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E-Book

Die letzte Freiheit

Vom Recht, sein Ende selbst zu bestimmen

AutorGeorg Diez
VerlagBerlin Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl128 Seiten
ISBN9783827078551
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Der Tod gehört zum Leben. Wer fragt, wie wir sterben wollen, fragt auch, wie wir leben wollen: frei, selbstbestimmt und autonom? Oder so, wie andere es wollen: verwaltet und bevormundet von Ärzten, Krankenkassen, Angehörigen? Es tobt ein ideologischer Krieg um die Frage nach dem guten, dem richtigen Tod. Allein der Mensch, um den es geht, spielt dabei oft keine Rolle. Will er sich helfen lassen? Muss er sich helfen lassen? Und was ist, wenn er sein Ende selbst bestimmen will? Gibt es dafür einen respektvollen, einen würdevollen Weg? Georg Diez definiert den Freitod als Ausgangspunkt für eine Lebenspraxis, die bis zuletzt auf der Freiheit, selbst zu entscheiden besteht. Diese Freiheit ist von einem Staat bedroht, der gerade beim Sterben dem Einzelnen vorschreiben will, was er zu tun oder zu lassen hat. Aber weiß es der Staat denn besser, wie sterben geht? Gegen den Kontrollwahn unserer Gesellschaft setzt Georg Diez eine Philosophie der Autonomie. Sein Buch ist ein leidenschaftliches und provokantes Plädoyer für unsere letzte, größte Freiheit.

Georg Diez, geboren 1969 in München, studierte Geschichte und Philosophie in München, Paris, Hamburg und Berlin. Er schrieb für die »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung«, die »Zeit« und die »Süddeutsche Zeitung«. Heute ist er Autor beim »Spiegel« und Kolumnist von »Spiegel Online«. »Der Kritiker« ist eine der meistgelesenen Kolumnen der deutschsprachigen Presselandschaft. Er hat mit großem Erfolg über Berlin, die Beatles, die Rolling Stones und die Jahre 1980 und 1981 geschrieben. Sein Buch »Der Tod meiner Mutter« (2009) wurde heftig diskutiert und löste eine Debatte aus über die Frage, wie weit wir uns dem Sterben öffnen wollen. Georg Diez lebt mit seiner Familie in Berlin.

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Leseprobe

TAUSENDE
VON
KLEINEN
STERNEN

Max hatte mich ein paar Tage zuvor angerufen. Wir hatten eine Weile nicht miteinander gesprochen. Wir hatten uns etwas voneinander entfernt, obwohl er mir immer nah war. Ich weiß nicht, ob wir wirklich je enge Freunde waren, auch wenn wir uns das vielleicht gewünscht hätten. Aber wir hatten immer viel über Freundschaft gesprochen.

»Mir geht es schlecht«, hatte Max am Telefon gesagt, »mir geht es richtig schlecht.«

Er hatte das schon öfter gesagt, es war die Art von Offenbarung, die erfolgreiche Menschen ab und zu gern machen, so scheint es mir, auch weil sie den Schmerz und den Schock genießen, der diese Nachricht anrichtet: bei ihnen selbst und bei denen, die sie damit überraschen.

Denn Stärke war das, was Max ausmachte, Stärke und Selbstvertrauen und eine Souveränität, die manche nicht zu Unrecht für Arroganz hielten, was ihn nicht störte, sondern eher freute und antrieb; es war gut, von anderen nicht gemocht zu werden, das gab einem Sinn und Form in der Ablehnung.

Es war aber auch anstrengend auf Dauer. Vor allem, wenn man nicht so hart ist, wie die anderen denken. Wenn man hart ist, weil das eine Rolle ist, die man sich selbst gibt oder die einem andere geben. Man hält das eine Weile durch, dann bricht etwas, und man spürt ihn erst sehr viel später, diesen Riss, der durch einen hindurchgeht.

Etwas war anders dieses Mal. Er habe es lange nicht gemerkt, wie schlecht es ihm gehe, sagte Max, er habe verdrängt, wie abhängig er sei von den Tabletten, die er nehme, gegen seine Angst, zum Funktionieren, für den Job. Er habe oft geweint, auf dem Weg zur Arbeit, er habe sich Zeit gelassen auf dem Weg nach Hause, sehr viel Zeit, er halte den Druck nicht mehr aus, den die Firma auf ihn ausübe, er müsse sparen in seiner Abteilung, er müsse umgestalten, er müsse den Hass der Leute ertragen, die er entlässt, und wolle das Vertrauen derer nicht enttäuschen, die von ihm abhängen.

Es seien nur seine Kinder, sagte er schließlich, die ihn im Leben gehalten hätten.

Wenn wir gehen, fällt etwas ab von uns, es bleibt etwas zurück, das sich mit jeder Bewegung weiter entfernt, das Alte, das Vertraute, die Trauer, und wir kommen an, im Neuen, im Moment, mit jedem Schritt.

Es ist eine Reduktion in der Weite, es ist der Rhythmus, eine Ordnung, eine Bestimmung. Der Atem, der Körper, die ungewohnte Bewegung, eine Konzentration darauf, wie sich dieser Körper durch eine Landschaft bewegt, die etwas auslöst, eine Klarheit, weil es eine alte Art ist, sich zu bewegen, zu Fuß, mit einem Plan: Wie kommen wir von hier nach dort?

Das ist das Wesen der Karte. Sie reduziert die Möglichkeiten, indem sie alles zeigt. Sie schafft eine Ordnung, die artifiziell ist, weil es nicht die Ordnung des Alltags ist, es ist nicht die Routine der Handgriffe und Gedanken, es ist die Frage danach, wo die richtige Abzweigung ist und was hinter der nächsten Kurve kommt. Mehr gibt es nicht in diesem Moment, das ist alles, was zählt. Von A nach B. Der Rest löst sich auf, eins, zwei, eins, zwei, linker Fuß, rechter Fuß, der stete Atem. Die Welt fällt weg, indem sie entsteht. Wir sind hier, das ist der einzige Sinn in diesem Augenblick, das ist die einzige Realität. Der Atem geht ruhiger, die Gedanken gewinnen Weite.

Vor uns öffnete sich der Blick auf einen Berg, der wie vergessen in der Landschaft stand. »Stendhal«, hatte Max am Morgen vor der Wanderung gesagt, »ist diesen Weg auch einmal gegangen, vor ziemlich genau 200 Jahren.«

200 Jahre. Die Zeit fließt durch einen hindurch, auf so einem Weg, die Zeit, die man braucht, die Zeit, die andere brauchten, die Zeit, die alles ausmacht. Auch die Zeit löst sich auf, indem sie entsteht. Je kürzer die Momente, desto länger dauern sie. Minute um Minute, Schritt für Schritt. Max mochte das, Max verstand das, die herrliche Reduktion.

Es schien ihm zu helfen. Etwas öffnete sich. Er, der immer so viele Ideen hatte, der alles las und vieles wusste, sprach davon, dass er keinen Sinn mehr sehe, dass er nicht wisse, warum er das alles noch dreißig oder vierzig Jahre machen solle, »das ist doch Scheiße, ich kann nicht mehr, ich weiß nichts«, sagte er, der so vieles kann, und die Landschaft nahm auch diesen Kummer gelassen hin.

»Die Liebe«, schrieb Stendhal in »De l’Amour« für die Frau, die er immer lieben sollte, obwohl er sie nicht haben konnte, »ist wie die Milchstraße, ein heller Strahl, der aus Tausenden von kleinen Sternen besteht, von denen jeder einzelne oft wie ein kleiner Nebel ist.«

Aber wenn man das nicht mehr sieht, die einzelnen Sterne, dann sieht man auch die Milchstraße nicht mehr. Dann sieht man nur noch den Nebel. Dann sieht man nichts. Erst kommt der Weltverlust, dann kommt der Ichverlust.

»Mein Leben gähnt mich an wie ein großer weißer Bogen Papier, den ich vollschreiben soll«, schreibt Georg Büchner in »Leonce und Lena«, »aber ich bringe keinen Buchstaben heraus. Mein Kopf ist ein leerer Tanzsaal, einige verwelkte Rosen und zerknitterte Bänder auf dem Boden, geborstene Violinen in der Ecke, die letzten Tänzer haben die Masken abgenommen und sehen mit todmüden Augen einander an.«

Es ist, als habe Büchner diesen Text für Max geschrieben, jedenfalls für den Max, der nicht mehr wollte, weil er alles gesehen hatte, der sich leer fühlte und wertlos, der nicht mehr wusste, wo vorne war und wo hinten, und der seinen Sinn für Zeit, Orientierung, Ordnung verloren hatte.

Max ist Ende dreißig. Er hat kleine Kinder, er ist verheiratet. Seine Geschichte ist in vielem eine ganz normale Geschichte. Es ist die Geschichte einer Überforderung, wie sie heute, so oder so ähnlich, dauernd vorkommt: Ein guter Vater, eine gute Karriere, eine gute Ehe, Freunde, Reisen, das richtige Sakko, das richtige Auto, ein Haus bauen, eine Wohnung kaufen, die Finanzierung selbst finden, die Flüge selbst buchen, sein Leben selbst navigieren, und alles gleichzeitig, alles in einem Alter, in dem die Kinder früher längst aus dem Haus oder auf dem Internat waren und heute gerade mal zwei, drei oder vier Jahre alt sind, und natürlich steht der Vater nachts auf, um sie zu wickeln, selbst wenn er erst um eins und leicht betrunken von den drei Gin Tonic von der Vernissage nach Hause gekommen ist.

Und weil es manchmal leichter ist, die Welt für das verantwortlich zu machen, was geschieht, als sich selbst genau anzuschauen, folgt aus der Krise, die dieses Leben unweigerlich erleidet, der Versuch einer Erklärung, die scheitern muss. Denn das Leiden ist zu alltäglich. Das macht es nicht einfacher. Der Grund aber dafür ist dann auch im Alltag zu suchen. Das Problem ist die Normalität.

War es also eine Depression, an der Max litt, eine Depression, die aus der Überforderung entsteht, weil er dauernd mit Aufgaben und Entscheidungen konfrontiert war, die ihn in die Enge trieben, weil er alles gleichzeitig sein wollte, alles gleichzeitig tun wollte, weil er keine Grenzen mehr ziehen, keine Prioritäten setzen konnte, weil er ein Alleskönner auf dem Hochseil war und täglich sah, wie weit er abstürzen konnte?

Wenn man aber die Depression in diesem Sinn als eine Metapher für unsere Gegenwart oder für einen Kapitalismus nimmt, den man an vielen anderen Stellen besser und härter kritisieren könnte als an diesem einen Punkt des individuellen Leidens, dann gibt es ein Problem: Man schaut ungenau auf den Einzelfall und man schaut ungenau auf das Ganze. Das eine mag mit dem anderen zu tun haben, so wie jede Zeit ihre speziellen Pathologien produziert – aber das eine lässt sich nicht lösen, indem man das andere kritisiert. Weder ist es für Menschen wie Max eine Hilfe, wenn man die Schuld für seine Probleme in einem umfassenden Kapitalismus sucht. Noch ändert es etwas am Wesen dieses ausdifferenzierten Herrschaftssystems Kapitalismus, wenn man Mitleid für Max hat.

Im Gegenteil: Diese Kritik wirkt wie eine Art von gesellschaftlichem Placebo, die eher systemstabilisierend ist, weil sie von den eigentlichen Fragen ablenkt, die ökonomische sind, und sie auf die Ebene der persönlichen Probleme und der Psychologie reduziert.

Und was bedeutet dieser Gedankenschritt, der häufig gemacht wird, wenn bekannt wird, dass sich jemand tatsächlich umgebracht hat, der an Depressionen litt, Taten, die manchmal sogar in die Schlagzeilen geraten: Ein Fußballstar wie Robert Enke, der sich vor einen Zug stellte und dessen Tod zu großer Bestürzung führte, oder ein Pilot wie Andreas Lubitz, der 149 Passagiere mit in den Tod nahm und dessen Tat zu großer Wut und Verunsicherung führte – was bedeutet diese Beziehung von Depression und Selbstmord? Was bedeutet es für das Nachdenken über die Depression? Und was bedeutet es für das Nachdenken über den Selbstmord, der gar nicht so heißen sollte, denn wenn es kein Gesetz gibt, das den eigenen Tod verbietet, ist es auch kein Mord, weil das ja ein juristischer Terminus ist?

Es gibt die Depression, und es gibt Menschen, die nicht mehr können und sich das Leben nehmen, nicht weil sie frei sind, sondern weil sie unfrei sind. Es geht nicht anders, oft haben sie lange gekämpft, aber die Krankheit war stärker. Es gibt aber auch die Menschen, die nicht an dieser Krankheit leiden und sich umbringen, aus all den Gründen, die so zahlreich sind wie die Kieselsteine am Meer. Wie soll man auf deren Entscheidung reagieren? Sieht die Gesellschaft darin eine Bedrohung oder eine Offenheit, die sie erst einmal ertragen muss?

Anders gesagt: Was bedeutet es für das Leben, wenn es vom Ende her gedacht wird? Nicht als eine Chance, eine Möglichkeit, ein Feld der Freiheit – sondern nur als Gefahr, als Problem, als etwas Illegales, was dort droht, wo ein...

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