Auch wenn in der heutigen Zeit andere Formen des Zusammenlebens als das in der traditionellen Mutter-Vater-Kind-Familie immer mehr Raum beanspruchen und moderne Definitionen von Familie wie „Familie ist, wo Kinder sind“[1] dieser Entwicklung Rechnung tragen, ist das Modell der klassischen Kleinfamilie doch immer noch das bei vielen Menschen vorherrschende Ideal. Diese entscheidende, bis heute nachwirkende Prägung erfuhr die Familie im 18. Jahrhundert mit dem Übergang von der Sozialform des „Ganzen Hauses“ zur Lebensform der bürgerlichen Kleinfamilie. Von einem eher zweckrational organisierten Verband wurde die Familie zum „Hort bürgerlicher Moral“[2], zum „höchsten und letzten Wert des bürgerlichen Lebens“[3] erhoben.
Parallel zu dieser Entwicklung wuchs im 18. Jahrhundert die Beliebtheit der literarischen Reflexion familiärer Beziehungen derart, dass die Familie in Komposita wie „Familiendrama“ oder „Familienroman“ sogar in die metaliterarische Begrifflichkeit Einzug hielt. Diese Popularität resultierte primär daraus, dass das Geschehen im Binnenraum der Familie, anders als die zuvor dominierenden literarischen Verarbeitungen der Machtkämpfe vornehmer Herrscherfamilien, quasi allen Rezipienten Identifikationsmöglichkeiten bot.[4] Die intakte Kleinfamilie wurde für weite Teile der Literatur und ihrer Leserschaft zu einem höchsten Gut und „übt[e] einen ungeheuren Sog auf die literarische Phantasiebildung aus.“[5] Die literarische Handlung wurde durch Gefährdungen der Familie in Gang gesetzt, und immer wieder wurde vorgeführt, dass „was oder wer dem Wert der intakten Familie entgegensteht [...], böse [und] minderwertig [ist] und [...] die Strafe der psychischen oder physischen Zerstörung [verdient].“[6] Auch wenn sich schon um 1800 literarische Inszenierungen familiärer Katastrophen finden,[7] kommt es doch erst in der literarischen Moderne zu einer fundamentalen Skepsis gegenüber der Familie. Hier erscheinen männliche und vor allem weibliche Subjekte vermehrt den Zwängen der Institutionen Ehe und Familie unterworfen und damit stärker als Opfer, denn als Verursacher familiärer Desaster.[8]
Literarische Werke können sich zu gesellschaftlichen Realitäten und Leitbildern wie denen der bürgerlichen Familie kritisch oder affirmativ als „verschönernde[r] Spiegel des Lebens“[9] verhalten. Dadurch wirkt Literatur selbst an der Konstruktion und Modellierung familiärer Beziehungsmuster mit.[10] Die kritischen Werke setzen die proklamierten Werte ihrer Zeit nicht einfach in Fiktion um, sondern dienen als Orte ihrer Problematisierung:[11] Sie stellen „im Modus ihrer anschaulichen Darstellung außerästhetische Deutungsmuster und Wertorientierungen auf den Prüfstand fiktional inszenierter Lebenswelten“[12] und machen so den neuen Leitideen inhärente Probleme und Konfliktpotentiale sichtbar. Saße bezeichnet ein solches Verhältnis von Literatur und Wirklichkeit als mimetische Reflexion: Ungereimtheiten des normativen Systems würden deutlich, indem
der literarische Text Elemente verschiedener Sinnsysteme zur Personencharakterisierung, Handlungsformierung und Dialogführung neu organisiert und durch diese Kombinatorik am bislang Vertrauten unvertraute Erfahrungen ermöglicht.[13]
Bei der vorliegenden Arbeit mit dem Titel Literarische Familien im 18. und
19. Jahrhundert handelt es sich um eine thematisch orientierte literaturwissenschaftliche Studie zur Darstellung der Familie in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. Die zentrale Fragestellung der vorliegenden Arbeit ist, wie im 18. beziehungsweise im
19. Jahrhundert Familien in der Literatur dargestellt werden und ob hierbei Gemeinsamkeiten beziehungsweise Unterschiede zwischen den beiden Jahrhunderten feststellbar sind.
Es existieren bereits zahlreiche Studien, die sich mit Familie in der Literatur beschäftigen.[14] Der Großteil dieser Arbeiten bleibt jedoch beschränkt auf die Untersuchung der Familie bei einem einzelnen Autor oder in einer bestimmten Epoche. Dementsprechend konstatiert Wolpers, der literarische Motivbereich der Familie sei „bisher nicht gattungs- und epochenübergreifend untersucht worden.“[15] Zum Beispiel fragt Hampl nach den Familien- und Sozialstrukturen im Erzählwerk von Wilhelm Raabe[16], Anker-Mader und Rieger beschäftigen sich mit Kleists Familienmodellen[17], und Hetzner analysiert Ehe und Familie bei Wilhelm Busch.[18] Neuere Studien zur Familie im Werk Lessings liefern unter anderem Lorey[19] und Vonhausen.[20] Streit untersucht den sozialen Roman des
19. Jahrhunderts unter dem thematischen Aspekt der Familie[21], Spörk die (österreichische) Literatur des Realismus und des Spätrealismus[22], Saße die Familie im Drama der Aufklärung.[23] Auch Harnisch überschreitet mit ihrer vergleichenden Studie über Geschlecht, Sexualität und Familie bei Keller, Raabe und Fontane keine Epochengrenzen.[24]
Literaturwissenschaftliche Analysen über mehrere Epochen, nicht jedoch über Gattungsgrenzen hinweg liefern Horstenkamp-Strake und Hassel.[25] Horstenkamp-Strake analysiert in ihrer Dissertation sowohl synchron als auch diachron Familiendramen von der Aufklärung bis zum Expressionismus, und zwar unter jeweils unterschiedlichen Aspekten: So beschäftigt sie sich mit dem Vater-Tochter-Konflikt im bürgerlichen Trauerspiel, dem Motiv der feindlichen Brüder in einigen Dramen des Sturm und Drang, der Familie als schicksalhafter Instanz im Naturalismus und der Abrechnung mit Autorität und Familie im Expressionismus. Als Ergebnis ihrer Studie sieht Horstenkamp-Strake im 20. Jahrhundert das Ende des Familiendramas gekommen, das ihrer Ansicht nach durch das Ehedrama abgelöst wird.
Hassel vergleicht in ihrer Dissertation die dramatische Verarbeitung der Familienthematik im bürgerlichen Trauerspiel, im Wiener Volkstheater und im kritischen Volksstück.[26] Sie analysiert über die Jahrhunderte hinweg, welches Bild jeweils von der Beziehung zwischen der Familie und den außerfamilialen Bereichen vermittelt und wie das innerfamiliale Beziehungsgefüge dramatisch gestaltet wird. Trotz vieler Wandlungen und Unterschiede bestehen ihrer Ansicht nach erhebliche Kontinuitäten in Bezug auf Motive und Darstellungsmittel. So werde in allen Epochen das Problematische im Verhältnis von Familie und Gesellschaft thematisiert und der Autonomieanspruch der Familie als Illusion entlarvt. Auch stehe zwar in allen Dramen das Konfliktpotential der familialen Beziehungen im Zentrum, die Familie als Form des Zusammenlebens werde aber nie grundsätzlich in Frage gestellt.
Das Neue an der vorliegenden Arbeit besteht darin, dass es sich um eine Studie über die Familie in der Literatur handelt, die sowohl Epochen- als auch Gattungsgrenzen überschreitet. Scheuer zufolge bietet sich gerade die Familie für eine solche vergleichende historische Textanalyse an, da die Familie als älteste soziale Institution „die Dichter seit der Antike mit literarischem Stoff versorgt [hat].“[27] Eingang in die Analyse finden Werke des 18. und 19. Jahrhunderts. Die Beschränkung auf diese beiden Jahrhunderte erscheint gerechtfertigt, da der Familie weder vorher noch nachher ein ähnlich großer Stellenwert zukam. Analysiert werden exemplarisch für die Literatur des 18. Jahrhunderts Die zärtlichen Schwestern von Christian Fürchtegott Gellert und Emilia Galotti von Gotthold Ephraim Lessing, für die Literatur des 19. Jahrhunderts Effi Briest von Theodor Fontane und Die Buddenbrooks von Thomas Mann. Mit Gellerts und Lessings Dramen wurden zwei Werke aus den Anfängen des bürgerlichen Zeitalters ausgewählt, in dem das Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie erst entstand. Die Romane von Fontane und Mann stehen am Ende des 19. Jahrhunderts und damit am Ausgang des Jahrhunderts, das man bedingt durch den stetigen Aufstieg des Bürgertums als das eigentliche „bürgerliche Zeitalter“ bezeichnen kann.[28]
Die Berücksichtigung von Texten unterschiedlicher Gattungen erscheint logisch, da im
18. Jahrhundert das Drama, im 19. Jahrhundert hingegen der Roman eine bevorzugte Stellung einnahm.[29] Die Rehabilitierung des Romans war zwar eine Leistung der Aufklärung, aber erst beginnend mit der Klassik erlangte der deutsche Roman weltliterarische Geltung und etablierte sich als dem Drama gleichberechtigte Gattung.[30] Während noch im 18. Jahrhundert das Trauerspiel als die bürgerliche Form galt, kam es im 19. Jahrhundert zu einem Bedeutungsverlust des Dramas zugunsten des Romans. Im Bürgerlichen Realismus fehlen dramatische Werke, was sich dadurch erklären lässt, dass im Drama
eine breit angelegte Erfassung der bürgerlichen Welt, der neuen bürgerlichen Wertmaßstäbe und des bürgerlichen Bewusstseins, wie sie die Programmatik des Bürgerlichen Realismus vorsah [...], kaum so adäquat zu leisten [war]...