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E-Book

Die letzten Zeugen

Kinder im Zweiten Weltkrieg

AutorSwetlana Alexijewitsch
VerlagCarl Hanser Verlag München
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783446248731
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sprechen Männer und Frauen, die beim Einmarsch der Deutschen in Weißrussland noch Kinder waren, zum ersten Mal darüber, woran sie sich erinnern. Ihre erschütternden Berichte vom Krieg machen 'Die letzten Zeugen' zu einem der eindringlichsten Antikriegsbücher überhaupt. Oft sind diese Erinnerungen nur Bruchstücke, und doch haben diese Kinder Dinge gesehen und erlitten, die niemand, am allerwenigsten ein Kind, sehen und erleiden dürfte. Alexijewitsch erweist sich einmal mehr als begnadete Zuhörerin und große Chronistin, die es versteht, den Erfahrungen von Menschen in Extremsituationen, im Ausnahmezustand einen einzigartigen Resonanzraum zu verschaffen.

Swetlana Alexijewitsch, 1948 in der Ukraine geboren und in Weißrussland aufgewachsen, arbeitete als Reporterin. Über die Interviews, die sie dabei führte, fand sie zu einer eigenen literarischen Gattung, dem dokumentarischen »Roman in Stimmen«. Alexijewitschs Werke wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt, und sie wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. 1998 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung, dem Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis der Stadt Osnabrück (2001), dem National Book Critics Circle Award (2006), dem polnischen Ryszard-Kapuscinski-Preis (2011), dem mitteleuropäischen Literaturpreis Angelus (2011) und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (2013). 2015 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur.

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Leseprobe

››So schöne Spielsachen aus Deutschland …‹‹


Taïssa Naswetnikowa, 7 Jahre

Heute Lehrerin

 

 

Vor dem Krieg …

Wie habe ich mich in Erinnerung … Alles war schön: der Kindergarten, die Feste dort, unser Hof. Die Mädchen und Jungen. Ich las viel, hatte Angst vor Würmern und liebte Hunde. Wir lebten in Witebsk, Papa arbeitete in einer Bauverwaltung. Von meiner Kindheit ist mir vor allem in Erinnerung, wie Papa mir in der Dwina das Schwimmen beibrachte.

Dann begann die Schule. Von der Schule habe ich folgendes Bild behalten: eine ganz breite Treppe, eine durchsichtige Glaswand und viel Sonne, viel Freude. Das Gefühl, das Leben sei ein Fest.

Gleich in den ersten Kriegstagen ging Papa an die Front. Ich erinnere mich an den Abschied auf dem Bahnhof. Papa redete die ganze Zeit auf Mama ein, sie würden die Deutschen vertreiben, aber wir sollten uns trotzdem evakuieren lassen. Mama begriff nicht, wozu. Wenn wir zu Hause blieben, würde er uns schneller finden. Ohne zu suchen. Und ich sagte immer wieder: »Papa, lieber Papa! Komm nur bald wieder. Lieber Papa!…«

Papa war weg, ein paar Tage später fuhren auch wir. Unterwegs wurden wir häufig bombardiert, das war ein Kinderspiel, denn alle fünfhundert Meter rollte ein Zug ins Hinterland. Wir waren leicht angezogen: Mama trug ein weißgepunktetes Baumwollkleid, ich ein rotes Kattunkleid mit Blümchen. Die Erwachsenen sagten, rot sei von oben sehr gut auszumachen, und sobald ein Bombenangriff begann und alle ins Gebüsch rannten, deckten sie mich immer irgendwie zu, damit man das rote Kleid nicht sah, ich würde sonst leuchten wie eine Laterne.

Wasser zum Trinken holten wir aus Sümpfen und Gräben. Darminfektionen brachen aus. Ich wurde auch krank, drei Tage war ich ohne Bewusstsein. Mama erzählte mir später, wie ich gerettet wurde. Als wir in Brjansk hielten, wurde auf das Nebengleis ein Militärzug einrangiert. Meine Mama war sechsundzwanzig und sehr hübsch. Unser Zug stand sehr lange. Mama stieg aus, und ein Offizier aus dem Militärzug machte ihr ein Kompliment. Mama bat ihn: »Gehen Sie weg, ich kann Ihr Lächeln nicht ertragen. Meine Tochter liegt im Sterben.« Der Offizier war Feldscher. Er stürmte in den Waggon, untersuchte mich und rief einem Kameraden zu: »Bring mir schnell Tee, Zwieback und Belladonna.« Dieser Soldatenzwieback, eine Literflasche starker Tee und ein paar Tabletten Belladonna retteten mir das Leben.

Bis wir in Aktjubinsk eintrafen, war der ganze Zug krank. Uns Kinder ließ man nicht dorthin, wo die Toten lagen, die an der Krankheit gestorben oder bei Bombenangriffen umgekommen waren, wir wurden vor dem Anblick geschützt. Wir hörten nur, was die Erwachsenen redeten: Dort wurden soundso viele begraben, dort soundso viele … Mama war ganz blass, ihre Hände zitterten. Und ich wollte dauernd wissen: »Wo sind denn diese Leute geblieben?«

An Landschaften kann ich mich nicht erinnern. Das ist erstaunlich, denn ich liebte die Natur. Ich erinnere mich nur an die Büsche, unter denen wir uns versteckten. Die Schluchten. Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass es nirgends Wald gab, ringsum nur Felder, eine Art Wüste. Einmal hatte ich solche Angst, dass ich danach keinen Bombenangriff mehr fürchtete. Der Zug hielt, aber man hatte uns nicht gesagt, dass wir nur zehn, fünfzehn Minuten halten würden. Der Zug fuhr los, und ich blieb zurück. Ich weiß nicht mehr, wer mich gepackt und buchstäblich in den Zug geworfen hat, aber nicht in unseren Waggon, sondern irgendwo ganz hinten. Da bekam ich zum ersten Mal Angst, ich könnte allein bleiben, und Mama würde wegfahren. Solange Mama bei mir war, war mir nicht bange. Nun aber wurde ich stumm vor Angst. Bis Mama zu mir gelaufen kam, mich in die Arme schloss, war ich stumm, niemand konnte ein Wort aus mir herauskriegen. Mama – das war meine ganze Welt. Mein Planet. Selbst wenn mir etwas wehtat, brauchte ich nur nach Mamas Hand zu fassen, und der Schmerz hörte auf. Nachts schlief ich immer neben ihr, je dichter, desto weniger Angst hatte ich. Wenn Mama bei mir war, schien alles wie früher zu Hause. Ich schloss die Augen, und der Krieg war weg. Nur über den Tod sprach Mama nicht gern. Aber ich fragte ständig danach.

Von Aktjubinsk fuhren wir nach Magnitogorsk, dort lebte Papas Bruder. Vor dem Krieg hatte er eine große Familie, viele Männer, aber als wir ankamen, waren dort nur noch Frauen. Die Männer befanden sich alle an der Front. Ende einundvierzig erhielten wir zwei Todesnachrichten – die Söhne meines Onkels waren gefallen.

Erinnern kann ich mich aus diesem Winter noch an die Windpocken, die alle in der Schule hatten. Und an die roten Hosen. Mama hatte auf Marken ein Stück bordeauxroten Wollstoff bekommen und mir daraus eine Hose genäht. Die anderen Kinder hänselten mich deswegen, sagten, ich sähe aus wie ein Clown. Das kränkte mich sehr. Etwas später bekamen wir auf Marken Galoschen, die band ich fest und lief so rum. Ich rieb mir damit die Knöchel wund, ich musste mir immer was unter die Ferse legen, damit die Ferse höher saß und die Galoschen nicht so scheuerten. Aber der Winter war so kalt, dass ich mir dauernd Hände und Füße erfror. In der Schule war oft die Heizung kaputt, in den Klassenräumen gefror das Wasser auf dem Fußboden, und wir schlitterten zwischen den Bänken herum. Wir saßen in Mantel und Handschuhen da, nur die Finger hatten wir vorn abgeschnitten, damit wir den Stift halten konnten. Ich erinnere mich, dass wir die Kinder, deren Papa gefallen war, nicht hänseln und nicht ärgern durften. Dafür wurden wir streng bestraft. Und dass wir alle viel lasen … So viel, dass wir die gesamte Kinderbibliothek schon durchhatten, dann auch die Jugendbücher, und wir uns Erwachsenenbücher ausliehen. Die anderen Mädchen fürchteten sich, wenn vom Tod die Rede war, selbst die Jungen überblätterten solche Seiten. Aber ich las sie.

Eines Tages war viel Schnee gefallen. Alle Kinder liefen hinaus auf die Straße und bauten einen Schneemann. Das verstand ich nicht: Wie konnte man einen Schneemann bauen und sich freuen, wenn Krieg war?

Die Erwachsenen hörten die ganze Zeit Radio, sie konnten ohne Radio nicht leben. Wir genauso. Wir freuten uns über jeden Salut in Moskau, machten uns Gedanken über jede Meldung: Wie sieht es aus im Hinterland, im Untergrund, bei den Partisanen? Als Filme über die Schlacht bei Stalingrad und bei Moskau rauskamen, sahen wir uns die fünfzehn-, zwanzigmal an. Wenn sie dreimal hintereinander liefen, schauten wir sie uns eben dreimal hintereinander an. Die Filme wurden in der Schule gezeigt, einen speziellen Kinosaal gab es nicht, sie liefen im Flur, wir saßen auf dem Fußboden. Zwei, drei Stunden lang. Ich prägte mir ein, wie Menschen starben. Mama schimpfte deshalb mit mir. Suchte Rat bei Ärzten, warum ich so sei. Warum ich mich für so unkindliche Dinge interessierte wie den Tod. Wie sie mir beibringen könne, an kindgemäße Dinge zu denken …

Ich las wieder Märchen … Märchen für Kinder … Und was fiel mir wieder auf? Mir fiel auf, wie oft darin getötet wurde. Wie viel Blut da floss. Das war eine Entdeckung für mich …

Ende vierundvierzig sah ich die ersten deutschen Kriegsgefangenen. Sie liefen in breiter Formation durch die Straße. Was mich erschütterte, war, dass die Leute zu ihnen gingen und ihnen Brot gaben. Das empörte mich so, dass ich zu Mamas Arbeit lief und sie fragte: »Warum geben unsere Leute den Deutschen Brot?« Mama sagte nichts, sie weinte nur. Damals sah ich auch den ersten Toten in deutscher Uniform – er lief und lief und fiel hin. Die Kolonne blieb eine Weile stehen und lief dann weiter, neben dem Toten stand ein Soldat von Unseren. Ich rannte hin. Es drängte mich, den Tod von nahem zu sehen. Wenn im Radio von Verlusten des Gegners die Rede war, freuten wir uns immer … Aber hier … Ich sah … Der Mann schien zu schlafen. Er lag nicht einmal, er saß, halb zusammengekrümmt, den Kopf auf der Schulter. Ich wusste nicht: Soll ich ihn hassen oder bedauern? Er war ein Feind. Unser Feind! Ich weiß nicht mehr, ob er jung war oder alt. Er war sehr erschöpft. Deshalb fiel es mir schwer, ihn zu hassen. Auch das erzählte ich Mama. Und sie weinte wieder.

Am neunten Mai erwachten wir von lautem Geschrei im Hausflur. Es war noch ganz früh. Mama ging sich erkundigen, was passiert war, und kam ganz verwirrt zurück: »Sieg! Ist das wirklich wahr?« Das war so ungewohnt: Der Krieg war aus, dieser lange Krieg. Der eine weinte, ein anderer lachte, der Nächste schrie … Es weinten diejenigen, die Angehörige verloren hatten, und sie freuten sich auch, denn trotz allem war es der Sieg! Der eine besaß eine Handvoll Buchweizen, der andere Kartoffeln, der Nächste eine rote Rübe – das brachten sie alle in eine Wohnung. Ich werde diesen Tag nie vergessen. Diesen Morgen. Schon am Abend war es nicht mehr so.

Im Krieg hatten alle irgendwie leise gesprochen, mir schien sogar, geflüstert, nun aber redeten alle laut. Wir waren die ganze Zeit bei den Erwachsenen, sie gaben uns zu essen, streichelten uns und schickten uns fort: »Geht raus auf die Straße. Heute ist ein Feiertag.« Und riefen uns wieder zurück. Nie waren wir so viel umarmt und geküsst worden wie an diesem Tag.

Aber ich bin ein glücklicher Mensch – mein Papa kam aus dem Krieg zurück. Er brachte schönes Kinderspielzeug mit. Deutsches Spielzeug. Ich konnte nicht verstehen, wie so schöne Spielsachen aus Deutschland sein konnten …

Ich versuchte auch mit Papa über den Tod zu sprechen. Über die Bombenangriffe, als Mama und ich auf dem Weg in die Evakuierung waren … Wie zu beiden Seiten unsere toten Soldaten lagen. Die Gesichter mit Zweigen bedeckt. Darüber summten Fliegen … Scharenweise Fliegen … Über den toten Deutschen … Ich erzählte...

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