Sie sind hier
E-Book

Die Lage der arbeitenden Klasse in England

Nach eigner Anschauung und authentischen Quellen

AutorFriedrich Engels
VerlagHenricus - Edition Deutsche Klassik
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl301 Seiten
ISBN9783847812388
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis2,99 EUR
Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, 43 Bände, Band 2, Berlin: Dietz-Verlag, 1957. Entstanden Mitte November 1844 bis Mitte März 1845. Erstdruck: Leipzig (Otto Wiegand) 1845. Der Text folgt dem Erstdruck, aus dem auch die vorangestellte Inhaltsangabe stammt. In die Fußnoten wurden auch Engels Ergänzungen aus der zweiten durchgesehenen Ausgabe, Stuttgart 1892, übernommen.

Kaufen Sie hier:

Horizontale Tabs

Leseprobe

[Vorwort zur deutschen Ausgabe von 1892]

Das Buch, das hiemit dem deutschen Publikum aufs neue zugänglich gemacht wird, erschien zuerst im Sommer 1845. Im guten wie im schlechten trägt es den Stempel der Jugend des Verfassers. Damals hatte ich vierundzwanzig Jahre; heute bin ich dreimal so alt, und wie ich diese Jugendarbeit wieder durchlese, finde ich, daß ich mich ihrer keineswegs zu schämen brauche. Ich denke also nicht daran, diesen Stempel der Jugendarbeit irgendwie zu verwischen. Ich lege sie dem Leser unverändert wieder vor. Nur einige nicht ganz klare Stellen habe ich schärfer gefaßt und hier und da eine neue, mit der Jahreszahl (1892) bezeichnete, kurze Fußnote hinzugesetzt.

Von den Schicksalen dieses Buches erwähne ich nur, daß es 1885 in New York in englischer Übersetzung (von Frau Florence Kelley Wischnewetzky) erschien und daß diese Übersetzung 1892 in London bei Swan Sonnenschein & Co. neu aufgelegt wurde. Die Vorrede zur amerikanischen Ausgabe liegt der zur englischen, und diese wieder dem gegenwärtigen deutschen Vorwort zugrund. Die moderne große Industrie gleicht die ökonomischen Verhältnisse aller von ihr ergriffnen Länder in so riesigem Maße aus, daß ich dem deutschen Leser kaum etwas andres zu sagen habe als dem amerikanischen und englischen.

Der in diesem Buch beschriebne Stand der Dinge gehört heute – wenigstens was England angeht – größtenteils der Vergangenheit an. Obwohl nicht ausdrücklich in den anerkannten Lehrbüchern mit aufgezählt, ist es doch ein Gesetz der modernen politischen Ökonomie, daß, je mehr die kapitalistische Produktion sich ausbildet, desto weniger sie bestehn kann bei den kleinen Praktiken der Prellerei und Mogelei, die ihre früheren Stufen kennzeichnen. Die kleinlichen Schlaumeiereien des polnischen Juden, des Repräsentanten des europäischen Handels auf seiner niedrigsten Stufe, diese selben Pfiffe, die ihm in seiner eignen Heimat so vortreffliche Dienste leisten und dort allgemein angewandt werden, lassen ihn im Stich, sobald er nach Hamburg oder Berlin kommt. Desgleichen der Kommissionär, Jude oder Christ, der von Berlin oder Hamburg auf die Börse von Manchester kommt, fand wenigstens noch vor nicht zu langer Zeit dies eine aus: Wollte er Garn oder Gewebe wohlfeil kaufen, so mußte er vor allem sich jener, um ein geringes verfeinerten, aber immer noch jammervollen Manöver und Kniffe entledigen, die in seiner Heimat für die Spitze aller Geschäftsklugheit galten. Allerdings soll mit dem Fortschritt der großen Industrie auch in Deutschland sich manches geändert haben, und namentlich seit dem industriellen Jena von Philadelphia sogar der altdeutsche Biedermannsgrundsatz in Verruf kommen: Es kann den Leuten ja nur angenehm sein, wenn wir ihnen erst gute Muster schicken und nachher schlechte Ware! Und in der Tat, diese Kniffe und Pfiffe bezahlen sich nicht mehr in einem großen Markt, wo Zeit Geld ist und wo eine gewisse Höhe der kommerziellen Moralität sich entwickelt, nicht aus Tugendschwärmerei, sondern einfach, um Zeit und Mühe nicht nutzlos zu verlieren. Und genauso ist es in England gegangen im Verhältnis des Fabrikanten zu seinen Arbeitern.

Die Wiederbelebung des Geschäfts nach der Krisis von 1847 war der Anbruch einer neuen industriellen Epoche. Die Abschaffung der Korngesetze und die daraus notwendig sich ergebenden weiteren finanziellen Reformen schufen der Industrie und dem Handel Englands allen erwünschten Ellbogenraum. Gleich darauf kam die Entdeckung der kalifornischen und australischen Goldfelder. Die Kolonialmärkte entwickelten in steigendem Maß ihre Absorptionsfähigkeit für englische Industrieprodukte. Der mechanische Webstuhl von Lancashire schaffte ein für allemal Millionen indischer Handweber aus der Welt. China wurde mehr und mehr eröffnet. Vor allen andern aber entwickelte sich Amerika mit einer selbst für dies Land des Riesenfortschritts unerhörten Schnelligkeit; und Amerika, vergessen wir es nicht, war damals eben nur ein Kolonialmarkt, und zwar der größte von allen, d.h. ein Land, das Rohprodukte lieferte und Industrieprodukte von außen – hier von England – bezog.

Zu alledem kam aber noch, daß die neuen, am Schluß der vorigen Periode eingeführten Verkehrsmittel – Eisenbahnen und ozeanische Dampfschiffe – jetzt auf internationalem Maßstab verwirklicht wurden und damit das tatsächlich herstellten, was bisher nur der Anlage nach bestanden hatte: den Weltmarkt. Dieser Weltmarkt bestand damals noch aus einer Anzahl von hauptsächlich oder ausschließlich ackerbauenden Ländern, gruppiert um ein großes Industriezentrum: England. England verbrauchte den größten Teil ihrer überschüssigen Rohprodukte und versorgte sie dafür mit dem größten Teil ihres Bedarfs an Industrieerzeugnissen. Kein Wunder also, daß Englands industrieller Fortschritt kolossal und unerhört war, so sehr, daß der Stand von 1844 uns heute als vergleichsweise unbedeutend und fast waldursprünglich erscheint.

In demselben Grad aber, worin dieser Fortschritt sich darstellte, in demselben Grad wurde auch die große Industrie, dem äußeren Schein nach, moralisch. Die Konkurrenz von Fabrikant gegen Fabrikant, vermittelst kleiner Diebstähle an den Arbeitern, zahlte sich nicht mehr. Das Geschäft war solchen miserablen Mitteln des Geldverdienens entwachsen; der fabrizie rende Millionär hatte Beßres zu tun, als seine Zeit zu verlieren mit derlei kleinlichen Kniffen. So etwas war gut genug höchstens für kleine geldbedürftige Leute, die jeden Groschen aufschnappen mußten, wollten sie nicht der Konkurrenz erliegen. So verschwand das Trucksystem aus den Fabrikbezirken; die Zehnstundenbill und eine ganze Reihe kleinerer Reformen ging durch – alles Dinge, die dem Geist des Freihandels und der zügellosen Konkurrenz direkt ins Gesicht schlugen, die aber ebensosehr die Konkurrenz des Riesenkapitalisten gegen seine weniger begünstigten Geschäftskollegen noch überlegner machten.

Ferner. Je größer eine industrielle Anlage, je zahlreicher ihre Arbeiter, um so größer war der Schaden und der Geschäftsverdruß bei jedem Konflikt mit den Arbeitern. Daher kam mit der Zeit ein neuer Geist über die Fabrikanten, namentlich über die größten. Sie lernten unnötige Streitereien vermeiden, sich mit dem Bestand und der Macht der Trades Unions abfinden, und schließlich sogar in Strikes – wenn nur zur richtigen Zeit eingeleitet – ein wirksames Mittel entdecken zur Durchführung ihrer eignen Zwecke. So kam es, daß die größten Fabrikanten, früher die Heerführer im Kampf gegen die Arbeiterklasse, jetzt die ersten waren im Aufruf zu Frieden und Harmonie. Und aus sehr guten Gründen.

Alle diese Konzessionen an die Gerechtigkeit und Menschenliebe waren eben in Wirklichkeit nur Mittel, die Konzentration des Kapitals in den Händen weniger zu beschleunigen und die kleineren Konkurrenten zu erdrücken, die ohne solchen Extraverdienst nicht leben konnten. In den Händen dieser wenigen hatten die kleinen Nebenerpressungen früherer Jahre nicht nur alle Wichtigkeit verloren, sie waren jetzt dem Geschäft auf großem Fuß geradezu im Weg. Und so hat die Entwicklung der kapitalistischen Produktion allein hingereicht, wenigstens in den leitenden Industriezweigen – denn in den weniger wichtigen ist dies keineswegs der Fall – alle jene kleineren Beschwerden zu beseitigen, die in frühem Jahren das Los des Arbeiters verschlimmerten. Und so tritt mehr und mehr in den Vordergrund die große Haupttatsache, daß die Ursache des Elends der Arbeiterklasse zu suchen ist nicht in jenen kleinern Übelständen, sondern im kapitalistischen System selbst. Der Arbeiter verkauft dem Kapitalisten seine Arbeitskraft für eine gewisse tägliche Summe. Nach der Arbeit weniger Stunden hat er den Wert jener Summe reproduziert. Aber sein Arbeitsvertrag lautet dahin, daß er nun noch eine weitere Reihe von Stunden fortschanzen muß, um seinen Arbeitstag voll zu machen. Der Wert nun, den er in diesen zusätzlichen Stunden der Mehrarbeit produziert, ist Mehrwert, der dem Kapitalisten nichts kostet, trotzdem aber in seine Tasche fließt. Dies ist die Grundlage des Systems, das mehr und mehr die zivilisierte Gesellschaft spaltet, einerseits in einige wenige Rothschilde und Vanderbilts, die Eigner aller Produktions- und Unterhaltsmittel, und andererseits in eine ungeheure Menge von Lohnarbeitern, Eigner von nichts als ihrer Arbeitskraft. Und daß dies Ergebnis geschuldet ist nicht diesem oder jenem untergeordneten Beschwerdepunkt, sondern einzig dem System selbst – diese Tatsache ist durch die Entwicklung des Kapitalismus in England heute ins grellste Licht gestellt.

Ferner. Die wiederholten Heimsuchungen durch Cholera, Typhus, Pocken und andre Epidemien haben dem britischen Bourgeois die dringende Notwendigkeit eingetrichtert, seine Städte gesund zu machen, falls er nicht mit Familie diesen Seuchen zum Opfer fallen will. Demgemäß sind die in diesem Buch beschriebenen schreiendsten Mißstände heute beseitigt oder doch weniger auffällig gemacht. Die Kanalisation ist eingeführt oder verbessert, breite Straßenzüge sind quer durch viele der schlechtesten unter den »schlechten Vierteln« angelegt. »Klein-Irland« ist verschwunden, die »Seven Dials« kommen demnächst an die Reihe. Aber was heißt das? Ganze Bezirke, die ich 1844 noch als fast idyllisch schildern konnte, sind jetzt, mit dem Anwachsen der Städte, herabgefallen in denselben Stand des Verfalls, der Unwohnlichkeit, des Elends. Die Schweine und die Abfallhaufen duldet man freilich nicht mehr. Die Bourgeoisie hat weitere Fortschritte gemacht in der Kunst, das Unglück der Arbeiterklasse zu verbergen. Daß aber, was die Arbeiterwohnungen angeht, kein wesentlicher Fortschritt stattgefunden hat,...

Blick ins Buch

Weitere E-Books zum Thema: Philosophiegeschichte - Ethik

Konflikt

E-Book Konflikt
Format: PDF

Ziel des vorliegenden Bandes ist es, das Thema Konflikt umfassend und in seiner ganzen Breite aus der Perspektive unterschiedlicher Disziplinen zu behandeln. Wie gehen Primaten, Menschen wie Tiere,…

Konflikt

E-Book Konflikt
Format: PDF

Ziel des vorliegenden Bandes ist es, das Thema Konflikt umfassend und in seiner ganzen Breite aus der Perspektive unterschiedlicher Disziplinen zu behandeln. Wie gehen Primaten, Menschen wie Tiere,…

Konflikt

E-Book Konflikt
Format: PDF

Ziel des vorliegenden Bandes ist es, das Thema Konflikt umfassend und in seiner ganzen Breite aus der Perspektive unterschiedlicher Disziplinen zu behandeln. Wie gehen Primaten, Menschen wie Tiere,…

Konflikt

E-Book Konflikt
Format: PDF

Ziel des vorliegenden Bandes ist es, das Thema Konflikt umfassend und in seiner ganzen Breite aus der Perspektive unterschiedlicher Disziplinen zu behandeln. Wie gehen Primaten, Menschen wie Tiere,…

Katharsiskonzeptionen vor Aristoteles

E-Book Katharsiskonzeptionen vor Aristoteles
Zum kulturellen Hintergrund des Tragödiensatzes Format: PDF

Aristotle uses the concept of catharsis at various points in his writings – in his works on reproduction, on zoology, on physics, and on politics. In his Poetics, the concept is…

Katharsiskonzeptionen vor Aristoteles

E-Book Katharsiskonzeptionen vor Aristoteles
Zum kulturellen Hintergrund des Tragödiensatzes Format: PDF

Aristotle uses the concept of catharsis at various points in his writings – in his works on reproduction, on zoology, on physics, and on politics. In his Poetics, the concept is…

Der Begriff des Skeptizismus

E-Book Der Begriff des Skeptizismus
Seine systematischen Formen, die pyrrhonische Skepsis und Hegels Herausforderung - Quellen und Studien zur PhilosophieISSN 78 Format: PDF

Must we acknowledge scepticism as an uncontrollable threat to our claims to knowledge?  Using the differences of its systematic forms in theoretical and practical philosophy, the author makes…

Weitere Zeitschriften

AUTOCAD & Inventor Magazin

AUTOCAD & Inventor Magazin

FÜHREND - Das AUTOCAD & Inventor Magazin berichtet seinen Lesern seit 30 Jahren ausführlich über die Lösungsvielfalt der SoftwareLösungen des Herstellers Autodesk. Die Produkte gehören zu ...

bank und markt

bank und markt

Zeitschrift für Banking - die führende Fachzeitschrift für den Markt und Wettbewerb der Finanzdienstleister, erscheint seit 1972 monatlich. Leitthemen Absatz und Akquise im Multichannel ...

BONSAI ART

BONSAI ART

Auflagenstärkste deutschsprachige Bonsai-Zeitschrift, basierend auf den renommiertesten Bonsai-Zeitschriften Japans mit vielen Beiträgen europäischer Gestalter. Wertvolle Informationen für ...

Burgen und Schlösser

Burgen und Schlösser

aktuelle Berichte zum Thema Burgen, Schlösser, Wehrbauten, Forschungsergebnisse zur Bau- und Kunstgeschichte, Denkmalpflege und Denkmalschutz Seit ihrer Gründung 1899 gibt die Deutsche ...

Correo

Correo

 La Revista de Bayer CropScience para la Agricultura ModernaPflanzenschutzmagazin für den Landwirt, landwirtschaftlichen Berater, Händler und am Thema Interessierten mit umfassender ...

Die Versicherungspraxis

Die Versicherungspraxis

Behandlung versicherungsrelevanter Themen. Erfahren Sie mehr über den DVS. Der DVS Deutscher Versicherungs-Schutzverband e.V, Bonn, ist der Interessenvertreter der versicherungsnehmenden Wirtschaft. ...

e-commerce magazin

e-commerce magazin

PFLICHTLEKTÜRE – Seit zwei Jahrzehnten begleitet das e-commerce magazin das sich ständig ändernde Geschäftsfeld des Online- handels. Um den Durchblick zu behalten, teilen hier renommierte ...

IT-BUSINESS

IT-BUSINESS

IT-BUSINESS ist seit mehr als 25 Jahren die Fachzeitschrift für den IT-Markt Sie liefert 2-wöchentlich fundiert recherchierte Themen, praxisbezogene Fallstudien, aktuelle Hintergrundberichte aus ...

building & automation

building & automation

Das Fachmagazin building & automation bietet dem Elektrohandwerker und Elektroplaner eine umfassende Übersicht über alle Produktneuheiten aus der Gebäudeautomation, der Installationstechnik, dem ...