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Die Kunst des Musizierens

Von den physiologischen und psychologischen Grundlagen zur Praxis

AutorEckart Altenmüller, Renate Klöppel
VerlagSchott Music
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl328 Seiten
ISBN9783795786502
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis18,99 EUR
Musizieren - wie geht das eigentlich? In welcher Weise sind Körper und Geist in der Lage, diese staunenswerte Leistung zu vollbringen? 'Die Kunst des Musizierens' erklärt nicht nur die dem Musizieren zugrunde liegenden Abläufe innerhalb von Gehirn, Nervensystem und Bewegungsapparat, sondern beschäftigt sich ebenso mit deren praktischer Anwendung: Auf Grundlage medizinischer Erkenntnisse erhalten Musiker Hinweise, wie sie unnötige Grenzen überwinden, Ängste abbauen und besser üben können. Gemeinsam mit dem renommierten Musikmediziner Prof. Eckart Altenmüller hat Renate Klöppel das Standardwerk jetzt auf den neuesten Stand der Forschung gebracht.

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Leseprobe

Einleitung: Musik und Medizin

Der Geist aber des Herrn wich von Saul, und ein böser Geist vom Herrn machte ihn sehr unruhig.

Wenn nun der Geist Gottes über Saul kam, so nahm David die Harfe und spielte mit seiner Hand; so erquickte sich Saul, und es ward besser mit ihm, und der böse Geist wich von ihm.

Altes Testament, 1. Samuel 16, Vers 14 und 231

Die uralte Verbindung Musik und Medizin, deren erste Zeugnisse bis ins vierte Jahrtausend vor Christus zurückreichen, scheint in unserer Zeit von Missverständnissen und gegenseitiger Entfremdung geprägt zu sein. Dies gilt im traditionsreichen Gebiet der Musiktherapie, wo Musiktherapeuten über Fremdbestimmung, Fehleinschätzung oder gar Missachtung seitens der Medizin klagen2, ebenso wie in der ärztlichen Praxis, wenn der Musiker einem Arzt gegenübersteht, den seine unzureichende Kenntnis der speziellen Probleme des Musikers zum hilflosen Helfer macht. Dies ist umso bedauerlicher, als die Medizin zunehmend über Wissen verfügt, das dem Musiker helfen könnte, Probleme an der Wurzel zu packen und Schwierigkeiten zu überwinden. Andererseits haben falsche Vorstellungen vieler Musiker über die Eigenschaften des Bewegungsapparates und die daraus folgenden schädlichen Übemethoden schon manche Musikerhand unwiderruflich geschädigt und ungenügendes Wissen über die Eigenschaften des Nervensystems hat zu unzähligen sinnlos geübten Stunden geführt.

Die Zahl derjenigen Musiker, die sich durch ihren Beruf gesundheitlich beeinträchtigt fühlen, ist sehr groß: Immerhin berichteten in der umfangreichsten Studie, an der sich 2212 von 4000 erfassten Musikern aus 48 Symphonie- und Opernorchestern beteiligten, 76 Prozent über ein schwerwiegendes medizinisches Problem, das sich auf die Berufsausübung auswirkte.3 Aber auch schon bei Musikstudenten findet man häufig Beeinträchtigungen: Nach Ergebnissen der Freiburger Arbeitsgruppe um Claudia Spahn nehmen 45 Prozent der Musikstudenten während des Studiums wegen eines gesundheitlichen Problems im Zusammenhang mit dem Musizieren professionelle Hilfe in Anspruch. 25 Prozent der Musikstudenten leiden bereits bei Eintritt in das Studium im Zusammenhang mit ihrem Spiel unter Beeinträchtigungen. Somit beginnen Musikstudenten ihr Studium signifikant häufiger mit körperlichen Beschwerden als Medizin- und Sportstudenten.4

Erst seit den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts spezialisieren sich zunehmend Ärzte auf die besonderen Erkrankungen von Musikern, auf die Überlastungen des Bewegungsapparates, die durch das ausdauernde Üben auftreten, auf Nervenschädigungen durch anhaltende einseitige Bewegungen, auf Koordinationsstörungen und die psychischen Probleme der Musiker. Mittlerweile finden Musikphysiologie und Musikermedizin auch an vielen Musikhochschulen eine zunehmende Beachtung.

Es ist bekannt, dass komplizierte und schnelle Bewegungsabläufe zu einem eingeübten Musikstück sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen offensichtlich am besten gelingen, wenn der Handelnde den Bewegungsablauf nicht überdenkt. Wozu soll es dann gut sein, über die Hintergründe dieser staunenswerten Fähigkeiten nachzudenken? Noch eine weitere Befürchtung ist verständlich: Was bleibt vom künstlerischen Anspruch, wenn von Bewegungsprogrammen, Regelkreisen und Steuerzentrale die Rede ist? Ist denn der menschliche Geist mit den Begriffen der Technik fassbar? Zweifellos nicht, zumindest (und vielleicht glücklicherweise) noch nicht. Aber andererseits: Ist es denn der Kunst abträglich, wenn man die Logik von Zahlenverhältnissen innerhalb der Intervalle oder in Melodiebildungen und die Gesetzmäßigkeiten in einem Musikstück erkennt? Oder verlieren die minimalen Zeitverschiebungen und dynamischen Abstufungen in der Musik dadurch ihren künstlerischen Wert, dass sie messbar geworden sind? Natürlich ebenfalls nicht.

Sowenig eine gute Technik und die Fähigkeit zu metronomisch exaktem Spiel dem künstlerischen Ausdruck schaden (sondern sogar notwendig sind), genauso wenig schaden die Kenntnisse über die körperlichen und psychischen Vorgänge und Gesetzmäßigkeiten, welche die Basis des Musizierens darstellen: Dieses rationale Durchdringen des Handwerklichen kann gerade der optimalen Nutzung der künstlerischen Vorstellung dienen.

Zwei Faktoren liegen jeglichem Instrumentalstudium zugrunde: Ein seelischer Faktor, der sich in Geschmack, Fantasie, Urteilskraft, Sinn für Nuance und Klang, mit einem Wort: im Stil äußert. – Ein physiologischer Faktor: Gewandtheit von Hand und Finger, absolute Beherrschung von Muskel und Nerv zwecks instrumentaler Anwendbarkeit.5

Virtuoses Musizieren stellt Anforderungen, die an die Grenzen der physiologischen Leistungsfähigkeit stoßen können. Beschränkungen, an denen sich auch die Komponisten zu orientieren haben, sind nicht nur durch den Bewegungsapparat gegeben, nämlich insbesondere durch die Proportionen des Skelettsystems, die Beweglichkeit der Gelenke, die Kraft und Schnelligkeit der Muskeln, sondern ebenso durch das Nervensystem, das diese Bewegungen planen, auslösen und kontrollieren muss.

Nur wenige Schüler und erfahrungsgemäß nur diejenigen, die früh mit dem Instrumentalspiel beginnen und eine besondere Begabung haben, können intuitiv und ohne die Anleitung eines guten Lehrers oder die Lektüre hilfreicher einschlägiger Literatur, allein durch gehörsmäßige Kontrolle und Beobachtung der eigenen Spielbewegungen und derer des Lehrers bis an die tatsächlichen Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit kommen. Viel häufiger werden angelegte Potenziale durch Unkenntnis der Ursachen von spieltechnischen Schwierigkeiten und das Fehlen sinnvoller Übemethoden nicht ausgeschöpft. Aber nur wer an sich selbst erfahren hat, wie ein intellektuelles Erfassen der spieltechnischen Zusammenhänge mit großen Schritten weiterbringt, wird mir hier ohne weiteres Recht geben, schreibt 1925 der Cellist und bedeutende Physiologe Wilhelm Trendelenburg.6

Warum sind die großen Künstler so häufig nicht die besten Lehrer, wenn sie mit Schülern konfrontiert werden, die Probleme mit der technischen Beherrschung ihres Instrumentes haben? Liegt es daran, dass sie selbst nie gezwungen waren, ihre eigenen Fertigkeiten zu reflektieren, sich also nicht in den Schüler einfühlen können, dem diese Selbstverständlichkeit fehlt? Selbst ein hochbegabter Musiker wie der zehnjährige Yehudi Menuhin musste diese Erfahrung machen, als er den hervorragenden Geiger Mishel Piastro, der später Konzertmeister bei den New Yorker Philharmonikern unter Toscanini wurde, fragte, wie er sein bewundernswertes staccato spiele: Da nahm er die Geige und ratterte einfach ein paar Takte sehr beeindruckend herunter. »Ich mache es einfach so«, sagte er. »Und so.« Die Demonstration geriet makellos, das war genau das Staccato, das ich suchte, aber die Erklärung ließ mich genauso ratlos wie zuvor. Er hatte mir nichts erklärt, einfach weil er es selbst nicht zu erklären wußte. Er war nicht in der Lage, die Mechanik von Muskeln und Bewegung zu untersuchen, die ihn zu seinem (oder auch zu meinem) Staccato befähigte. Und genau das wollte ich wissen.7 Entsprechend bemerkt Trendelenburg: Nun genügt es aber für einen guten Unterricht keineswegs, daß der Schüler hört und sieht, wie der Lehrer spieltwobei ihm nur die so schwere Aufgabe zufällt, es ebenso zu machen –, sondern der Lehrer muß im Stande sein, dem Schüler genau und in klaren Worten und in Erfassung des Wesentlichen anzugeben, was er falsch macht und wie er es anfangen soll, damit es besser wird. So kann kein Zweifel darüber sein, daß der Kunstlehrer den größten Vorteil davon hat, wenn er seine Kunst nicht nur kann, sondern auch versteht.8 Auch der konzertierende Musiker, der sich immer wieder an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeiten gebracht sieht, kann davon profitieren, dass er versteht, was er tut.

Manches »Wunderkind« stürzt auf der Schwelle zum Erwachsenenalter in eine tiefe Krise, auch deshalb, weil sich plötzlich die Frage nach dem »Wie mache ich das überhaupt?« stellt. Ihm geht es so wie dem Jüngling in Heinrich von Kleists Text Über das Marionettentheater: Kaum beobachtet dieser seine Bewegungen bewusst, schon kann er sie nicht mehr in gewohnter Weise wiederholen, und innerhalb kürzester Zeit verliert er alle Anmut und Natürlichkeit, die er in den vorausgegangenen Jahren seines Lebens besessen hatte. Den Gegensatz dazu bildet der erfolgreiche Tänzer in derselben Schrift: Er sucht und findet die Vollkommenheit seiner Bewegungen durch das Verständnis der zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeiten.9 Auch dem verunsicherten jungen Erwachsenen kann solches Wissen helfen, eine neue Basis des Verständnisses für die eigenen Fähigkeiten zu...

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