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E-Book

Die Liegenden

AutorMichele Serra
VerlagDiogenes
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783257604467
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR
Eine neue Spezies wächst heran: die Liegenden. Verwundert beobachtet ein Vater seinen 18-jährigen Sohn. Er lebt auf dem Sofa, online verbunden mit aller Welt - außer mit seinem Erzeuger. Sein Vater schaut über den Abgrund zwischen den Generationen und fragt sich: Wer bin ich? Und wer ist der Alien dort drüben?

Michele Serra, geboren 1954 in Rom, ist landesweit berühmt für seine Kolumnen in ?La Repubblica? und ?L'Espresso?. Sein Buch ?Die Liegenden? über eine Vater-Sohn-Beziehung war international ein Riesenerfolg. Michele Serra lebt in Mailand und im Apennin in der Nähe von Bologna.

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Leseprobe

[28] 5

Deine Freundin Pia ist hier bei mir. Sie sieht eigentlich ganz hübsch aus mit ihrem Fußballer-Tattoo auf der rechten Schulter und ihrer Seeanemonen-Frisur.

Gestern habe ich sie vom Bahnhof in Livorno abgeholt, wie du mich gebeten hast. Um das zu tun, habe ich ein Abendessen verschoben, das seit zwei Wochen geplant war. Pia wusste, dass du deinen Zug verpasst hattest und nur vielleicht noch am selben Abend heimkommen würdest, doch deine Abwesenheit schien sie nicht sonderlich zu bekümmern und auch nicht die Aussicht, vierundzwanzig Stunden in meiner Gesellschaft verbringen zu müssen, also in Gesellschaft des unbekannten Vaters eines kaum bekannten Jungen. Sie scheint sich wohlzufühlen und hat es sich mit meinen Sachen bequem gemacht. Im Augenblick schaut sie auf meinem Fernseher eine ihrer Sendungen. Doch das alles sind willkürliche Ableitungen aus ungesicherten Daten. Pia formuliert nur wenige einsilbige [29] Worte, die darüber hinaus nicht an ihren einzig möglichen Gesprächspartner gerichtet sind, also mich, sondern an einen Unsichtbaren ein paar Meter zu meiner Linken, knapp über meinem Kopf. Dorthin richtet Pia starr ihren Blick, wenn sie – falls man das so nennen kann – spricht.

Ich habe mir erlaubt, sie mittags zu wecken, indem ich an die Tür deines Zimmers klopfte, wo ich sie fürs Erste untergebracht habe, bis du kommst und ihr eure Absichten erklären könnt (die, soviel ich weiß beziehungsweise nicht weiß, von keuscher Kameradschaft bis bevorstehender Hochzeit alles einschließen können). Sie hat einen asphaltgrauen Rucksack bei sich, den keine Wäscherei ohne Vorreinigung mit dem Flammenwerfer annehmen würde. Ich hatte bereits beinahe die Hälfte meines Tages hinter mir: ein paar Schwimmstöße im Meer in der frischen Morgensonne um acht, einen kleinen Einkauf, die Zeitungslektüre, ein paar Mails, einige dringliche Telefonate.

Es gab für mich zwei Gründe, Pia zu wecken. Einer davon ist allgemeiner Natur, der andere spezifisch.

Der allgemeine Grund besteht darin, dass ich in der Mittagsstunde und ihrer herkömmlichen Funktion als Trennlinie zwischen Morgen und Nachmittag eine Art richtigen Zeitpunkt für einen [30] Kompromiss sehe zwischen den Gewohnheiten eines neurotischen Fünfzigjährigen, der es hasst, dem Schlaf zu viel lebenswerte Zeit zuzugestehen, und der darum schon um sieben auf den Beinen ist, und denen einer Siebzehnjährigen, die in der Lage ist, auch bis nach zwei Uhr nachmittags zu schlafen oder wenigstens im Bett zu liegen. Natürlich könnte Pia auch eine Ausnahme sein, beispielsweise erst um sieben Uhr abends vom Klirren der Gläser aufwachen, die unten auf der Strandpromenade für die Happy Hour bereitgestellt werden. Oder, wie es Legionen euresgleichen tun, tagelang überhaupt nicht aufstehen, sich der Herausforderung des Extremschlafes (der Hand in Hand mit dem Nächtedurchmachen geht), stellen, bis zum Gehtnichtmehr, bis hin zur Katalepsie. Doch nachdem ich ihr gestern Abend keinerlei Information über ihren Stoffwechsel habe entlocken können, ebenso wenig wie über jeden anderen Aspekt ihres persönlichen und sozialen Lebens, fühlte ich mich berechtigt, selbst zu entscheiden. In der Annahme, dass jedes menschliche Wesen an irgendeinem Punkt des Tages ausgeschlafen hat, die Augen öffnet und das Bett verlässt.

Doch es war der zweite, unvorhergesehene Grund, der mich dazu brachte, nicht mehr länger zu [31] warten und Pia tatsächlich am Mittag zu wecken. Das Wetter schlägt um. Schwarze Wolken hängen über dem Meer, zerzaust und ständig neu zusammengefügt von heftigen Windstößen. Gleißendes Sonnenlicht und bedrohliche Finsternis wechseln sich ab. Die Luft ist aufgeladen mit purer Energie, mit dem verheißungsvollen Geruch eines nahenden Gewitters: Die Hundstage sind endlich bereit abzudanken, und mein Balkon ist die Königsloge, von der aus ich dem spektakulären Zusammenprall von Heiter und Stürmisch beiwohnen kann.

Ich hatte also die Idee, vielleicht das Bedürfnis, das Naturspektakel zusammen mit Pia zu erleben. Es schien mir auch deshalb eine gute Wahl, weil es sich nicht unbedingt um eine verbale Kommunikation handelt, wenn man sich für einen Augenblick unter demselben Himmel fühlt, im Angesicht von etwas, das unsere mehr als offensichtlichen Unterschiede für einen Moment außer Kraft setzt. Darüber hinaus glaube ich, dass kein Mensch dieser Welt, egal aus welcher wüsten Gegend, egal aus welcher Zeit er stammt – vom Londoner, der sein Taxi besteigt, bis hin zum Buschmann mit seiner Lanze, vom Neandertaler zum Nuklearphysiker –, angesichts eines solchen Cinerama-Bildes gleichgültig bleiben kann. Ich hoffte, dass bei der Betrachtung des Naturschauspiels sowohl Pia als auch [32] ich uns von der Last befreit fühlen würden, ein Gesprächsthema zu suchen.

Genau das habe ich als Last empfunden, gestern in der Pizzeria, in die ich mit Pia gegangen war, nachdem ich sie abgeholt hatte. Pia dagegen schien das nicht zu kümmern, sie verschlang ihre Meeresfrüchte-Pizza und schaute dabei die Live-Übertragung eines dieser unglaublich tristen sommerlichen Lokalwettbewerbe, bei denen irgendein Landesrat ein Grußwort spricht und abgehalfterte Schauspielerinnen den Preisträgern zur Seite stehen, bei denen ein fröhliches Versinken in der Mittelmäßigkeit sowohl den Teilnehmern als auch den Zuschauern Erleichterung zu verschaffen scheint.

Wegen meiner vermeintlichen Pflichten als Gastgeber, als Erwachsener, als dein wenn auch unfreiwilliger Stellvertreter fühlte ich mich verpflichtet, Interesse für Pias Leben zu zeigen, da ausgeschlossen war, dass sie an meinem Leben Interesse haben und von sich aus Fragen stellen könnte. Ich befragte sie über die Schule, ihre Familie, die Ferien, ihre Kenntnis der toskanischen Küste, in der Hoffnung, dass sie sich zumindest ihres Aufenthaltsortes bewusst war, und bekam als Antwort kleine Fetzen eines Lebens hingeworfen, dessen Verlauf und Chronologie auch dem geheimnisvollen [33] Ansprechpartner zwei Meter zu meiner Linken, knapp über meinem Kopf, verborgen blieb, an den sie sich wandte, wenn sie mal kurz den Blick vom Bildschirm löste.

Da mir also während des Abendessens nicht viel zu tun blieb, nutzte ich die Gelegenheit, darüber nachzudenken, warum ein Fünfzigjähriger sich verpflichtet fühlt, eine fast vollkommen fremde Jugendliche zu unterhalten, eine Jugendliche, die kennenzulernen er sich darüber hinaus nicht ausgesucht hat; wogegen Pia von keinem entsprechenden Bedürfnis oder Anliegen beseelt schien. Ich habe eine ziemlich ausufernde Liste von Gründen erstellt, die mich dazu bringen, bei Tisch eine, wenn auch oberflächliche, Unterhaltung zu pflegen: gute Manieren, ein freundlicher Charakter, Gefälligkeit dir gegenüber (du, nicht ich, solltest hier sitzen und Pizza essen, während Pia im Fernsehen den Preis von Grottamare oder Manfredonia oder Jesolo oder was auch immer guckt), Neugierde auf das Leben anderer, der Wunsch, den vermeintlichen Erwartungen eines Mädchens zu entsprechen, die sich vielleicht wünscht, dass eine ältere, wichtigere, wohlhabendere, gebildetere, mächtigere und erfahrenere Person – ein Erwachsener eben – Interesse an ihren Belangen zeigt.

Doch mir wird bewusst, dass all diese Gründe [34] auf mich zurückzuführen sind, auf meine Mentalität, meine Vorstellungen von Anstand. So weit ist es in den letzten Jahren mit meiner zunehmenden Überzeugung gekommen, dass meine Art zu handeln nicht auf einem objektiven Wertesystem beruht, sondern typisch ist für eine taumelnde und vielleicht dem Untergang geweihte Epoche, dass ich am Ende fürchtete, es sei unhöflich, mit Pia über Pia zu sprechen. Taktlos. Vielleicht zog sie es vor, den Preis von Ponza zu schauen, anstatt mir so kompromittierende Häppchen ihres Privatlebens zuzuwerfen wie »Ich war auf dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Gymnasium«, was den längsten und komplexesten Satz darstellt, den ich bis dato aus Pias Mund vernommen habe.

Also schwieg ich schließlich, aß und schaute ebenfalls den Preis von Laigueglia. Natürlich habe ich am Ende die Rechnung bezahlt, und damit war Pia so selbstverständlich einverstanden, dass sie nicht einmal danke gesagt hat.

Ich weckte Pia also am Mittag, stellte ihr einen Kaffee auf den Nachttisch (den sie nicht trank) und wartete auf dem Balkon, bis sie ihr Aufwachritual vollzogen hätte, in dem Glauben, dass sie mir gleich darauf Gesellschaft leisten würde. Meer und Himmel hatten in der Zwischenzeit den Rhythmus und [35] die Kraft ihrer Ouvertüre noch gesteigert, in der Erwartung, dass der Regenguss sein Werk beginne. Das Tyrrhenische Meer war bereit, alles zu geben. Kein Boot war mehr draußen, alle waren in den Hafen eingelaufen, das Meer ein Wirrwarr aus Schaum, der aufgeladene Geruch der Luft mischte sich mit dem der salzigen Gischt, die von den brechenden Wellen aufstieg.

Pia ließ sich nicht blicken, und ich wusste nicht, ob es aufdringlich war, sie zu rufen. Die ersten großen Tropfen klatschten auf die Fliesen der Terrasse, ich stand unter dem Vordach, wartete auf das Gewitter und auf Pia. Schließlich ging ich rein, um sie zu rufen, doch als ich ins Wohnzimmer trat, fand ich sie dort: Sie hatte sich aufs Sofa gelegt und den Fernseher eingeschaltet.

»Das Meer ist heute spektakulär, falls du es dir anschauen möchtest…«

»Was?«

»Das Meer. Wir sind hier am Meer. Von der Terrasse sieht man bis nach Capraia. Es zieht gerade ein Gewitter auf.«

»Ah.«

»Willst du lieber hierbleiben?«

»Es läuft die neue Serie Soundso.« (Irgendeine amerikanische...

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