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Die Macht am Mittelmeer

Französische Träume von einem anderen Europa

AutorWolf Lepenies
VerlagCarl Hanser Verlag München
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783446252127
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Der Plan schien perfekt: Präsident Sarkozy wollte seine südlichen Nachbarn für eine Mittelmeerunion gewinnen, um ein Gegengewicht zur deutschen Dominanz in Europa zu etablieren. Angela Merkel wusste das zu verhindern. Für Wolf Lepenies ist dies keine zeitgeschichtliche Fußnote. Der französische Traum von der Macht am Mittelmeer führt in die unbewussten Regionen der europäischen Geschichte. Die Rivalität zwischen Deutschland und Frankreich greift Ideen und Stereotypen auf, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen und heute wieder politischen Diskussionsstoff liefern. Man muss sie kennen, wenn man verstehen will, wie sich in Europa Koalitionen und Frontlinien bilden.

Wolf Lepenies, geboren 1941, Soziologe und Historiker, von 1986 bis 2001 Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin, war mehrere Jahre Mitglied des Institute for Advanced Study in Princeton (USA) und 1991/92 Inhaber der Chaire Européenne am Collège de France (Paris). Lepenies ist Ehrendoktor der Sorbonne und der Universität Bukarest und Offizier der Französischen Ehrenlegion. Er erhielt u.a. den Alexander-von-Humboldt-Preis, den Karl-Vossler-Preis, den Breitbach-Preis und den Theodor-Heuss-Preis. 2006 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. 2016 den Kythera-Preis. Zuletzt erschienen im Carl Hanser Verlag: Sainte-Beuve. Auf der Schwelle zur Moderne (1997), Kultur und Politik. Deutsche Geschichten (2006), Auguste Comte. Die Macht der Zeichen (2010) und Die Macht am Mittelmeer. Französische Träume von einem anderen Europa (2016).  

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Leseprobe

Vorwort


Mit der Ausweitung der Europäischen Union nach Mittel- und Osteuropa wuchs der Einfluss des wiedervereinigten Deutschlands. Neben der wirtschaftlichen übernahm Berlin auch die politische Führungsrolle auf dem Kontinent, die bis dahin Paris für sich beansprucht hatte. Auf Initiative von Präsident Nicolas Sarkozy versuchte Frankreich, den Machtzuwachs Deutschlands durch die Gründung einer Mittelmeerunion unter französischer Führung zu kompensieren. Dieser Versuch scheiterte am Veto der deutschen Kanzlerin. Die schließlich im Juli 2008 in Paris gegründete »Union pour la Méditerranée« unterschied sich nicht nur dem Namen nach von der ursprünglich geplanten »Union Méditerranéenne«. In der »Union für das Mittelmeer« spielte Frankreich keine führende Rolle mehr, diese »Union« wurde zu einem Teil des Brüsseler Apparats und unterlag damit deutschem Einfluss.

Das deutsch-französische Tandem, über Jahrzehnte Motor des europäischen Einigungsprozesses, hatte zu dieser Zeit bereits weitgehend an Antriebskraft verloren. In der Finanz- und Schuldenkrise waren Deutschland und Frankreich nicht fähig, gemeinsam einen wirtschaftspolitischen Kompromiss auszuarbeiten, der innerhalb der Europäischen Union Wachstumsimpulse mit der notwendigen Haushaltsdisziplin verbunden hätte. Dies wäre umso wichtiger gewesen, als Deutschland und Frankreich die ersten Mitglieder der EU waren, die 2004 gegen die so genannten Maastricht-Kriterien verstießen, nach denen Staaten sich in ihren jährlichen Haushalten um maximal drei Prozent und insgesamt nicht höher als zu 60 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts verschulden dürfen. Das politische Gewicht Deutschlands und Frankreichs wog zu schwer, als dass die Europäische Kommission es hätte wagen können, das vorgesehene, möglicherweise mit hohen finanziellen Strafen verbundene Defizitverfahren einzuleiten.

In den folgenden Jahren wurde Deutschland zum Anwalt einer an strikter Haushaltsdisziplin orientierten Wirtschaftspolitik, die von kritischen Stimmen innerhalb und außerhalb Deutschlands mit dem Etikett »Austerität« versehen wurde. Frankreich, das einer stärker wachstumsorientierten, defizit-toleranten Politik den Vorzug geben wollte, konnte sich damit in den EU‑Institutionen gegen Deutschland nicht durchsetzen. Schon früh stilisierten Politiker und Publizisten die innerhalb der EU sichtbaren Divergenzen zu einer Art »Himmelsrichtungsstreit«: Deutschland repräsentierte dabei den »Norden«, Frankreich galt als Anführer des »Südens«. Mehrfach wurde die französische Regierung aufgefordert, im Zusammenschluss mit Ländern wie Italien und Spanien Deutschland in eine Minoritätenrolle zu drängen, um die Wirtschaftspolitik der Europäischen Union grundlegend zu ändern. Auf dem Höhepunkt der griechischen Schuldenkrise machte sich François Hollande für die Errichtung einer Wirtschaftsregierung innerhalb der Eurozone stark, in der Frankreich hoffte, in Zukunft zusammen mit Italien und Spanien eine Neuorientierung der EU‑Wirtschafts- und Finanzpolitik durchsetzen zu können. Geistespolitisch musste es dabei als paradox erscheinen, dass das »lateinische« Frankreich als Anwalt Griechenlands gegenüber Deutschland auftrat, dessen Klassiker einst das Land der Griechen »mit der Seele« gesucht und die »Tyrannei Griechenlands« nur zu gerne ertragen hatten.1 Die Erinnerung an einen 1945 von dem Philosophen und Beamten im Pariser Wirtschaftsministerium Alexandre Kojève gemachten Vorschlag wurde lebendig, Frankreich solle sich an die Spitze eines neu zu gründenden »Empire Latin« setzen, um damit seine Führungsrolle gegenüber einem trotz der Niederlage im Zweiten Weltkrieg unweigerlich wieder erstarkenden Deutschland zu behaupten.

Das Scheitern der ursprünglich geplanten Mittelmeerunion mit seinen Folgen habe ich mehrfach publizistisch kommentiert. Daraus ist die Idee zu diesem Buch entstanden. Ich zeichne Versuche nach, im Süden Europas als Gegengewicht zu Deutschland politische Koalitionen zu bilden, die in der Regel unter Führung Frankreichs stehen sollten. Angestrebt wurde eine Union der »lateinischen« Nationen, zu denen neben Frankreich vor allem Italien und Spanien zählten. Am Anfang des Buches steht die Diskussion von Kojèves Aide-Mémoire aus dem Jahre 1945, dem der Verfasser die Überschrift »Esquisse d’une doctrine de la politique française« gab. Eine ausführliche Darstellung der »Esquisse« ist umso angebrachter, als der bis dahin unpubliziert gebliebene, im Nachlass von Kojève aufgefundene Text mit der neuen Überschrift »L’Empire Latin« im Augenblick der deutschen Wiedervereinigung zum ersten Mal in Paris veröffentlicht wurde – als Zeichen des Protests gegen die Dominanz Deutschlands in einer sich nach Mittel- und Osteuropa ausdehnenden Europäischen Union.

In diesem Buch spielt der Terminus »Latinität« eine zentrale Rolle. Die Autoren der Einführung in die Romanische Sprachwissenschaft haben seine Bedeutung und seine Wirkung beschrieben.2 Die »Latinität« ist zunächst ein »sprachliches Faktum«, sie bezieht sich auf die Sprachen und Dialekte der Menschen, die sich aus der Sprache des alten Roms herleiten. Es gibt, so das Motto der Revue de Linguistique Romane, keine lateinischen »Rassen«, aber es gibt die »Latinität«. Ob es eine Räume und Epochen übergreifende »romanische« oder »lateinische« Mentalität gibt, ist eine offene Frage, entscheidend ist, »dass die Romanen selbst, natürlich mit wechselnder Intensität, ihre Welt als Einheit erleben«. Und schließlich wird die »Latinität« ideologisch überhöht, sie gilt »als Trägerin der Kultur gegenüber der lateinlosen Barbarei der übrigen Welt«. Die Autoren der Einführung verweisen in diesem Zusammenhang auf den von Freud so genannten »Realwert der Phantasie«, Soziologen denken dabei an das sogenannte »Thomas Theorem«: »If men define situations as real, they are real in their consequences.«

Mit dem Begriff »Latinität« verband sich die Überzeugung, aufgrund einer gemeinsamen Geschichte, miteinander geteilter politischer Interessen und verwandter Mentalitäten ließe sich eine Koalition von Ländern des südlichen Europas bilden, für die das politische Erbe des Römischen Reichs und der Katholizismus prägend gewesen waren: Frankreich, Italien, Spanien. Emotional verstärkt wurden die Versuche zur Bildung »lateinischer« Koalitionen, die wechselnd als Reich, Union oder Pakt bezeichnet wurden, durch die Beschwörung eines gemeinsamen »Heimatgefühls«, die Anhänglichkeit an ein und dieselbe Herkunftsregion, das »Mare nostrum«, das Mittelmeer. Kein Projekt eines »Lateinischen Reichs« oder einer »Lateinischen Union« kommt ohne eine Apotheose des Mittelmeers aus, wobei seit dem Erscheinen seines Mittelmeerbuchs im Jahre 1949 die entsprechenden Texte sich in der Regel des Vokabulars von Fernand Braudel bedienen.

Zugleich durchzieht diese Texte die für innereuropäische Konflikte häufige Nord-Süd-Spannung, die bereits Autoren der Antike faszinierte und die Montesquieu in seinem Buch De l’Esprit des lois so eindrücklich beschrieben hatte, dass Pierre Bourdieu von einem Montesquieu-Effekt sprechen konnte, der bis heute wirksam geblieben ist. Im Streit um die Schuldenpolitik der EU wurde die Nord-Süd-Spannung in der Konfrontation von Deutschland und Griechenland deutlich sichtbar. Sie spiegelte die Konstellation in der bekannten Fabel La Fontaines wider, in der die sich im Genuss des Augenblicks verlierende Grille beim Herannahen des Nordwinds (»la bise«) die sparsame, sorgfältig für die Zukunft vorsorgende Ameise um Kredit bittet, um den Winter zu überstehen – »Hör, sagt sie, auf Grillenehre / vor der Ernte noch bezahl’ / Zins ich dir und Kapital« – was die Ameise spöttisch und entschieden ablehnt. Und so, wie Jean-Henri Fabre in seinen Souvenirs entomologiques die »seltsamen Fehler« La Fontaines in der Charakteristik von Grille und Ameise benannt hat, lässt sich durch einen Blick in die Statistik zeigen, wie fern die Stereotype vom »fleißigen« Norden und »faulen« Süden von der Realität entfernt liegen.3 Die Griechen arbeiten länger als die Deutschen, die Spanier machen weniger Ferien, sowohl in Frankreich als auch in Italien und Spanien – den »lateinischen« Kernländern – liegt die Arbeitsproduktivität höher als in Deutschland. Auto- und Heterostereotype überschneiden sich dabei: Das »leichte Leben«, die »vie facile« wird nicht nur dem »Süden« vom »Norden« vorgeworfen, der Süden selbst bekennt sich dazu, ebenso wie zu Farniente und Siesta, und nimmt damit in Anspruch, Formen des Lebensgenusses und der Daseinsbewältigung bewahrt zu haben, die dem Norden längst verloren gegangen sind. Vor dem Versuch, Nationen anhand der Nord-Süd-Trennung voneinander unterscheiden zu wollen, schützt dabei auch die Tatsache, dass in der Regel der Nord-Süd-Gegensatz in jedem Land wirksam ist. Die hier geschilderte Episode des »XV. Korps«, die beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum Streit zwischen dem »Norden« und dem »Süden« Frankreichs führte und damit die »Union Sacrée« der Nation bedrohte, ist dafür ein eindrucksvolles Beispiel.

Angeblich hatte Alexandre Kojève sein Aide-Mémoire für General de Gaulle verfasst – doch de Gaulle verfolgte nicht die Absicht, ein »Lateinisches Reich« zu errichten, weil er Europa mit und nicht gegen Deutschland aufbauen wollte. Den Versuch, eine lateinische Koalition zu bilden, unternahm François Mitterrand – doch tat er dies nicht in seiner Amtszeit als französischer Staatspräsident, sondern davor, als Parteichef der französischen Sozialisten, der mit seinem »Sozialismus des Südens« den Einfluss der...

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