelband Cultural Studies und Pädagogik. Kritische Artikulationen dar, der als spannungsvolle Eröffnung und Fortschreibung des Nachdenkens über diesen Zusammenhang verstanden werden möchte.
Es ist anzumerken, dass der Cultural Studies-Ansatz auf Grund seiner britischen Herkunft und der ursprünglichen Nähe zur Literaturwissenschaft schon ausführlicher in der deutsch-sprachigen Fachdidaktik zum Unterrichtsfach Englisch[93] rezipiert wurde und Einzug in die Unterrichtspraxis erhalten hat. Im Bereich der Musikpädagogik können, abgesehen von indirekten Bezugnahmen im sich erstarkenden Bereich der transkulturellen Musikvermittlung,[94] keine eindeutigen Verbindungslinien ausfindig gemacht werden. Dieser Missstand müsste tiefergehend analysiert werden, was den Rahmen dieser am Meinungsbild von Schülerinnen und Schülern ausgerichteten Arbeit sprengen würde.
Hinsichtlich der oberflächlichen Darstellung der offensichtlich ausgesparten, gegenseitigen Rezeption von Cultural Studies und Pädagogik, ist an dieser Stelle noch nach den dahinterstehenden Gründen zu fragen: Sauter führt die gegenseitige Nichtbeachtung auf bedeutsamen Unterschiede innerhalb der struktur-theoretischer Ebene zurück, die sich einer Argumentation zugunsten der zuvor angeführten Wesensverwandtschaft entgegen stellen: Zum einen betrachten die Cultural Studies kulturelle Texte als pluralistisch, hybrid und wandelbar, wohingegen die Pädagogik an diesen vor allem die Eindeutigkeiten, Planbarkeiten und das singuläre Moment zu suchen scheint. Der Pädagogik liegt laut Sauter immer noch ein schwammiger und theoretisch unterkomplex konzeptionalisierter Kulturbegriff zu Grunde. Zum anderen betrachten die Cultural Studies den Kontext von Schule und Kultur auch in Hinblick auf gesellschaftspolitische Strukturen, was in den meisten pädagogischen Modellen, die scheinbar eine strikt entpolitisierte Sicht innehaben, nicht der Fall ist. Sauter vertritt in diesem Sinne die Meinung, dass das Lehrerfeld von gesellschaftspolitischen Implikationen und Verstrickungen in machtpolitische Diskurse „reingehalten“ werde.[95]
Patrick Steinwidder hat zur Verflechtung von Politik und Pädagogik anzumerken, dass die letztere immer politisch ist, „weil die Schule durch «unsichtbare Lehrpläne» bestimmte Machtstrukturen vermittelt, und weil es eigentlich die (höchst politische) Aufgabe der Schule sein sollte, die Lernenden mit Kompetenzen auszustatten, die es ihnen ermög-lichen, selbst zu regieren, und nicht nur regiert zu werden.“[96] Ein dezidiert politisch orientiertes, pädagogisches Konzept, welches die Perspektive der Cultural Studies assimiliert, stellt die Kritische Pädagogik dar, die sich vor allem im angloamerikanischen Raum etablieren konnte.
Die Kritische Pädagogik, als deren grundlegenden Schlüsselwerke Schooling as a Ritual Performance (1986) von Peter McLaren und die Publikation The Pedagogy of the Oppressed (1972) von Paolo Freire anzuführen sind, findet ihren Ausgangspunkt in den von Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron zu Beginn der 1980er Jahre durchgeführten Analysen des französischen Bildungssystems, welchem ein Mitwirken an der Reproduktion von sozialen Ungleichheiten attestiert wird.[97] Ausgehend von diesem empirischen Tatbestand und in Verbindung mit einer theoretischen Auseinandersetzung mit der kritischen Theorie der Frankfurter Schule, Foucaults Diskurstheorie und Ausformungen des westlichen Postmarxismus fokussiert die kritische Pädagogik „jegliche Form von Herrschaft in Bildungsprozessen und damit einhergehenden ideologischen Konstrukti-onen.“[98]
Dieser ideologiekritische Ansatz untersucht genauer, „wie sich in pädagogischen Theorien, Einrichtungen, Lehrplänen usw. unreflektierte gesellschaftliche Interessen ausdrücken.“[99] Die konkrete Unterrichtspraxis soll über die gemeinsame Dekonstruktion von Erfahrungen seitens der Lernenden als auch der Lehrenden Differenzen in kulturellen Codes und so-zialen Praktiken überwinden und somit emanzipatorische Transformation ermöglichen:[100] „Critical Pedagogy ist committed to the promotion of social justice and emancipatory.“[101]
In diesem Sinne möchte die Kritische Pädagogik die kritische Handlungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler ausbauen und „verpflichtet sich zu Formen des Lernens und Handelns, die in Solidarität mit subordinierten und marginaliserten Gruppen vollzogen werden.“ [102]
Wie schon erwähnt, handelt es sich bei der Kritischen Pädagogik um ein politisches Anliegen, das von der Utopie einer radikalen Demokratie getragen wird.[103]
Als „kritisch“ versteht sich diese Pädagogik, weil die „scheinbare Natürlichkeit“ von Bil-dungsprozessen permanent hinterfragt wird.[104] Zu diesem Punkt ist anzumerken, dass eine hoch-politisierte Pädagogik permanent neu um ihre Kritikfähigkeit ringen muss, denn: „Kritik ist nur dann kritisch, wenn sie konträre Interpretationen nicht von vornherein liquidiert und wenn ihr Sinn nicht historisch substantialisiert wird.“[105]
Vor einer Vertiefung der Kritischen Pädagogik durch die Darstellung der Ansätze von Henry Giroux und David Buckingham lässt sich festhalten, dass die Kritische Pädagogik auf Grund ihrer zuvor dargestellten theoretischen Bezugnahmen, des emanzipatorischen Ansatzes und der demokratischen Ausrichtung grundlegend mit der Perspektive der Cultural Studies verschwistert zu sein scheint.